Bühne des Kapitels / Moduls
Begriffe, theoretische Bezüge und praktische Implikationen
1. Grundlagen der Extremismusprävention
Inhalt des Kapitels / Moduls
Das Modell der Kontextstruktur Extremismus illustriert, dass die Radikalisierung von Individuen sowie Gruppen ganz allgemein als ein systemischer zirkulärer Prozess zu verstehen ist, wobei insbesondere drei systemtheoretische Dynamiken zu berücksichtigen sind:20)
Erstens: Das (individuelle sowie gruppenbezogene) Radikalisierungsgeschehen in einer Gesellschaft wirkt sich auf unterschiedliche systemische Ebenen in der Spannbreite von mikro- (etwa: Familie, Terrorgruppierungen) bis zu makrosystemischen (etwa: Gesetzgebung, Wertorientierungen) Strukturen aus und wird seinerseits von Reaktionen auf diesen Ebenen beeinflusst.
Zweitens: Es sind soziokulturelle, gesellschaftliche – in der Regel konfliktträchtige - Bedingungen, die Radikalisierung auslösen, wobei die Radikalisierung wiederum eine Rückmeldung auf diese Bedingungen darstellt (ausführlich: Kap 3.1).
Drittens: Radikalisierung ist als ein durch zahlreiche Faktoren beeinflusstes Phänomen zu verstehen, das vielfältige neue Bedingungen schafft, die sich wiederum auf alle Teilsysteme auswirken. Diese systemtheoretische Betrachtungsweise urteilt nicht über die jeweiligen Ursachen von Radikalisierung, Extremismus oder Terrorismus. Vielmehr erscheinen diese Phänomene gleichermaßen als Ursache und auch als Wirkung von Veränderungen im systemischen, soziokulturellen Gefüge einer jeweiligen Gesellschaft. So ist beispielsweise Terrorismus damit keine statische Größe, sondern ein kriminelles, prozessgleiches Geschehen – mit entsprechenden Auswirkungen auf alle beteiligten Akteurinnen, Akteure und Systemebenen.
Was bedeutet das? – Praktische Schlussfolgerungen für die Extremismusprävention
Aus dieser systemtheoretischen Betrachtungsweise ergeben sich einige für die Gestaltung von Extremismusprävention praxisrelevante Ableitungen, die abschließend und resümierend herausgestellt werden sollen.
Extremismusprävention erfordert realistische Zielbestimmungen
Extremismusprävention sollte ganz entsprechend der notwendigen und vorgenommenen begrifflichen Differenzierung nicht mit Radikalisierungsprävention gleichgesetzt werden, wie es der öffentliche Diskurs bisweilen nahelegt. Präventionsbemühungen sind darauf zu fokussieren, dass Radikalisierung nicht in kriminelle Handlungen, in Gewalt umschlägt. Radikalisierung ist – wie betont – eine Begleiterscheinung (konfliktgeladener) gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und eröffnet in der Regel Korridore für Erneuerungen, für ein neues Austarieren von Interessen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Eine primäre Radikalisierungsprävention wäre somit in erster Linie auf die Verhinderung gesellschaftlicher Konflikte auszurichten – eine letztlich utopische Unternehmung, denn innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung sind Konflikte letztlich unvermeidlich. Insofern sollte eine übergeordnete Zielstellung darauf gerichtet sein, das in einem Radikalisierungsgeschehen enthaltene Potenzial zu minimieren, in kriminelle Handlungen und/oder in die Ausbildung extremistischer Positionierungen umzuschlagen, bei gleichzeitig bestmöglicher Wahrung des einer Radikalisierung, einem radikalen Protest innewohnenden Innovationspotenzials.
Extremismusprävention als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Das interaktiv-dynamische Gefecht zwischen den verschiedenen Systemebenen lässt offenkundig werden, dass Extremismusprävention als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und vor allem zu gestalten ist (hierzu ausführlich: Kap. 6). Der Umgang mit Extremismus- oder Terrorismusphänomenen weist letztlich allen Akteurinnen und Akteuren auf sämtlichen Systemebenen eine Verantwortung im Rahmen der Phänomenprävention/-bekämpfung zu. Und sei es nur die Verantwortung, sich nicht gleichgültig gegenüber einem extremistischen Geschehen und seinen möglichen Opfern zu verhalten.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Schmid 2011.
2)
Ausführlich zur Differenzierung unterschiedlicher Terrorismen etwa: Waldmann 2005, 99 ff.
3)
Vergleiche hierzu überblickartig etwa: Pfahl-Traughber 2014, 15 ff.; Backes 2006, 17 ff, Waldmann 1998, 9 ff.
4)
Etwa: Neu 2012, 7 ff.; Jennerjahn 2010.
5)
Beispielhaft: Neugebauer 2010, 5 ff.
6)
Vgl. in diesem Kontext zu den rechtlichen Grundlagen einen Beitrag der Rechtswissenschaftlerin Ilse Staff 1993 auf einer Diskussionsveranstaltung der Johann Wolfgang Goethe-Universität zum Thema „Fremde, Andere und das Toleranzgebot des Grundgesetzes“, die unter dem Eindruck der rechtsextremistisch, fremdenfeindlich motivierten Mordanschläge von Mölln im Dezember 1992 in Frankfurt am Main stattfand.
7)
Diese Definition findet beispielsweise mit Blick auf das polizeiliche, auf Kriminalitätsbekämpfung und -abwehr gerichtete Handlungsfeld eine deutliche quantitative Erweiterung, indem jede Handlung, die gegen einen der folgenden Verfassungsgrundsätze gerichtet ist, als extremistisch eingestuft wird: - Das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der voll ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, - Die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz, - das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, - die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, - die Unabhängigkeit der Gerichte, - die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, - den Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft. - Ebenfalls hinzugerechnet werden Straftaten, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder sich gegen die Völkerverständigung richten.
8)
Als Beispiel seien hier die radikalen Abtreibungsgegner in den Vereinigten Staaten angeführt, die bisweilen einer terroristischen Strategie folgend massiv Gewalt einsetzen, bis hin zu gezielten Tötungsdelikten, um mit dem Ziel der Aufgabe von Abtreibungen – insbesondere beim medizinischen Fachpersonal – Angst und Schrecken zu verbreiten.
9)
Zu den hier angesprochenen Dynamiken von Protestbewegungen vgl. etwa Roth/Rucht 2008, 660 ff.
10)
Im Folgenden wird nur noch von „Extremismus“ gesprochen – das theoretische Modell lässt sich allerdings gleichermaßen auf die Phänomene von Radikalisierung und Terrorismus übertragen.
11)
Bronfenbrenner 1978, 35.
12)
Ein prominentes Beispiel ist mit Horst Mahler gegeben, der sich linksterroristisch in den 1970er-Jahren engagiert hat (u. a. als Gründungsmitglied der RAF) und heute ein bekennender Neonazi ist.
13)
Beck 1986; zitiert nach Rabert 1991, 73.
14)
Einen sehr illustrativen Eindruck, wie sich offenbar differente mikrosystemische Einbindungen auf biografische Entwicklungen von Terroristen auswirken, bietet die Studie von Koenen zu Schlüsselfiguren der RAF (2003). Die hohe Bedeutung der Gruppe für eine terroristische Karriere stellt Rasch in einer bereits in den 1970er-Jahren erschienenen Studie deutlich heraus: „The group itself is also important for the continuation of a terrorist career, not only in a technical sense, but also with respect to the psychological development of its members. The group provides back-up when other support is eradicated” (1979, 164). In dieser Weise erscheinen extremistische Gruppen und entsprechende Sympathisantengruppen als eine Art Kokon, in dem sich extremistische Karrieren entwickeln.
15)
Silke 2003, 37 ff.
16)
Dies findet sich gut im Artikel ‘Becoming a Terrorist’ von Andrew Silke 2003 herausgearbeitet.
17)
Bronfenbrenner 1978, 36.
18)
Ebd.
19)
Wie eine ältere Studie von Tololyan 1988 nahe legt, sind hierzu auch die Geschichte einer Nation sowie deren Legenden und Mythen zu zählen, die Einfluss auf die Weltsicht einer Gesellschaft beziehungsweise einer gesellschaftlichen Teilgruppierung nehmen und in Richtung extremistisch-terroristischer Haltungen motivieren können: Dies wird beispielhaft am Staatsterrorismus im Nationalsozialismus deutlich. Dieser gründete in symbolhaften, (vermeintlich) identitätsstiftenden und vor allem in den verklärten Interpretationen historischer Geschehnisse (etwa: Erster Weltkrieg) und kultureller Wurzeln (etwa: Nibelungen-Sage), die sich zum Wahn von der ‘Herrenrasse’ verstiegen, welcher wiederum als zentrale motivationale Triebkraft des nationalsozialistischen Terrorregimes fungierte.
20)
Dies geschieht in Anlehnung an Rennert 1989, 16, der diese systemtheoretischen Thesen mit Blick auf das Phänomen der Drogenabhängigkeit formuliert hat, die sich entsprechend der Theorie- und Forschungslage quasi deckungsgleich auf die hier diskutierten Phänomene von Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus übertragen lassen.
21)
Der hier unterlegte, eher alltagstheoretisch gefasste Lebensweltbegriff knüpft vorranging an eine soziologisch begründete Begriffsfassung an. Lebenswelt meint hier die Alltagspraktiken und die Alltagstheorien, die tradierten Handlungspraktiken, den alltäglichen Nachrichtenstrom sowie die Kulturgüter (von der Architektur über die Musik bis hin zur Literatur), die die Menschen einer jeweiligen Gesellschaft, eines jeweiligen Milieus oder auch einer jeweiligen Kleingruppe teilen bzw. mit denen sie in ihrem Alltag typischerweise konfrontiert sind (ausführlich mit Blick auf den hier diskutierten Themenkreis: Kemmesies 2019).
22)
Hierzu ausführlich etwa: Hoffman 2002, 18 ff.
23)
Hierzu ausführlich: Kemmesies/Weber 2019.
24)
Hierzu kann auf die mittlerweile elaborierten Methoden der Konflikttransformation verwiesen werden, vgl. etwa Berghof Foundation 2019.
Literatur
Backes, Uwe (2006): Politische Extremismen – Begriffshistorische und begriffssystematische Grundlagen. In: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, Seiten 17-40.
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1987): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main, Fischer.
Berghof Foundation (2019): Berghof Handbook for Confict Transformation.
Bronfenbrenner, Urie (1978): Ansätze zu einer experimentellen Ökologie menschlicher Entwicklung. In: Oerter, Rolf (Hrsg.): Entwicklung als lebenslanger Prozeß. Hamburg, Hoffmann und Campe, Seiten 33-65.
Bronfenbrenner, Urie (1989): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt am Main, Fischer.
Hoffman, Bruce (2002): Terrorismus – der unerklärte Krieg. bpb Schriftenreihe, Band 417. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.
Jennerjahn, Miro (2010): Der Extremismusansatz aus politischer Perspektive. In: Weiterdenken - Kulturbüro Sachsen e. V./Heinrich Böll Stiftung Sachsen/Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung, Leipzig/Studierendenrat der TU Dresden, Referat für Politische Bildung (Hrsg.): Gib es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti-demokratischen Einstellungen. Dresden, Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, 21-25.
Kemmesies, Uwe E. (2019): Zwischen Co-Terrorismus und Lebensweltorientierung: Ist das Internet ein geeignetes Feld der Radikalisierungsprävention? In: Schmitt, Josephine B./Ernst, Julian/Rieger, Diana/Roth, Hans-Joachim (Hrsg., im Druck): Propaganda und Prävention. Forschungsergebnisse, didaktische Ansätze sowie interdisziplinäre Perspektiven zur pädagogischen Arbeit zu extremistischer Internetpropaganda. Wiesbaden, VS Verlag.
Kemmesies, Uwe E./Weber, Karoline (2019): Frieden und Deradikalisierung. In: Giessmann Hans-J./Rinke Bernhard (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden, Springer VS, Seiten 319-329.
Koenen, Gerd (2003): Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln, Kiepenheuer und Witsch.
Neu, Viola (2012): Linksextremismus in Deutschland: Erscheinungsbild und Wirkung auf Jugendliche. Sankt Augustin/Berlin, Konrad-Adenauer Stiftung.
Neugebauer, Gero (2010): Zur Strukturierung der politischen Realität in einer modernen Gesellschaft. In: APuZ, 44, Seiten 3-9.
Pfahl-Traughber, Armin (2014): Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden, Springer VS.
Rennert, Monika (1989): Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. Freiburg, Lambertus.
Roth, Roland/Rucht, Dieter (2008) (Hrsg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main, Campus.
Schmid, Alex P. (2011): The Definition of Terrorism. In: (ders.): The Routledge Handbook of Terrorism Research. New York, Routledge, Seiten 39-98.
Silke, Andrew (2003): Becoming a Terrorist. In: Silke, Andrew (Hrsg.): Terrorists, Victims and Society. Psychological Perspectives on Terrorism and its Consequences. Chichester, Wiley, Seiten 29-54.
Staff, Ilse (1993): „Fremde“, „Andere“ und das Toleranzgebot des Grundgesetzes. In: Der Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Hrsg.): „Fremde“, „Andere“ und das Toleranzgebot des Grundgesetzes. Dokumentation einer Diskussionsveranstaltung. 1. Auflage, Frankfurt am Main, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Goethe-Universität, Seiten 9-13.
Tololyan, Khachig (1988): Cultural Narrative and the Motivation of the Terrorist. In: Rapoport David (Hrsg.): Inside Terrorist Organizations. London, Frank Cass, Seiten 217-236.
Waldmann, Peter (1998): Terrorismus. Provokation der Macht. München, Gerling Akademie Verlag.
Waldmann, Peter (2005): Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg, Murmann.