Bundeskriminalamt (BKA)

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Extremismusprävention als Dialog

Das Dialogerfordernis im Arbeitsfeld der Extremismusprävention begründet sich in dreifacher Hinsicht:

Erstens – Dialog zur Abstimmung von Maßnahmen

Angesichts der vielfältigen Akteurinnen und Akteure, die mittelbar und unmittelbar mit der Kontrolle des Extremismusphänomens betraut und in den unterschiedlichen (universell-, selektiv- und tertiär-)präventiven Handlungsfeldern tätig sind, bedarf es eines umfassenden Austauschs. Wesentliches Ziel ist hier die Abstimmung der in der Regel parallel laufenden Maßnahmen und Interventionen. Diese Notwendigkeit wird ganz offensichtlich im Handlungsfeld der indizierten Prävention im Zusammenhang mit Ausstiegsprozessen. Hier greifen häufig parallel Maßnahmen der Repression (Strafverfolgung/Strafvollzug) und Prävention (Ausstiegshilfeangebote), die einer engen, fallbezogenen Abstimmung zwischen Strafverfolgungsbehörden und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen bedürfen.

Zweitens – Dialog als Instrument der Lebensweltorientierung

Um der Anforderung einer Lebensweltorientierung genügen zu können, bedarf es eines offenen Dialogs, um die dem extremistischen Geschehen jeweils unterlegten Motive und Weltsichten erschließen zu können. Dass dies eine große Herausforderung ist, muss nicht betont werden, denn die Kommunikation mit extremistischen Akteurinnen bzw. Akteuren und Milieus ist in der Regel sehr von einem strategisch-taktischen Kalkül der Dialogpartnerinnen und -partner beeinflusst. Hier bedarf es situativ und auf den jeweiligen Fall ausgerichteter Kommunikationsstrategien.

Drittens – Dialog als Instrument der Konflikttransformation

Anknüpfend an den Allgemeinbefund, dass einem Radikalisierungsgeschehen gesellschaftliche Konflikte zugrunde liegen, die von den verschiedenen extremistischen Gruppierungen ideologisch aufgeladen bzw. gedeutet werden, um die Konflikte so für die Verfolgung der eigenen Interessen zu instrumentalisieren, bedarf es Austauschplattformen für die am jeweiligen Konflikt beteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen.

Über einen transparenten, offenen Dialog sollten Radikalisierung treibende und damit potenziell die verschiedenen Extremismen befeuernde Konflikte transformiert werden. Ein sozialer Protest und ein entsprechendes Radikalisierungsgeschehen sollte immer als Frühwarnindikator betrachtet werden – spätestens dann, wenn sie sich parallel in unterschiedlichen Gruppen und Milieus abbilden. Protest sollte als Aufruf an die Gesellschaft, an die politischen Verantwortungsträger ernst genommen werden, sich der zugrunde liegenden Konflikte zu widmen. Wird dieser Ruf ignoriert, so wird er unweigerlich lauter– möglicherweise bis hin zu Gewalthandlungen, im Extremfall gar in Gestalt von Terroranschlägen ganz im Sinne des anarchistischen Konzepts der „Propaganda der Tat" aus dem 19. Jahrhundert.22) Hieraus folgt aus konflikttheoretischer Perspektive die praktische Notwendigkeit, die jedem Konflikt unterliegende sichtbare und unsichtbare Dimension zu berücksichtigen:23) die beobachtbare Dimension von konkret gezeigtem Verhalten sowie die nicht beobachtbare und in der Regel schwer erfassbare Dimension von Einstellungen und widersprüchlichen Bewertungen des jeweiligen Konfliktes. Es ergibt sich so häufig eine unklare Situation sozialer Interaktion und Kommunikation. Dies insofern, als auf radikales, extremistisches Verhalten zustimmend oder ablehnend reagiert werden kann, nicht aber auf die nicht kommunizierten sowie nicht sichtbaren bewussten und unbewussten Annahmen und Motive der Handelnden. Hier gilt es, einen Austausch, einen Dialog zu kreieren, der diese verborgene Dimension sichtbar macht, indem das Unsagbare sagbar bzw. mitteilbar gemacht wird.24)

Werden Radikalisierungstendenzen ausschließlich aus einer sicherheitspolitischen Logik heraus als ein Angriff auf die Gesellschaft, als Sicherheitsrisiko eingestuft, verbleibt es unweigerlich bei einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem sichtbaren, ggf. gewalttätigen Verhalten. Die tieferliegenden Ursachen wären so weiterhin ausgeblendet. Die Konflikte verblieben so auf ihrer verborgenen Ebene unbearbeitet und könnten sich so künftig durch gewaltsame Handlungen und in Gestalt der verschiedenen Extremismen manifestieren. Insofern ist ein offener Dialog zwischen den Konfliktparteien immer auch als fundamentaler Beitrag einer gesamtgesellschaftlich angelegten Extremismusprävention zu verstehen.

Das vorstehend skizzierte, eher abstrakt gehaltene und theoretisch begründete Anforderungsprofil einer stets aktuelle Entwicklungen berücksichtigenden, gesamtgesellschaftlich, flexibel, fallspezifisch, lebensweltorientiert und dialogisch zu gestaltenden Extremismusprävention ruft nach Konkretisierung, wie sie in den anstehenden Kapiteln geleistet wird. Derartige handlungspraktische Konkretisierungen der Präventionspraxis sollten entsprechend der Komplexität und Dynamik der unterschiedlichen Extremismen folgenden Fragen folgen: Wann sollte wer in welcher Weise mit welcher Zielstellung und mit welchen Mitteln sowie an welchem (geographisch-physischen sowie sozialen) Ort kontaktiert werden?

Resümee und Ausblick

Im vorliegenden Kapitel sind Kernbefunde herausgestellt und zu einem theoretischen Bezugsrahmen verdichtet worden, die aus einer Zusammenschau der Forschung der letzten Dekade hervorgehen. Die Befunde sind jedoch oftmals noch zu abstrakt, um sie direkt in eine umsetzbare Praxis der Extremismusprävention in Gestalt eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes zu übersetzen. Immer noch verbleibt der Hinweis auf sozialzeitliche Unterschiede im Radikalisierungsgeschehen mit Blick auf eine angestrebte handlungspraktische Umsetzung recht vage, weil eben noch nicht umfassend beschreibbar ist, was beispielsweise salafistische Deutungsangebote bzw. Weltsichten gerade zu dieser Zeit so attraktiv macht und wie sich diese wechselseitig mit anderen extremistischen Weltsichten verstärken. Ebenso verbleibt der generelle Forschungsbefund auf (sozial-)räumliche Differenzen im Radikalisierungsaufommen ohne handlungspraktischen Wert, wenn wir nicht näher identifizieren können, warum ein salafistischer oder politisch rechts motivierter Extremismus gerade an diesem Ort, in dieser Stadt, in dieser Region und in diesem Milieu, bei diesen Personen auf offensichtlich positiven Widerhall stößt. Auch ist es für die Gestaltung von Prävention wenig hilfreich, wenn nicht zwischen dem Radikalisierungsgeschehen auf Individual-, kleingruppenbezogener und kollektiver Ebene unterschieden wird: Wie Radikalisierung in konflikttheoretischer Perspektive - Seite 1 illustrieren wird, beobachten wir auf der Individualebene andere Anfälligkeiten als auf Ebene gesellschaftlicher Großgruppen – hier ist weitergehender Forschungsbedarf angezeigt.

Gleichwohl: Der Handlungsbedarf ist jetzt gegeben, und so muss die Gestaltung von Präventionspraxis notgedrungen auch aus einem weiterhin defizitären Wissen zu den verschiedenen Radikalisierungs- und Extremismusphänomenen heraus gestaltet werden. Um in einer solchen Situation verantwortlich zu agieren, bedarf es praxisbegleitender Evaluation und eines verstärkten Austausches zwischen Wissenschaft und Praxis.

Eines aber können wir mit Blick auf die Gestaltung der künftigen Wissenschafts- und Präventionspraxis zu dem im vorliegenden Handbuch gegenständlichen Phänomenfeld als wissenschaftlich abgesichert festhalten: Radikalisierung im Allgemeinen und Extremismus im Besonderen sind ernst zu nehmende Sensoren und wichtige Indikatoren für die jeweilige Verfasstheit einer Gesellschaft sowie deren aktuelle Konfliktlinien. Ein etwaiges Radikalisierungsgeschehen ist so immer auch eine Rückkoppelung bzw. Widerspiegelung sozialer Konflikte. Radikalisierung richtig verstanden und nicht direkt mit einem pauschalen Abwehrreflex und entsprechenden Überreaktionen begegnet, eröffnet Chancen und sollte nicht pauschal mit Kriminalitätsrisiken gleichgesetzt werden. Die Risiken zu kontrollieren und die im gesellschaftlichen Radikalisierungsgeschehen verankerten Chancen zu nutzen, erfordert ein noch tieferes Verständnis von Ein- und vor allem auch Ausstiegsbedingungen von Radikalisierung. Ein umfassenderes Verständnis wird sich uns allerdings nur erschließen, wenn wir bereit sind, das Phänomen der Radikalisierung offen und wertneutral zu betrachten und die Reflexion nicht gleich unter das Diktat einer Zielsetzung zu stellen, entsprechend derer „Radikalität" in jedem Falle zu bekämpfen und zurückzudrängen ist.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

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