Bundeskriminalamt (BKA)

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Inhalt des Kapitels / Moduls

Extremismus und Terror gehen von Gruppen aus. Was aber macht eine extremistische Gruppe aus? Welche zentralen Strukturen gehören zu Gruppen? Welche Gruppendynamik ist in extremistischen Gruppen zu erkennen und erklärt, warum sich die Personen diesen Gruppen anschließen, was die Gruppen zusammenhält, oder auch, warum Mitglieder die Gruppen verlassen? Welches Risiko geht von extremistischen Gruppen aus, das auf die Gruppendynamik zurückgeht? Diese Fragen an die Gruppendynamik in extremistischen Gruppen werden auf der Grundlage der Forschung über diese Gruppen und auch in der Extremismus-, Radikalisierungs- und Terrorismusforschung erörtert. Dabei wird deutlich, dass für Gruppen die soziale Identifikation von Menschen und die Herstellung einer Gruppenidentität besonders wichtig sind. Rollen, Normen, Werte und die Herstellung von Beziehungen, Netzwerken und Kommunikationsstrukturen werden in extremistischen Gruppen so geregelt, dass der Zusammenhalt eng ist. Die Abgrenzung und der Kampf gegen ‚Feinde‘ sind dabei ein ebenso wichtiger Bestandteil der extremistischen Gruppe, wie die Verpflichtung auf die Gruppenidentität. Auch wenn es einige Forschungsdefizite und noch erstaunlich wenig Wissen über Gruppenprozesse und -dynamiken in extremistischen Gruppen gibt, können aus der Forschung einige Ideen für die Prävention und Intervention abgeleitet werden.

Extremismus als Gruppenphänomen

Im Jahr 2016 hat eine Gruppe von jungen, zum großen Teil minderjährigen, männlichen, deutschen Jugendlichen einen jihadistischen Terroranschlag verübt, nachdem die Gruppe vier Monate vorher einen WhatsApp-Chat gegründet hatte. Die Gruppe radikalisierte sich bis zum Anschlag also in rasender Geschwindigkeit.1)

Es handelte sich um eine moderne, eben digitale WhatsApp-Gruppe, die eine erstaunlich intensive Gruppendynamik entwickelte. Schon der Gründungsmythos mit dem Eröffnen der Gruppe setzt auf die spätere Radikalisierung und er beginnt mit der „ersten großen Ansprache“, so steht es im ersten Tweet des selbst ernannten Anführers, des „Amirs“ und der Festlegung des Namens der Gruppe: Ansaar Al Khilafat Al Islamiyya. Zu dieser Gruppe gehörten Jugendliche, die sich an die Ordnung des „Amirs“, zu halten hatten. Die Ordnung war strikt, die Mitglieder wurden von dem „Amir“ und einem engen Kreis an Gefolgsleuten äußerst autoritär und intelligent geführt. Je nach den individuellen Motiven und Bedürfnissen wurden die einzelnen Mitglieder bestärkt oder sanktioniert. Die Gruppe verhandelte die Beziehungen zu anderen Gruppen, den Eltern, dem Islam und den Moscheegemeinen, Identitäten sowie Wunschbilder und religiöse Fragen. Sie entwickelte dabei immer stärker eine sehr eigene, ideologisch enge, fragmentarische und sehr unislamische Ideologie. Es war ein Lego-Islam, der sich aus Spekulationen, Fragmenten von durch Terroristen vorgetragenen Predigten sowie Koranversen so zusammensetzte, dass er zu einem überbordenden Bild der Gruppe als Kämpfer für das Kalifat erschien. Die Gruppe gab sich eigene Regeln, wie beispielsweise ein eigenes System der Aufnahme und des Ausschlusses von Mitgliedern. Sie verhandelte Alltagsprobleme und Entwicklungsaufgaben, die für junge Menschen normal sind. Ohne eine autoritäre, hierarchische, aber auch von den Mitgliedern immer wieder selbst verpflichtete Unterordnung und ständige Kontrolle der Dynamik der Gruppe, wäre die Radikalisierung, die am Ende zu einem Attentat durch zwei Gruppenmitglieder führte, kaum zu verstehen. Hier handelte eine Gruppe, keine Ansammlung von Individuen. Es handelte keine terroristische Organisation, sondern eine selbst ernannte Kleingruppe,

die sich auf eine größere Organisation (den IS) berief. Die eigene Ideologie und Identität der Gruppe als IS-Kämpfer, ihre Vision, Mujaheddin und Mitglieder in einem idealisierten Kalifat zu werden, ihr Austausch von Feindbildern und Misstrauen selbst gegen die Eltern, Moscheegemeinden und andere extremistische Gruppen waren entscheidend für die Taten Einzelner. Auch wenn das alles weitgehend digital in einem Chat verlief und verhandelt wurde sowie durch reale Treffen einiger Jugendlicher, die vorher ebenfalls digital verabredet wurden.

Ganz ähnliche Beispiele ließen sich in anderen bekannten Terrorgruppen finden, seien sie nun digital oder analog. Die enge und autoritäre Gruppendynamik der linksextremistischen Terrorgruppe Rote-Armee-Fraktion (RAF), die mit ihren Terroranschlägen die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1970er-Jahre prägte, wies ähnliche enge und autoritäre Strukturen und Gruppendynamiken auf.2) Vor kurzem wurde der Prozess gegen die rechtsextremistische Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) abgeurteilt, die im Kern aus einer Terrorzelle bestand, welche in ein Unterstützungsnetzwerk eingebettet war.3)

Dieser historische Prozess, der von Mai 2013 bis Juli 2018 viele Details aufgearbeitet hat, zeichnet ebenso das Bild einer engen und gut organisierten Gruppendynamik nach, die es ermöglichte, zehn Morde, Raubüberfalle und Propagandadelikte durchzuführen.4)

Das Terrortrio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt hatte seine eigene Koordinationsstruktur und Gruppendynamik, und sie waren fähig, auf ein gut organisiertes Unterstützungsumfeld zurückzugreifen. Dass aktuell immer mehr Kleingruppen bzw. Terrorzellen im Spektrum des Rechtsextremismus erscheinen, folgt einer Tradition, die sich schon zu Beginn des NSU ankündigte.

Die drei Beispiele aus unterschiedlichen Zeiten und von ideologisch vollkommen unterschiedlichen Terrorgruppen machen deutlich, wie relevant ein Verständnis von Gruppendynamiken für das Verständnis der Radikalisierung, des Extremismus, aber auch für die Erkennung, Analyse, Prävention und Intervention ist. Extremismus und Terror gehen von sozialen Gruppen aus, und Radikalisierungsprozesse erfolgen in Gruppen. Mit dieser einfach anmutenden Annahme ist der folgende Beitrag geschrieben. Es geht darin um extremistische Gruppen, also Ansammlungen von Menschen, die kooperieren und koordinierte Aktivitäten unternehmen, die direkt, analog oder digital kommunizieren und interagieren, extremistische Ideologien und Ziele teilen und im extremsten Falle eine extremistische Tat begehen. Diese Gruppen sind organisiert und in Organisationen eingebettet. Es soll dabei jedoch weniger um Organisationen und ihre Strukturen gehen, die in Kapitel 2 bzw. den Modulen 2.1 bis 2.4 erörtert werden. Es geht um einen interdisziplinären Blick auf Dynamiken zwischen Gruppenmitgliedern, also den Individuen in der Beziehung zu ihrer sozialen Umwelt. Das Kapitel knüpft dabei an Modul 3.1 auf der gesellschaftlichen Ebene an und ergänzt Modul 3.3., welches die individuelle Ebene vertieft, wie auch Modul 3.4, welches Dynamiken und Einflüsse der digitalen Welt und digitaler Radikalisierungen erörtert.

Gruppen lassen sich nicht ohne ihre gesellschaftliche Umwelt verstehen. Der folgende Blick auf die Dynamik von und in extremistischen Gruppen blendet zunächst Umwelteinflüsse auf Gruppen und damit ihre Einbettung in historische, kulturelle, strukturelle und soziale Umstände aus. Selbstverständlich spielen diese eine Rolle. Extremistische Gruppen entstehen vor allem in gesellschaftlichen Krisen- und Konfliktlagen. Extremismus und Terror entstehen und verankern sich leichter in Regionen mit massiver sozialer Ungleichheit. Die oben genannten Terrorgruppen reagierten auf die historischen und gesellschaftlichen Umstände und innergesellschaftlichen Konflikte. Es ist wichtig, diese zu kennen. Extremistische Gruppen sind ebenso in Unterstützungsnetzwerke eingebunden und bilden Milieus, die zur Erklärung ihrer Entstehung und Wirkung zwingend zu beachten sind.5)

Diese Einflüsse werden im Folgenden allerdings zurückhaltender diskutiert, um den Blick enger auf die Gruppen richten zu können. Dies umso mehr, als in vielen Analysen des Extremismus die These geteilt wird, dass Gruppen und Gruppendynamiken eine entscheidende Rolle, wenn nicht sogar „die“ entscheidende Rolle bei der Radikalisierung von Menschen in den Extremismus, aber auch bei der Frage der Deradikalisierung oder Entbindung aus dem Extremismus haben. Dieses ist ganz aktuell angesichts der Beobachtungen des modernen Extremismus. So zeigen gegenwärtige Analysen des Rechtsextremismus, Linksextremismus, aber auch des islamistischen und v. a. neo-salafistischen Extremismus, dass eng vernetzte Kleingruppen eine hohe Bindungskraft entfalten und bei allen globalen Terrorbewegungen die Organisation in diesen Kleingruppen angestiegen ist.

Anders als Beiträge zur Extremismus- und Terrorismusforschung, die in weiten Teilen eher den Blick auf spezifische Organisationen und Organisationsformen richten, fragt der vorliegende Beitrag zunächst, welche Regeln und Prozesse wesentlich sind bei der Aufnahme von Mitgliedern in extremistische Gruppen. Und weiter: Welche Gruppenprozesse und -strukturen sind wesentlich für das Verständnis des Extremismus? Welche Dynamiken in Gruppen erzeugen Radikalisierungen in die Gewalt? Welche Dynamiken in Gruppen prägen den Zusammenhalt, welche lassen ihn schwinden? Welche Bedeutung haben andere Gruppen, welche Bedeutung haben „Feinde“ von extremistischen Gruppen? Die intergruppale Dynamik, also die Auseinandersetzung von Gruppen mit anderen Gruppen, die als Fremdgruppen (Outgroups) wahrgenommen werden, spielt eine wesentliche Rolle, wie schon in Modul 3.1 ausgeführt wurde. Einerseits berührt sie die Frage nach der Wechselwirkung von Gruppen mit ihrem sozialen Kontext. Die gesellschaftliche Umwelt von Gruppen kann extremistische Gruppen erzeugen, radikalisieren und auch auflösen. Sie fragt aber auch, warum Individuen, die wenig oder gar nicht extremistisch organisiert sind, sich in der Gruppe verändern und zu Menschen werden, die sich dem Extremismus unterwerfen.

Der Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Kapitels ist also die extremistische Gruppe, ihre Merkmale, Dynamik und Prozesse in und zwischen Gruppen. Der Artikel beruft sich auf die Erkenntnisse der sozialpsychologischen Gruppenperspektive und erklärt, wie es zu Gruppenprozessen in extremistischen Gruppen kommen kann.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen