Bühne des Kapitels / Moduls
Begriffe, theoretische Bezüge und praktische Implikationen
1. Grundlagen der Extremismusprävention
Inhalt des Kapitels / Moduls
Sozialräumliche Unterschiede
Aber nicht nur über die Zeit hinweg wandelt sich das Radikalisierungsgeschehen und zeigen die unterschiedlichen Extremismen verschiedenartige Erscheinungsformen. Auch starke geografische sowie sozialräumliche Unterschiede sind ausmachbar: Sowohl zwischen als auch innerhalb von Gesellschaften lassen sich beachtliche Unterschiede hinsichtlich der Erscheinungsbilder von Radikalisierung ausmachen. Nehmen wir beispielsweise das sich um das Migrationsgeschehen in Europa rankende Radikalisierungsgeschehen in Gestalt der sog. Gida-Bewegungen. In Nachbarländern Deutschlands haben sich diese nicht in der Größe entwickelt wie in Deutschland und auch innerhalb Deutschlands beobachten wir große regionalräumliche Unterschiede.9)
Theoretischer Bezugsrahmen – Soziale Kontextstruktur ‚Radikalisierung‘
Um die vielfältige Realität des Radikalisierungsgeschehens und die unterschiedlichen Erscheinungen von Extremismus und Terrorismus abbilden und erfassen zu können, ist ein theoretisches Rahmenmodell mit großer Reichweite notwendig – auch, um es offen zu halten für mögliche neue Phänomenerscheinungen, die sich der Präventionspraxis immer wieder stellen. Ein solches Modell hat im Kern eine soziologische, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtete, und psychologische, auf die individuellen Voraussetzungen und Umstände bezogene, Perspektive zu verknüpfen. Nur so werden wir in die Lage versetzt, sowohl kollektive, auf größere gesellschaftliche Teilgruppen bezogene als auch darin eingebettete individuelle Radikalisierungsprozesse zu verstehen und ihnen angemessen präventiv begegnen zu können. Es bedarf eines Modells, das die spezifischen Dynamiken des jeweiligen Radikalisierungsgeschehens nachvollziehbar macht und im Einklang mit dem Forschungsstand „Radikalisierung" als ein multi-kausal bedingtes soziales Phänomen begreift. Theoretische Modelle mit geringer Reichweite, die sich in der Regel auf Teilausschnitte sozialer Realität beziehen, sind nicht in der Lage, die Komplexität des Radikalisierungsgeschehens theoretisch nachvollziehbar und damit handlungspraktisch fassbar zu machen.
Vorgenannten Ansprüchen wird der bereits eingeführte theoretische Ausgangspunkt unseres Modells gerecht – die Ursachen-Trias von Extremismus: Person – Ideologie – Umfeld.10)
Das Zusammenwirken dieser drei Eckpunkte befindet sich in einem fortwährenden dynamischen Prozess und entscheidet über die jeweiligen extremistischen Ausdrucksformen. Damit wird die Berücksichtigung des Wechselwirkungs-Geschehens unverzichtbar für ein tieferes Phänomenverständnis als Grundlage einer angemessenen Präventionspraxis.
Das auf der Ursachen-Trias „Extremismus" aufbauende und im Weiteren näher erklärte Model der "Kontextstruktur Extremismus" ist ein „vortheoretisches" Modell und keine Theorie im klassischen Sinne, weil es keine klassischen theoretischen Aussagen in Gestallt von "Wenn-Dann-Aussagen" enthält. Ein solches Modell wäre dem Gegenstand auch nicht angemessen, denn es gibt keine Bedingungskonstellation, die unweigerlich zu Extremismus führt. Allenfalls gibt es Konstellationen, die Entwicklungen in Richtung eines Extremismus mehr oder weniger wahrscheinlich werden lassen, ohne dies allerdings - mit theoretisch fundierten Gesetzmäßigkeiten unterlegen zu können.
Das Modell stellt eine Erweiterung der Ursachen-Trias dar, indem vor allem die Einflussgröße „Umfeld" differenzierter aufgeschlüsselt wird, um so die vielfältigen potenziellen phänomenrelevanten Einflüsse in den mikro- und makrosozialen Umfeldern einer Person erfassen zu können.
Dies geschieht unter Rückgriff auf Bronfenbrenners (etwa: 1989) Theorie von der „Ökologie menschlicher Entwicklung". Gemäß diesem theoretischen Ansatz vollzieht sich menschliche Entwicklung im Allgemeinen sowie diejenige in Richtung eines Extremismus im Besonderen unter den Bedingungen unterschiedlicher Systeme bzw. Systemebenen, die das soziale Umfeld einer Person bilden. Das soziale Umfeld einer Person bzw. das jeweilige gesellschaftliche sowie kulturelle Umfeld, innerhalb dessen sich Extremismus entwickelt, stellt sich als ein komplexes Gebilde von unterschiedlichen Systemebenen dar.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Schmid 2011.
2)
Ausführlich zur Differenzierung unterschiedlicher Terrorismen etwa: Waldmann 2005, 99 ff.
3)
Vergleiche hierzu überblickartig etwa: Pfahl-Traughber 2014, 15 ff.; Backes 2006, 17 ff, Waldmann 1998, 9 ff.
4)
Etwa: Neu 2012, 7 ff.; Jennerjahn 2010.
5)
Beispielhaft: Neugebauer 2010, 5 ff.
6)
Vgl. in diesem Kontext zu den rechtlichen Grundlagen einen Beitrag der Rechtswissenschaftlerin Ilse Staff 1993 auf einer Diskussionsveranstaltung der Johann Wolfgang Goethe-Universität zum Thema „Fremde, Andere und das Toleranzgebot des Grundgesetzes“, die unter dem Eindruck der rechtsextremistisch, fremdenfeindlich motivierten Mordanschläge von Mölln im Dezember 1992 in Frankfurt am Main stattfand.
7)
Diese Definition findet beispielsweise mit Blick auf das polizeiliche, auf Kriminalitätsbekämpfung und -abwehr gerichtete Handlungsfeld eine deutliche quantitative Erweiterung, indem jede Handlung, die gegen einen der folgenden Verfassungsgrundsätze gerichtet ist, als extremistisch eingestuft wird: - Das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der voll ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, - Die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz, - das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, - die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, - die Unabhängigkeit der Gerichte, - die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, - den Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft. - Ebenfalls hinzugerechnet werden Straftaten, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder sich gegen die Völkerverständigung richten.
8)
Als Beispiel seien hier die radikalen Abtreibungsgegner in den Vereinigten Staaten angeführt, die bisweilen einer terroristischen Strategie folgend massiv Gewalt einsetzen, bis hin zu gezielten Tötungsdelikten, um mit dem Ziel der Aufgabe von Abtreibungen – insbesondere beim medizinischen Fachpersonal – Angst und Schrecken zu verbreiten.
9)
Zu den hier angesprochenen Dynamiken von Protestbewegungen vgl. etwa Roth/Rucht 2008, 660 ff.
10)
Im Folgenden wird nur noch von „Extremismus“ gesprochen – das theoretische Modell lässt sich allerdings gleichermaßen auf die Phänomene von Radikalisierung und Terrorismus übertragen.
11)
Bronfenbrenner 1978, 35.
12)
Ein prominentes Beispiel ist mit Horst Mahler gegeben, der sich linksterroristisch in den 1970er-Jahren engagiert hat (u. a. als Gründungsmitglied der RAF) und heute ein bekennender Neonazi ist.
13)
Beck 1986; zitiert nach Rabert 1991, 73.
14)
Einen sehr illustrativen Eindruck, wie sich offenbar differente mikrosystemische Einbindungen auf biografische Entwicklungen von Terroristen auswirken, bietet die Studie von Koenen zu Schlüsselfiguren der RAF (2003). Die hohe Bedeutung der Gruppe für eine terroristische Karriere stellt Rasch in einer bereits in den 1970er-Jahren erschienenen Studie deutlich heraus: „The group itself is also important for the continuation of a terrorist career, not only in a technical sense, but also with respect to the psychological development of its members. The group provides back-up when other support is eradicated” (1979, 164). In dieser Weise erscheinen extremistische Gruppen und entsprechende Sympathisantengruppen als eine Art Kokon, in dem sich extremistische Karrieren entwickeln.
15)
Silke 2003, 37 ff.
16)
Dies findet sich gut im Artikel ‘Becoming a Terrorist’ von Andrew Silke 2003 herausgearbeitet.
17)
Bronfenbrenner 1978, 36.
18)
Ebd.
19)
Wie eine ältere Studie von Tololyan 1988 nahe legt, sind hierzu auch die Geschichte einer Nation sowie deren Legenden und Mythen zu zählen, die Einfluss auf die Weltsicht einer Gesellschaft beziehungsweise einer gesellschaftlichen Teilgruppierung nehmen und in Richtung extremistisch-terroristischer Haltungen motivieren können: Dies wird beispielhaft am Staatsterrorismus im Nationalsozialismus deutlich. Dieser gründete in symbolhaften, (vermeintlich) identitätsstiftenden und vor allem in den verklärten Interpretationen historischer Geschehnisse (etwa: Erster Weltkrieg) und kultureller Wurzeln (etwa: Nibelungen-Sage), die sich zum Wahn von der ‘Herrenrasse’ verstiegen, welcher wiederum als zentrale motivationale Triebkraft des nationalsozialistischen Terrorregimes fungierte.
20)
Dies geschieht in Anlehnung an Rennert 1989, 16, der diese systemtheoretischen Thesen mit Blick auf das Phänomen der Drogenabhängigkeit formuliert hat, die sich entsprechend der Theorie- und Forschungslage quasi deckungsgleich auf die hier diskutierten Phänomene von Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus übertragen lassen.
21)
Der hier unterlegte, eher alltagstheoretisch gefasste Lebensweltbegriff knüpft vorranging an eine soziologisch begründete Begriffsfassung an. Lebenswelt meint hier die Alltagspraktiken und die Alltagstheorien, die tradierten Handlungspraktiken, den alltäglichen Nachrichtenstrom sowie die Kulturgüter (von der Architektur über die Musik bis hin zur Literatur), die die Menschen einer jeweiligen Gesellschaft, eines jeweiligen Milieus oder auch einer jeweiligen Kleingruppe teilen bzw. mit denen sie in ihrem Alltag typischerweise konfrontiert sind (ausführlich mit Blick auf den hier diskutierten Themenkreis: Kemmesies 2019).
22)
Hierzu ausführlich etwa: Hoffman 2002, 18 ff.
23)
Hierzu ausführlich: Kemmesies/Weber 2019.
24)
Hierzu kann auf die mittlerweile elaborierten Methoden der Konflikttransformation verwiesen werden, vgl. etwa Berghof Foundation 2019.
Literatur
Backes, Uwe (2006): Politische Extremismen – Begriffshistorische und begriffssystematische Grundlagen. In: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, Seiten 17-40.
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1987): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main, Fischer.
Berghof Foundation (2019): Berghof Handbook for Confict Transformation.
Bronfenbrenner, Urie (1978): Ansätze zu einer experimentellen Ökologie menschlicher Entwicklung. In: Oerter, Rolf (Hrsg.): Entwicklung als lebenslanger Prozeß. Hamburg, Hoffmann und Campe, Seiten 33-65.
Bronfenbrenner, Urie (1989): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt am Main, Fischer.
Hoffman, Bruce (2002): Terrorismus – der unerklärte Krieg. bpb Schriftenreihe, Band 417. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.
Jennerjahn, Miro (2010): Der Extremismusansatz aus politischer Perspektive. In: Weiterdenken - Kulturbüro Sachsen e. V./Heinrich Böll Stiftung Sachsen/Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung, Leipzig/Studierendenrat der TU Dresden, Referat für Politische Bildung (Hrsg.): Gib es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti-demokratischen Einstellungen. Dresden, Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, 21-25.
Kemmesies, Uwe E. (2019): Zwischen Co-Terrorismus und Lebensweltorientierung: Ist das Internet ein geeignetes Feld der Radikalisierungsprävention? In: Schmitt, Josephine B./Ernst, Julian/Rieger, Diana/Roth, Hans-Joachim (Hrsg., im Druck): Propaganda und Prävention. Forschungsergebnisse, didaktische Ansätze sowie interdisziplinäre Perspektiven zur pädagogischen Arbeit zu extremistischer Internetpropaganda. Wiesbaden, VS Verlag.
Kemmesies, Uwe E./Weber, Karoline (2019): Frieden und Deradikalisierung. In: Giessmann Hans-J./Rinke Bernhard (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden, Springer VS, Seiten 319-329.
Koenen, Gerd (2003): Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln, Kiepenheuer und Witsch.
Neu, Viola (2012): Linksextremismus in Deutschland: Erscheinungsbild und Wirkung auf Jugendliche. Sankt Augustin/Berlin, Konrad-Adenauer Stiftung.
Neugebauer, Gero (2010): Zur Strukturierung der politischen Realität in einer modernen Gesellschaft. In: APuZ, 44, Seiten 3-9.
Pfahl-Traughber, Armin (2014): Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden, Springer VS.
Rennert, Monika (1989): Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. Freiburg, Lambertus.
Roth, Roland/Rucht, Dieter (2008) (Hrsg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main, Campus.
Schmid, Alex P. (2011): The Definition of Terrorism. In: (ders.): The Routledge Handbook of Terrorism Research. New York, Routledge, Seiten 39-98.
Silke, Andrew (2003): Becoming a Terrorist. In: Silke, Andrew (Hrsg.): Terrorists, Victims and Society. Psychological Perspectives on Terrorism and its Consequences. Chichester, Wiley, Seiten 29-54.
Staff, Ilse (1993): „Fremde“, „Andere“ und das Toleranzgebot des Grundgesetzes. In: Der Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Hrsg.): „Fremde“, „Andere“ und das Toleranzgebot des Grundgesetzes. Dokumentation einer Diskussionsveranstaltung. 1. Auflage, Frankfurt am Main, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Goethe-Universität, Seiten 9-13.
Tololyan, Khachig (1988): Cultural Narrative and the Motivation of the Terrorist. In: Rapoport David (Hrsg.): Inside Terrorist Organizations. London, Frank Cass, Seiten 217-236.
Waldmann, Peter (1998): Terrorismus. Provokation der Macht. München, Gerling Akademie Verlag.
Waldmann, Peter (2005): Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg, Murmann.