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Islamismus, Salafismus und Jihadismus

Islamismus und Salafismus in Deutschland haben zwar manche für die hiesige Situation typischen Eigenheiten, sind jedoch – wie auch in anderen europäischen Staaten – in erster Line ein „Import“ aus verschiedenen islamischen Kernländern, überwiegend durch Migration, aber in den letzten 15 bis 20 Jahren auch durch Mission und Konversion. Daher müssen hier zunächst die wichtigsten Entwicklungen erläutert werden, die das Gesamtphänomen geprägt und damit auch die islamistische Szene in Deutschland entscheidend beeinflusst haben.

Islamismus ist ein erst im 20. Jahrhundert entstandenes Phänomen, das sich im weitesten Sinne als Reaktion auf die Ära der westlichen politischen und kulturellen Vorherrschaft über islamische Staaten interpretieren lässt, die nach dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht hatte. Mit der Kapitulation des Osmanischen Reiches 1918 endete auch der letzte „Hoffnungsanker“ für die überwiegend schon vor 1914 unter direkter oder indirekter europäischer Herrschaft stehenden Muslime in Afrika und Asien. Die erfolgreiche Gegenwehr der Türken gegen eine geplante weitere Aufteilung ihres Restgebiets in Anatolien endete 1923 mit der Gründung der Türkischen Republik, die unter Mustafa Kemal „Atatürk“ einen dezidierten Kurs der Verwestlichung einschlug. 1924 wurde das seit 1517 bestehende Osmanische „Kalifat“ auch formell abgeschafft, womit eine zentrale symbolische Institution für Muslime weltweit nicht mehr existierte. Die Wiedererrichtung eines panislamischen Kalifats, mit dem vor allem die Rückkehr zu alter Macht und Größe assoziiert wird, war seitdem ein erklärtes (Fern)Ziel verschiedener muslimischer Bewegungen, darunter der 1928 gegründeten ägyptischen Muslimbruderschaft.

Panislamismus4)

Die Bewegung des Panislamismus entstand im späten 19. Jahrhundert als Reaktion auf die damalige Vormacht des europäischen Imperialismus und Kolonialismus in der islamischen Welt. Dschamal al-Din al-Afghani (1838-1897) war der wichtigste Vordenker der panislamischen Ideologie und rief zu einer politischen Vereinigung aller Muslime auf, um deren weiteren Machtverlust und die Durchdringung muslimischer Gesellschaften mit europäischen Normen und Gesetzen abzuwehren. Das Konzept des Panislamismus zielt auf die Rückkehr zu einem Kalifat bzw. islamischem Einheitsstaat, dessen Rechtsgrundlage sich auf die Scharia bezieht.

Die ägyptischen Muslimbrüder, die mit ihrem politischen Aktivismus unter dem Slogan „Der Islam ist die Lösung“ bis 1948 zu einer Bewegung von 500.000 regulären Mitgliedern und noch mehr Sympathisanten herangewachsen waren, wurden zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Bewegungen in der arabischen und gesamten islamischen Welt. Zwar hatte es „fundamentalistische“ Bewegungen, die den absoluten Vorrang islamischer Werte und Regeln in der Gesellschaft propagierten, auch schon vor dem 20. Jahrhundert gegeben, neu war aber das Verständnis vom Islam als „Religion und Ideologie“, wobei auch im Westen entstandene Organisationsformen und Versatzstücke europäischer Ideologien (z.B. das Ziel „soziale Gerechtigkeit“) übernommen und islamisch eingefärbt wurden.

In Ägypten waren die Muslimbrüder von 1954 bis 1970 verboten und wurden verfolgt, wobei sich ein Teil von ihnen radikalisierte. Das gilt insbesondere für den 1966 hingerichteten Sayyid Qutb, dessen Schriften maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des Jihadismus haben sollten (siehe unten). Zwischenzeitlich war es jedoch von 1971 bis zu ihrem erneuten Verbot 2013 ein pragmatischer Zweig der Muslimbrüder, der fast kontinuierlich an Einfluss gewann, sowohl in Berufsverbänden als auch bei Parlamentswahlen, mit der Wahl von Muhammad Mursi zum ägyptischen Staatspräsidenten 2012 als Höhepunkt. In anderen arabischen Staaten waren örtliche Zweige der Muslimbruderschaft zwar überwiegend illegal, sie gewannen aber Freiräume u. a. in Jordanien, Libyen und sogar Saudi-Arabien (siehe unten).

In Palästina wuchs die 1988 gegründete Hamas zur stärksten politischen Kraft heran und gewann 2006 vor Al-Fatah die Stimmenmehrheit in den palästinensischen Selbstverwaltungsgebieten.

Hizbullah oder Hisbollah6)

Übersetzt: die „Partei Gottes“. Die Hisbollah ist eine libanesische schiitische Miliz, die nach der israelischen Libanon-Invasion 1982 auf Betreiben Irans gegründet wurde und iranischen Direktiven folgt. Sie profilierte sich mit spektakulären Selbstmordanschlägen und erreichte bis 2000 den Abzug der letzten israelischen Truppen. Auch in der Folgezeit blieb die Hisbollah ein bewaffneter Staat im Staat im Libanon,

Logo Hizbullah (Libanon)
Hizbullah (Libanon)

mit einer hochprofessionellen "Armee" und anderen wie in einer Regierung organisierten Abteilungen.

(2007 eroberte Hamas dann mit Waffengewalt die Herrschaft über den von Israel 2005 vollständig geräumten Gazastreifen). In Pakistan war die islamistische Jama‘at-i Islami seit der Staatsgründung 1947 fast durchgehend legal aktiv und beteiligte sich seit 1970 an Wahlen, und in Afghanistan entstanden in den 1970er-Jahren ähnlich organisierte Gruppen.

Auch der Pionier des ab 1970 erstarkenden türkischen Islamismus, der in Deutschland promovierte Ingenieur Necmettin Erbakan (1926-2011)5) , stand ideologisch den ägyptischen Muslimbrüdern nahe. Im Gegensatz zu den oben erwähnten sunnitisch geprägten Varianten des Islamismus findet schiitischer Islamismus, der mit der Revolution von 1978-79 die alleinige politische Macht in Iran errang und von dort auf andere schiitische Gebiete ausgestrahlt hat (etwa Hizbullah im Libanon oder schiitische Organisationen mit ähnlicher Ideologie im Irak,7) in Afghanistan und Pakistan seit den frühen 1980er-Jahren; im Jemen seit ca. 1994), gegenwärtig wenig Beachtung.

Taliban/Taleban8)

Die Bewegung der Taleban (wörtlich: "Religions-studenten") entstand Ende 1994 im Süden Afghanistans als Reaktion örtlicher Paschtunen auf die Anarchie und Bruderkämpfe der "Mujahidin", die dem Sturz der pro-sowjetischen afghanischen Regierung im April 1992 gefolgt waren. Ihre Führer waren islamistische Veteranen des Widerstandskampfes gegen die sowjetische Invasion.

Bis 1996 eroberten die von Pakistan unterstützten Taleban Kabul und proklamierten ein "Islamisches Emirat". Nach dessen Zerschlagung durch die amerikanische Invasion 2001 konnten

Flagge Taleban
Flagge Taleban

sich die Taleban einige Jahre später landesweit als militärische Kraft neuformieren.

Festzuhalten ist jedoch, dass sunnitische und auch schiitische Parteien und Gruppen, für die sich seit den 1970er-Jahren die Bezeichnung „islamistisch“ durchgesetzt hat, eines gemeinsam haben: ihr Streben nach politischer Macht, um auf diesem Wege ihre Vorstellungen von einer „islamischen Gesellschaft“ durchzusetzen.

Das schließt in der Regel die Forderung nach „vollständiger Implementierung der Scharia“ ein, einschließlich Körperstrafen und eingeschränkter Rechte für Frauen. Zur Erreichung ihrer Ziele gehen Islamisten unterschiedlich vor.

Die Mittel reichen von terroristischen Anschlägen über bewaffneten Kampf bis hin zum politischen Wettbewerb im Rahmen der vom jeweiligen Staat vorgegebenen Gesetze und zum stillen „Marsch durch die Institutionen". Trotz ihrer Ablehnung „unislamischer“ Gesetze und Konzepte sind Islamisten oft flexibel bei der Aneignung und „Islamisierung“ westlicher Vorbilder, was sich z.B. beim politischen und rechtlichen System der 1979 proklamierten „Islamischen Republik Iran“ gezeigt hat.

Daher ist die früher gebräuchliche Bezeichnung „Fundamentalisten“ für Islamisten ungenau. Sie beschreibt hingegen treffend die Bewegung der Taleban, die von 1995 bis 2001 über große Teile Afghanistans geherrscht hat,9) und die inzwischen weltweite Bewegung des Salafismus.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen

Bildquellen

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