Bühne des Kapitels / Moduls
Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus
3.3 Prozesse der Radikalisierung
Inhalt des Kapitels / Moduls
Einleitung: Zur Bedeutung der handelnden Person
Wenn von Radikalisierungsprozessen oder von Extremismus und Terrorismus die Rede ist, stehen die handelnden Personen häufig stärker im Fokus öffentlicher Debatten als andere phänomenbedingende Faktoren der Meso- oder Makroebene (siehe Kap. 1). Dabei wird den Motiven und Beweggründen des Individuums bzw. der Täterin oder des Täters meist eine überproportional bedeutende Rolle zugeschrieben und es wird nicht selten der Eindruck erweckt, dass individuelle Motivlagen, wie z. B. Identitätskrisen oder die Suche nach Sinn und Bedeutung, die zentralen Ursachen von Extremismus und Terrorismus sind. Des Weiteren werden individuumsbezogene Faktoren in der Öffentlichkeit auch häufig als wichtige Stellschrauben bei der Eindämmung von Extremismus und Terrorismus angesehen. Gerade wenn es um die Prävention geht, sind die bekannten Ansätze fast ausschließlich personenbezogen: Präventions- oder Deradikalisierungsmaßnahmen zielen zumeist mittelbar oder unmittelbar auf die einzelne Person ab (siehe Kap. 7) und verstehen sich zugleich nicht selten als wichtiger Bestandteil einer Extremismus- und Terrorismusbekämpfungsstrategie.
Die Faktoren, die Extremismus und Terrorismus bedingen, sind allerdings vielfältiger (siehe Kap. 1 und 3.1). Die Personenebene ist nur eine von vielen, und vieles spricht dafür, dass sie nicht einmal die Bedeutendste ist. Lässt man allerdings die Forschungslage zu diesem Thema Revue passieren, so findet man eine große Zahl von Studien und Publikationen, die überwiegend die Einflussgröße „Person“ als Gegenstand aufweisen und sich beispielsweise mit biografischen Aspekten von Terroristinnen und Terroristen beschäftigen, wie z. B. die Arbeiten von Marc Sageman, Edwin Bakker und Paul Gill. Die psychologische Sicht auf das Phänomen scheint dabei stark ausgeprägt, Erklärungsansätze der Politikwissenschaften oder Konfliktforschung hingegen kaum populär.
Besonders nach terroristischen Anschlägen beschäftigen Fragen nach den Beweggründen, Motiven und Persönlichkeiten der Täterinnen und Täter die Öffentlichkeit und es wird zumeist nach Erklärungen in ihren Biografen, ihrer psychischen Verfassung oder ihren persönlichen Erfahrungen gesucht. Auch wenn sich die Wissenschaft darüber einig ist, dass psychopathologische Störungen bei Terroristinnen und Terroristen, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielen, liegt es zunächst immer nahe, eine Erklärung für solche Straftaten in möglichen Persönlichkeitsstörungen, Identitätskrisen, Diskriminierungserfahrungen oder traumatischen Erlebnissen zu suchen. Unser gesunder Menschenverstand erschwert es uns offenbar, in terroristischen Akteurinnen und Akteuren durchschnittliche, psychisch gesunde Menschen zu sehen und es gehört scheinbar zur moralischen Abwertung ihrer Taten (als kriminell, barbarisch, feige und hinterlistig), ihnen die „Normalität“ abzusprechen.
Warum wird dem Faktor „Person“ im Vergleich zu den anderen Größen in der Öffentlichkeit und in Teilen der Wissenschaft eine größere Aufmerksamkeit geschenkt? Möglicherweise ist es die Tatsache, dass konkrete Personen, deren Biografie und deren Persönlichkeit vermeintlich fassbarer und verständlicher sind als undurchsichtige politische Konflikte oder komplexe Organisationszusammenhänge. Die einseitige Fokussierung auf die handelnden Personen bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Faktoren der weiteren Systemebenen (Mikro, Meso, Makro. siehe Kap. 1) kann auf jeden Fall zu einer verzerrten Sicht führen. Des Weiteren stammt ein Großteil der Erkenntnisse über die Einflussgröße „Person“ aus einer Biografieforschung, die sich ausschließlich mit einem kleinen Ausschnitt von terroristischen Akteurinnen und Akteuren beschäftigte, nämlich Individuen,
die Attentate verübt oder versucht haben. Diese Gruppe stellt bekanntlich lediglich die Spitze des Eisberges dar, denn das Engagement von Personen im Terrorismus geschieht im Rahmen einer Vielzahl von Rollen (z. B. in den Bereichen der Unterstützung, Ausbildung, Rekrutierung und Ideologie), die seltener im Fokus der Biografieforschung stehen.
Eine weitere Verzerrungsquelle stellt die Begriffsproblematik dar, die nur sehr ungenau zwischen „Radikalität“, „Extremismus“ und „Terrorismus“ unterscheidet. Die Vorstellung, dass es sich hierbei um unterschiedliche Stufen desselben handelt, ist nicht nur bei Laien stark verbreitet. In der Präventionspraxis wird beispielsweise zu oft unter „Radikalisierungsprävention“, „Extremismusprävention“ und „Deradikalisierung“ bzw. Ausstiegshilfe alles Mögliche zusammengefasst. In der Annahme, dass Radikalität zwangsläufig eine Vorstufe von Extremismus und Terrorismus ist, werden viele Präventionsmaßnahmen als Extremismus- bzw.Terrorismus-Prävention vermarktet, frei nach dem Motto: „Hätten wir in diesem Frühstadium nichts unternommen, dann wäre aus der Person mit Sicherheit später eine Terroristin oder ein Terrorist geworden.“ Zwar gibt es zwischen „Radikalität“, „Extremismus“ und „Terrorismus“ Schnittstellen und Übergänge, die Abgrenzungen zwischen diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen, die vor allem auf der Ebene der „Person“ wichtig erscheinen, werden allerdings allzu oft nicht ausreichend beachtet.
Der vorliegende Beitrag soll sich mit der Einflussgröße „Person“ beschäftigen – wohlwissend, dass das Phänomen der extremistischen Radikalisierung nur multidimensional zu verstehen ist. Weitere relevante Faktoren auf der Mikro-, Meso- und Makroebene (siehe Kap. 1) werden in den anderen Beiträgen dieses Kapitels behandelt. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, aus der Perspektive des handelnden Individuums die vielfältigen Wege hin zur politischen Gewalt aufzuzeigen und auf viele Missverständnisse hinzuweisen, die vor allem dem Praktizierenden ein ganzheitliches Verständnis von relevanten Radikalisierungsprozessen erschweren.
Radikalisierungsprozesse auf der Ebene des Individuums – unterschiedliche Erscheinungsformen
Obwohl Radikalisierungsprozesse nicht ohne Miteinbeziehung der anderen Analyseebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) ganzheitlich verstanden werden können (siehe Kap. 1), soll im Folgenden der Schwerpunkt auf individuelle Pfade, Motive sowie mögliche Push- und Pull-Faktoren gelegt werden, die den Radikalisierungsprozess bedingen.
Eine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Phänomenen (Rechtsextremismus, Linksextremismus, islamistischer Extremismus) wird in diesem Beitrag nicht vorgenommen, da die psychologischen und sozialen Prozesse der Radikalisierung sich stets ähnlich verhalten. Wichtiger scheint stattdessen die Unterscheidung zwischen verschiedenen Erscheinungsformen von Radikalität, Extremismus und Terrorismus. Diese können zwar Schnittstellen und Übergänge aufweisen, sich aber auch sehr deutlich voneinander abgrenzen. Vor allem, wenn es um die Extremismusprävention geht, also wenn Individuen Gegenstand von Präventionsbemühungen sind, ist eine präzise Einordnung dieser innerhalb des breiten Spektrums vielfältiger Erscheinungsformen des politischen Aktionismus für eine gesicherte Diagnose unverzichtbar. Personen können Träger radikaler oder extremistischer Einstellungen sein. Sie können entsprechend solcher Einstellungen gewaltfrei oder gewaltbereit handeln. Diese Handlungen können spontan, geplant oder gar im Rahmen einer systematischen Gewaltstrategie erfolgen. Die Wege bis hin zur Verfestigung radikaler oder extremistischer Einstellungen, die Pfade, die zu einem Engagement im Rahmen von Protestbewegungen, im Extremismus oder gar im Terrorismus führen, werden als Radikalisierungsprozesse beschrieben.
Je nachdem, ob die zugrunde liegenden Einstellungen und Ideologien – ebenso in der Folge die verfolgten Ziele – radikal oder extremistisch sind und ob Gewalt bei den Handlungen eine Rolle spielt, können Radikalisierungsprozesse zu unterschiedlichen Erscheinungsformen führen. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Begrifflichkeiten ist nicht Gegenstand dieses Beitrages. Trotzdem scheint es sinnvoll, mögliche Zustände bzw. Prozessphasen zu beschreiben, in denen sich ein Individuum befinden kann, wenn es einer Zielgruppe der Extremismusprävention zugeordnet wird:
- Individuen können Träger radikaler oder extremistischer Einstellungen sein (zur Unterscheidung zwischen Radikalismus und Extremismus siehe Kap. 1).
- Individuen können entsprechend radikaler Einstellungen bzw. radikaler politischer Meinungen handeln (politischer Protest).
- Individuen können sich sogenannten extremistischen Organisationen anschließen, die gewaltfrei eine Systemüberwindungsstrategie verfolgen (extremistische Bestrebungen) oder diese unterstützen. Somit werden sie Teil des sogenannten Personenpotenzials eines organisierten Extremismus.
- Individuen können entsprechend radikaler Einstellungen oder radikaler politischer Meinungen überwiegend unsystematisch Gewalt ausüben – häufig im Rahmen von Demonstrationsgeschehen (Eskalationsgewalt).
- Individuen können entsprechend extremistischer Einstellungen bzw. politischer Meinungen überwiegend unsystematisch Gewalt ausüben (extremistische Gewalt).
- Individuen können Gewalt als bewusste Strategie zur Erreichung politischer Ziele systematisch einsetzen oder solch eine Strategie unterstützen (Terrorismus).
Obwohl die erwähnten Erscheinungsformen sehr oft als zusammenhängend dargestellt werden (Radikalität führt in den Extremismus und dieser liegt nicht weit weg vom Terrorismus), fällt bei einer Betrachtung aus der Analyseebene des Individuums auf, dass diese auch als eigenständige Bereiche betrachtet werden können. Eine Person, die sich in einer extremistischen Organisation engagiert, kann hinsichtlich der Motive, des Werdegangs und der Handlungen eindeutig von einer anderen unterschieden werden, die sich terroristisch betätigt. Auch wenn die Zielrichtungen eines extremistischen Islamismus und die Ziele entsprechender terroristischer Organisationen – um ein Beispiel zu nennen – zum Teil deckungsgleich scheinen, kann ein Engagement im Extremismus auf der Personenebene zu einer Abgrenzung vom Terror führen. Dies liegt daran, dass illegale Handlungen von Mitgliedern extremistischer Organisationen oder verdächtige Verbindungen zu Terroristinnen und Terroristen staatliche Repressalien wie z. B. Organisationsverbote nach sich ziehen und somit für die Organisation schädlich sind. Um es kurz zusammenzufassen: Extremismus und Terrorismus können sich häufig langfristige Ziele, Ideologie und Sympathisantenmilieus teilen, aber nur selten die handelnden Personen.
Auf der Analyseebene der Person und mit Blick auf die Anforderungen einer zielgruppenorientierten Extremismusprävention scheint eine klarere Differenzierung zwischen Radikalität, Extremismus und Terrorismus erforderlich.
Vieles spricht dafür, dass wir hierbei von ganz unterschiedlichen Prozessen ausgehen sollten, die zwar gelegentlich ineinandergreifen können, sehr oft aber einander entgegengesetzt scheinen. Abbildung 1 stellt anhand eines zweidimensionalen Modells mögliche Erscheinungsformen dar. Die erste Dimension unterscheidet danach, ob Einstellungen oder Verhaltensweisen im Fokus der Betrachtung stehen. Die zweite Dimension unterscheidet nach Gewaltbereitschaft bzw. Gewaltfreiheit. Die Unterscheidung zwischen dem, was als „radikal“ und als „extremistisch“ gilt, erfolgt gemäß eines auf der freiheitlich demokratischen Grundordnung fußenden Definitionsverständnisses. Als Radikalisierungsprozesse, denen es vorzubeugen gilt, werden solche angesehen, die zu der Verfestigung extremistischer Einstellungen, zu der Ausübung von Gewalt und zu einem Engagement in Extremismus oder Terrorismus führen.
Das alltägliche, weit verbreitete Verständnis von Radikalisierungs-prozessen sieht diese meist als eine Abfolge von Phasen, die damit beginnt, dass ein Individuum einer radikalen Ideologie ausgesetzt ist und dieses mit der Ausübung von Gewalt endet. Vor allem in den 2000er-Jahren hat sich in der Öffentlichkeit und zum Teil auch in den Sicherheitskreisen ein Verständnis von Radikalisierung etabliert, das diese zunehmend als Vorstufe von Gefährdung sieht, die potenziell zum Terrorismus führen kann. Die Anschläge vom 11.09.2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika sowie weitere, die sich in den folgenden Jahren ereigneten, führten den Nachrichtendiensten in der westlichen Welt vor Augen, dass eine alleinige Fokussierung auf bereits bekannte Terroristinnen und Terroristen bzw. terroristische Milieus nicht ausreichend ist, um Anschläge rechtzeitig zu verhindern.
Viele der in diese Anschläge verwickelten Personen waren den Sicherheitsbehörden nicht bekannt oder wurden erst kurz vor der Tat zu Terroristinnen oder Terroristen. So weitete sich der Fokus der Nachrichtendienste auf ein angenommenes Vorfeld des Terrorismus aus, um etwaige Entwicklungen in Richtung Terrorismus früh entdecken und so Anschläge verhindern zu können. Es folgte eine quasi Versicherheitlichung des Radikalisierungsbegriffes. Getrieben durch die Angst, Klassifikationsfehler im Sinne von „falsche negative“ zu begehen (Gefährlichkeit wird übersehen), sollten Fehler im Sinne von „falsche positive“ (Ungefährlichkeit wird fälschlicherweise als Gefährlichkeit bewertet) in Kauf genommen werden, um die Wahrscheinlichkeit der frühzeitigen Entdeckung von Gefährdungen zu erhöhen.
In Zusammenhang mit dieser seinerzeit neuen Perspektive fällt ein vielzitierter Bericht der New Yorker Polizei mit dem Titel „Radicalization in the West“ auf. Er beschreibt vier Phasen, die aufzeigen, wie Radikalisierungsprozesse von muslimischen Personen zur Gewalt führen (Pre-Radicalization, Self-Identifcation, Indoctrination und Jihadization).
Solche Modelle, die mittlerweile in der Forschung als sehr vereinfachend gelten, prägen noch immer das allgemeine Verständnis von Radikalisierung.
Kritiker dieser Studie – und im Allgemeinen dieses Ansatzes – weisen darauf hin, dass bei der überwiegenden Mehrheit von Menschen, die radikale oder extremistische Einstellungen in einer bestimmten Lebensphase entwickeln, keine weitere Entwicklung in Richtung Gewalt zu erkennen ist. Im Gegenzug sind Personen, die sich im Terrorismus engagieren, nicht notwendigerweise immer Trägerin oder Träger einer radikalen oder extremistischen Ideologie, zumindest nicht zum Zeitpunkt ihres Anschlusses an die entsprechende Gruppierung.
John Horgan, einer der renommiertesten Terrorismusforscher, hält sogar die Vorstellung, dass radikale bzw. extreme Einstellungen Terrorismus verursachen, für den vermutlich größten Mythos der heutigen Terrorismusforschung.1) Wenn es um die handelnde Person geht, wiegt die mangelnde Differenziertheit zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen schwer, da der Blick auf die Prozesse dadurch stärker verzerrt wird, als es z. B. bei einer Makrobetrachtung der Fall ist. Statt eine Linearität von Radikalisierungsstufen anzunehmen, deren Pfade von der Entwicklung radikaler Einstellungen bis hin zum Engagement im Extremismus und Terrorismus quasi sequenziell verlaufen, sollte von unterschiedlichen Prozessen ausgegangen werden.
Geradlinige Entwicklungen kommen offenbar in der Realität seltener vor, als das allgemeine Verständnis es nahelegen will. Die Wege in den Extremismus und Terrorismus scheinen vielfältig und in einem hohen Maße individuell.Sie folgen keinen einfachen, standardisierten Bahnen und sind anhand von allein psychologischen und mikrosozialen Radikalisierungsindikatoren kaum zuverlässig vorherzusagen.
Für die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung zwischen einer Einstellungsebene auf der einen Seite und einer Verhaltensebene (extremistische Gewalt, organisierter Extremismus und Terrorismus) auf der anderen sprechen darüber hinaus einige Beobachtungen, die die Analyseebene der Person ins Blickfeld nehmen.
Das Vorliegen extremistischer Einstellungen bei Individuen scheint quantitativ ein sehr verbreitetes Phänomen zu sein, das schätzungsweise einen niedrigen zweistelligen Prozentanteil der Bevölkerung ausmacht. Hingegen wird die Anzahl von Personen, die extremistische Straftaten begehen (politisch motivierte Kriminalität) und solchen, die im organisierten Extremismus engagiert sind (extremistisches Personenpotenzial), in Deutschland im niedrigen fünfstelligen Bereich angesiedelt.
Die Zahl der im Terrorismus engagierten Personen ist noch deutlich geringer und bewegt sich selbst nach der starken Reisewelle zum sogenannten „Islamischen Staat“ im sehr niedrigen vierstelligen Bereich (Anzahl der Gefährderinnen und Gefährder). Im Folgenden wird aus der Analyseebene der Person auf die Unterschiede zwischen extremistischen Einstellungen, extremistischer Gewalt sowie organisiertem Extremismus und Terrorismus eingegangen.
Extremistische Einstellungen
Extremismus auf der Einstellungsebene spielt sich überwiegend im Bereich der Gedanken und Meinungen ab, deren Freiheit in demokratischen Gesellschaften einen hohen Schutz genießt. Er drückt sich beim Individuum in Einstellungen und Überzeugungen aus, die schwer zu erfassen und zu ermitteln sind. Manifestieren sich solche Einstellungen nicht im Verhalten, bleiben sie in der Regel eine private Angelegenheit der einzelnen Person. Extremistische Einstellungen und Ideologien sind in der Regel durch eine vereinfachende, reduktionistische und dualistische Denkweise charakterisiert („Wir gegen Die“, Verfolger/Unterdrückte, richtig/falsch), die Angst vor einer Gefahr schürt. Extremistische Sichtweisen sind nicht empfänglich für multiple Perspektiven und nicht fähig, solche zu integrieren. Es handelt sich dabei um eine geistige Haltung, die zu Konflikten und Gewalt führen kann.2) Zahlreiche Studien zeigen, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung in Deutschland extremistische Einstellungen aufweist. Eine aktuelle Untersuchung der Universität Leipzig, die sich mit der Verbreitung rechtsextremer Einstellungen befasst, kommt zu dem Ergebnis, dass ihre Zahl seit Jahren in Deutschland stabil ist.
Dies zeigen beispielhaft die Erhebungen aus den Jahren 2016 und 2018. So sei in der Bevölkerung die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur bei 5 % der Bevölkerung in 2016 und 3,6 % in 2018 ausgeprägt, Chauvinismus bei 16,7 % in 2016 und 19 % in 2018, Ausländerfeindlichkeit bei 20,4 % in 2016 und 24,1 % in 2018, Antisemitismus bei 4,8 % in 2016 und 4,4 % in 2018, Sozialdarwinismus bei 3,4 % in 2016 und 3,2 % in 2018 sowie Verharmlosung des Nationalsozialismus bei 2,1 % in 2016 und 2,7 % in 2018.5) 6)
In einer Untersuchung der Einstellungen von Musliminnen und Muslimen in Deutschland fand ein Forschungsteam der Universität Jena heraus, dass 15 % davon einer Gruppe angehören, die von den Autoren als „streng religiös mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzielle Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenz“ bezeichnet wird.7) Diese und zahlreiche ähnliche Befunde zeigen, dass die Zahl der Personen mit entsprechenden extremistischen Einstellungen in einer Gesellschaft sehr hoch ist, was die Brauchbarkeit dieses Kriteriums zur Vorhersage von Terrorismus und politisch motivierter Kriminalität sehr stark infrage stellt. Es zeigt sich, dass extremistische Einstellungen sehr selten zum Extremismus, zur politisch motivierten Gewalt und zum Terrorismus führen.
Extremistische Straftaten, organisierter Extremismus
Folgen auf extremistische Einstellungen entsprechende Handlungen, kann von extremistischen Straftaten oder von einem organisierten Extremismus gesprochen werden. Extremistische Einstellungen können zu Straftaten motivieren, die von Propagandadelikten bis hin zu schwersten Gewalttaten reichen. In Deutschland werden jährlich tausende politisch motivierte Straftaten registriert, die von einer extremistischen Ideologie motiviert sind.
Ein Engagement im Extremismus kann aber auch gewaltfrei erfolgen, z. B. im Rahmen einer Strategie, die sich nur aus Opportunismus von Gewalt distanziert und stattdessen einer legalistischen Herangehensweise folgt. Solch ein Engagement setzt in der Regel eine Zugehörigkeit zu einer Organisation bzw. einen Anschluss an eine Gruppe voraus, die über einen Plan oder eine Absicht zur Überwindung eines politischen bzw. gesellschaftlichen Systems verfügt und Strukturen zur Kanalisierung einer Ideologie bereitstellt. Im Gegensatz zum Extremismus auf einer reinen Einstellungsebene und von einer extremistischen Gewalt, die keiner systematischen Strategie folgt, ist ein organisierter Extremismus letzten Endes auf ein Mindestmaß an Organisation angewiesen, welche die Zusammenarbeit mehrerer Individuen im Hinblick auf die Erreichung gemeinsamer Ziele strukturiert. Hierbei bilden eine extremistische Einstellung bzw. eine extremistische Ideologie das ideelle Gerüst für eine in der Regel zumindest nach außen hin proklamierte gewaltfreie Strategie, die auf eine Veränderung der politischen oder gesellschaftlichen Ordnung durch Mobilisierung abzielt. Diese Form von Extremismus kennzeichnet die Bestrebung, das herrschende politische oder gesellschaftliche System mit gewaltfreien, scheinbar systemkonformen Mitteln zu überwinden und zu stürzen.
Über Straftaten hinaus, die eine extremistische Motivation aufweisen, wird Extremismus auch dann zum Gegenstand sicherheitsbehördlicher Aufmerksamkeit, wenn solche Ideologien durch Organisationen als ideelles Gerüst für entsprechende Handlungen instrumentalisiert werden. Die Verfassungsschutzbehörden in Deutschland verwenden hierbei den Begriff der „extremistischen Bestrebungen“. Diese liegen dann vor, wenn sich ideologisch begründete Verhaltensweisen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand bzw. die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. Die Definitionskriterien für Extremismus orientieren sich dabei an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und sind im (Bundes-)Verfassungsschutzgesetz ausdrücklich erwähnt.8)
Liegt z. B. der Verdacht vor, dass die proklamierte und propagierte Ideologie einer Gruppierung nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar ist, so wird diese Gruppierung von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet. Allerdings reicht eine solche Ideologie allein nicht aus, um eine Organisation zu verbieten. Die Bestrebungen müssen schon eine reale Gefährdung für die Grundpfeiler der Demokratie und der freien rechtsstaatlichen Gesellschaft darstellen, d. h. es muss die tatsächliche Gefahr eines Systemsturzes bestehen. Das Bundesverfassungsgericht erkannte zum Beispiel, dass die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) verfassungsfeindlich gesinnt und mit dem Nationalsozialismus wesensverwandt ist, wies allerdings den Verotsantrag der Länderkammer ab, weil die NPD nicht in der Lage ist, die Demokratie in Deutschland zu beseitigen.
Zurückkommend auf die Perspektive der Analyseebene „Person“ kann der Personenkreis in der Kategorie „Extremismus“ wie folgt beschrieben werden: Es handelt sich um Personen, die aus einer extremistischen Motivation Straftaten verüben (PMK-Straftäter) sowie um Personen, die sich extremistischen Organisationen anschließen oder diese unterstützen (Personenpotenzial extremistischer Organisationen).
Terrorismus
Extremistische Organisationen verfolgen oft ähnliche Ziele, erstere wollen diese aber mit Gewalt durchsetzen. Terrorismus ist also eine Gewaltstrategie, die bewusst zur Erreichung politischer Ziele angewandt wird. Über das, was man Terrorismus nennt, gibt es international keine Übereinstimmung, weil über die Legitimität der politischen Forderungen von solchen Organisationen keine Einigkeit besteht. So kommt es vor, dass Akteurinnen und Akteure von einigen als Terroristinnen oder Terroristen und von anderen als Freiheitskämpferinnen und -kämpfer angesehen werden.
Terroristische Aktivitäten von Individuen beschränken sich aber nicht allein auf die Anwendung von Gewalt. Ein Großteil der wegen terroristischer Straftaten verurteilten Täterinnen und Täter hat Unterstützungshandlungen vollzogen oder solche versucht. Eine alleinige Fokussierung auf die ausführenden Personen terroristischer Anschläge führt zwangsläufig zu einer Unterschätzung des Phänomens. Eine Analyse terroristischer Straftäterinnen und -täter mit Bezug zur Al-Qaida in den USA hat beispielsweise folgende unterschiedliche Rollen identifiziert:9)
- Aktive Beteiligte/Aktiver Beteiligter: Person, die tatsächlich Terrorattacken begangen oder versucht hat.
- Anwärterin/Anwärter: Person, die Interesse an einer Mitwirkung bekundet hat, aber nicht über erforderliche Planung und Fähigkeiten verfügte.
- Unterstützerin/Unterstützer: Person, die bei der Vorbereitung von Angriffen durch Finanzierung oder Bereitstellung von Tatmitteln mitwirkte.
- Ausgebildete Anwärterin/ausgebildeter Anwärter: Person, die eine Ausbildung in einem terroristischen Ausbildungslager absolvierte, allerdings über keine konkreten Pläne für einen Angriff verfügte.
- Ideologin/Ideologe: Person, die andere ermutigte und aufsetzte.
Bemerkenswert ist bei dieser Auflistung, dass sowohl die „Anwärterin“/der „Anwärter“ als auch die „Ideologin“/der „Ideologe“ nicht operativ aktiv sind und in der Regel selten Handlungen ausüben, die eine Handhabe zur Strafverfolgung ermöglichen.
Werden terroristische Organisationen in den Ländern betrachtet, wo sie beheimatet sind, so können zahlreiche weitere Funktionen bzw. Rollen festgestellt werden, die zum Beispiel im Zusammenhang mit der Führung und Logistik stehen. Wenn solche Organisationen ein Territorium kontrollieren und verwalten (wie zum Beispiel der sogenannte Islamische Staat in Syrien und im Irak bis 2017), können selbst normale Verwaltungsaufgaben als Beteiligung am Terrorismus bewertet werden.
Darüber hinaus stellen Funktionen bzw. Rollen im Terrorismus keine gleichbleibende Größe dar. Es ist durchaus möglich, dass manche Individuen im Laufe ihres Engagements die Rollen wechseln und sich so in ihrer Gefährlichkeit verändern. Andere hingegen behalten ihre Rolle während der gesamten Zeit.
Die Vielfalt der Aufgaben und Rollen, die mit Terrorismus in Verbindung stehen und für den Fortbestand terroristischer Organisationen notwendig sind, zeigt vor allem, dass terroristische Attentäterinnen und Attentäter nur einen kleinen Ausschnitt des Personenkreises darstellen, der im Terrorismus aktiv ist. Erkenntnisse aus Studien, die sich ausschließlich mit Attentätern beschäftigen, sind in ihrer Aussagekraft bezüglich weiterer terroristischer Akteure sehr eingeschränkt.
Wer ist anfällig für Extremismus und Terrorismus? – Risikofaktoren
Gibt es Personen mit einer überdurchschnittlichen Vulnerabilität für extremistische Radikalisierung? Die Frage nach den Risikofaktoren, also nach Eigenschaften einer Person, die zu einer höheren Anfälligkeit für extremistische Radikalisierung führen, beschäftigt die Forschung seit geraumer Zeit.
Extremistische oder terroristische Personen lassen sich aus allen sozialen Schichten der Gesellschaft rekrutieren und weisen demzufolge eine große Heterogenität hinsichtlich ihrer sozialen und ökonomischen Hintergründe auf. Gilt das auch für ihre Persönlichkeitsprofile?
Es ist bislang der Wissenschaft nicht gelungen, ein einheitliches Persönlichkeitsprofil „der Terroristin" oder „des Terroristen“ zu ermitteln. Vielmehr betonen zahlreiche Forscher (z. B. Crenshaw 1998),10) dass terroristische Personen keine abnormalen Individuen sind und keine überdurchschnittlichen Psychopathologien aufweisen. Im Gegenteil: Das gemeinsame Merkmal scheint ihre offenkundige Normalität zu sein. Für das Vorhandensein spezifischer psychisch abweichender Dispositionen für Extremismus und Terrorismus fehlen des Weiteren die erforderlichen empirischen Belege. Um solche Risikofaktoren nachweisen zu können, bedarf es einer gezielten psychologischen Diagnostik und demnach einer explorativen Beschäftigung mit den Personen, die weit über das Ausmaß hinausgeht, das z. B. nach einem Bekanntwerden von Terroristinnen und Terroristen praktisch machbar ist (um nachzuweisen, dass ein Faktor für eine extremistische Radikalisierung ursächlich ist, sollte dieser Faktor möglichst vor der Radikalisierung diagnostiziert werden. Andernfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass er ein Ergebnis dieser ist).
In der einschlägigen Literatur tauchen oft Persönlichkeitsmerkmale auf, die im Zusammenhang mit einer Vulnerabilität für extremistische Radikalisierung in Verbindung stehen (Narzissmus, Autoritarismus, mangelnde Frustrationstoleranz, negative Identität11) etc.). Solche Merkmale sind allerdings nicht nur für die extremistische Radikalisierung spezifisch. Sie werden auch bei größeren Personengruppen festgestellt, die sich nicht extremistisch radikalisieren. Überdies unterscheidet die Forschung durch die begrifflichen Unklarheiten bei der Auflistung von Risikofaktoren zumeist nicht ausreichend zwischen der Radikalisierung von Einstellungen und der Radikalisierung von Handlungen.
Wie oben bereits ausgeführt, werden diese gerne als ein kontinuierlicher Prozess verstanden. Dies ist aber problematisch, da sich die Anfälligkeitsfaktoren für die Entwicklung radikaler Einstellungen von jenen unterscheiden können, die letzten Endes die Ausübung von Gewalt wahrscheinlicher machen. Vor allem, wenn es um das Schreiten zur Tat geht, scheinen situative Faktoren ausschlaggebend (Tatgelegenheit, Gruppendynamik). Ungeachtet der angebrachten Skepsis, sollen im Folgenden die wichtigsten Risikofaktoren dargestellt werden, die in der wissenschaftlichen Literatur als für Radikalisierungsprozesse relevant erachtet werden.
Bei ihrer Beschäftigung mit der Frage, wie sich terroristische Personen von anderen unterscheiden, hat Louise Richardson12) in ihrer Forschung drei Eigenschaften identifiziert, die bei einer großen Zahl von ihnen festzustellen sind: Terroristinnen und Terroristen sehen demnach die Welt in einer vereinfachenden Schwarz-Weiß-Manier. Sie identifizieren sich stark mit anderen, die nach ihrer Wahrnehmung benachteiligt oder unterdrückt sind. Sie sind des Weiteren davon besessen, für direkt und/oder indirekt erlebtes Unrecht Rache zu üben.
Bereits in den 1970er-Jahren wurden zur Charakterisierung von Rechtsextremisten Merkmale identifiziert (Monismus, Simplizismus und Preservatismus), die eine Tendenz beschreiben, die Welt in vereinfachter Weise wahrzunehmen, sie in Gut und Böse zu teilen und vor Veränderungen bewahren zu wollen.
In einer Übersicht über Risiko- und Schutzfaktoren des Rechtsextremismus führt Beelmann14) neben gesellschaftlichen und sozialen Einflussfaktoren eine Reihe von individuellen Risikofaktoren auf: Extremistische Radikalisierung scheint vor allem ein Phänomen des späten Jugendalters und des frühen Erwachsenenalters zu sein. Dies ist eine Lebensphase, in der junge Menschen die heikle Entwicklungsaufgabe haben, eine stabile, selbstwertstabilisierende und von den Vorbildern der Kindheit (ihren Eltern oder Erziehenden) unabhängige Identität zu entwickeln.
Wird diese Entwicklungsaufgabe nicht gemeistert, kann ein fragiles oder problematisches Identitätskonzept entstehen, welches für Identifikationsangebote extremistischer Narrative anfällig ist. Dementsprechend basiert die Identität von radikalisierten Personen häufig in überhöhter Form auf unveränderbaren bzw. relativ starren Gruppenmerkmalen, wie etwa der Ethnie, Religion oder Nationalität, welche das zerbrechliche Identitätskonzept durch ihre vermeintliche Klarheit stützen. Die Identifikation mit extremistischen Narrativen fungiert als sinn- und bedeutungsstiftend. Im Extremfall kann dies zu einem Engagement im Terrorismus führen.
Des Weiteren führt Beelmann andere Risikofaktoren aus dem Bereich sozial-kognitiver Kompetenzen auf: Eine geringe Fähigkeit oder Bereitschaft zu Empathie und zur Perspektivübernahme erhöht demnach das Risiko der Radikalisierung. Dasselbe gilt für geringe kognitive Grundfertigkeiten und geringes Wissen, besonders bezüglich gesellschaftlicher oder politischer Fragen, Defizite in der Moralentwicklung und der moralischen Werteeinstellungen. Die Tendenz zur Verzerrung der Informationsverarbeitung (z. B. Attributionsfehler, fehlerhafte Wahrnehmung von Ungerechtigkeit), ein Bedrohungserleben (z. B. Ängste vor sozialem Abstieg) sowie eine Schwarz-Weiß-Weltsicht (die Menschen in „Freund“ und „Feind“ bzw. „gut“ und „böse“ unterteilt) begünstigt der Forschung zufolge eine erhöhte Radikalisierungsanfälligkeit und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele befürwortet wird.
Die sozialen Lernerfahrungen, die Menschen mit Mitgliedern fremder sozialer Gruppen machen, können aber das Risiko einer Radikalisierung verringern. Wenn solche Intergruppen-Erfahrungen fehlen oder schlimmstenfalls negativ ausfallen, können massive Vorurteile entstehen. Gleichzeitig können positive Kontakterfahrungen schützend gegen Radikalisierung wirken. Geringe soziale Kompetenz hat als allgemeiner Risikofaktor einen entscheidenden Einfluss auf die Auswirkung der sozialen Lernerfahrung. Sehr problematisch für das Radikalisierungsrisiko sind Kontakte zu verhaltensauffälligen oder extremistischen Peergruppen, ob real oder über digitale Medien. „Schlechter Umgang“ ist einerseits Folge von problematischen Startbedingungen, erhört anderseits das Risiko für Radikalisierung enorm.
Bezüglich der Rolle problematischer Persönlichkeitsmerkmale führt Beelmann auf, dass es einen Zusammenhang zwischen extremistischen Einstellungen und sozialer Dominanzorientierung und Autoritarismus gibt. Ebenso werden eher allgemeine Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten als Einflüsse aufgeführt: Impulsivität und die Suche nach einem „Kick“ (d. h. Sensation bzw. Thrill Seeking). Weiterhin geht Beelmann davon aus, dass eine erhöhte Ungerechtigkeitssensibilität, also eine erhöhte Aufmerksamkeit und Beschäftigung mit wahrgenommener Ungerechtigkeit gegenüber der sozialen Eigengruppe, als Risikofaktor gewertet werden kann, auch wenn diese These noch nicht ausreichend überprüft ist.
Diese und weitere in der Literatur vorzufindenden Risiko- sowie Schutzfaktoren sind allerdings im Zusammenhang mit Radikalisierung keinesfalls sichere Indikatoren für Anfälligkeit oder Resilienz. Die Risikofaktoren werden zwar immer wieder bei radikalisierten Personen beobachtet, stellen allerdings keine spezifischen Merkmale der Radikalisierung dar. Das Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren genießt allerdings in der Praxis eine große Akzeptanz, da es Argumente für die Ausdehnung des Arbeitsfeldes der Extremismusprävention auf Vorfeldbereiche liefert.
In der Präventionspraxis werden des Weiteren auch andere niedrigschwellige Indikatoren für Radikalität oder für Anfälligkeit zu Hilfe genommen, um eine Einschätzung der Person vorzunehmen und/oder um eine „Indikation“ zu untermauern, die eine Aufnahme dieser Person in das entsprechende Präventionsprogramm rechtfertigen. Dabei werden in der Regel die Einstellungen der Person geprüft, vorhandene biografische Informationen interpretiert und Aussagen über relevante Persönlichkeitsmerkmale getroffen.
Bei dieser Bewertungsarbeit stützen sich Praktikerinnen und Praktiker zum einen auf ihre pädagogischen Erfahrungen, zum anderen auf die oben geschilderten Erkenntnisse der Radikalisierungsforschung über Risikofaktoren. Aussagen über die Güte dieser in der Praxis stattfindenden Bewertungsarbeit sind in den einschlägigen Literaturdatenbanken selten zu finden, da in diesem Bereich kaum evaluiert und publiziert wird.
Ohnehin zeichnet sich das Forschungsfeld zu individuellen Risikofaktoren durch grundsätzliche Probleme in der Belegbarkeit aus. Wie bereits oben erwähnt, stützen sich relevante Theorien meist auf explorative Forschung, die sich mit bereits in Erscheinung getretenen Akteurinnen und Akteuren befasst. Ob die dabei festgestellten Merkmale und Eigenschaften bereits vor der Radikalisierung dieser Personen existierten oder ob sie eher als Begleiterscheinung eines Radikalisierungsprozesses zu interpretieren sind, bleibt meistens im Dunkeln. Neben den methodischen Unzulänglichkeiten besteht das sogenannte „Spezifitätsproblem“.
Die meisten identifizierten Risikofaktoren sind eher als allgemeine Risikofaktoren zu verstehen, sie hängen nicht nur mit extremistischer Radikalisierung zusammen, sondern auch mit vielen anderen von der Norm abweichenden Verhaltensweisen oder sind gar normale Erscheinungen einer schwierigen Adoleszenz.
Auf der Suche nach Risikofaktoren, die zumindest einigermaßen empirisch belegt sind, stößt man auf die Studie der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus des Bundeskriminalamtes.16) Im Rahmen dieser groß angelegten Untersuchung wurde die Wirkung extremistischer Propagandavideos auf männliche Studenten und Berufsschüler im Labor untersucht. Dabei konnten die Autorinnen und Autoren nachweisen, dass Autoritarismus, Gewaltakzeptanz und niedrige Bildung die Ablehnung von Videos mit rechter und islamistischer extremistischer Propaganda reduzieren. Daraus zu schließen, dass diese „Risikofaktoren“ einen Radikalisierungsprozess begünstigen oder gar zum Extremismus oder Terrorismus führen, bleibt im Bereich der Interpretation.
Neuere Erkenntnisse über extremistische Radikalisierungsprozesse, die zur Gewalt führen, betonen die Rolle von früherer Delinquenz und Gewalttätigkeit. Dies ist z. B. der Fall in einer Studie von „The National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism“ (START) im Auftrag des „U.S. Department of Justice“ über Radikalisierungsprozesse in den USA: „Kriminelle Aktivitäten vor der Radikalisierung gepaart mit einer Zugehörigkeit zu entsprechenden Gruppen nach der Radikalisierung erhöhen das Risiko von extremistischer Gewalt“.17)
Eine Studie des BKA zu den Radikalisierungshintergründen von Personen, die aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind, zeigte, dass zwei Drittel von ihnen aus dem kriminellen Milieu stammten. Während vor Beginn der Radikalisierung lediglich vier Prozent dieser Personen mit politisch motivierten Delikten in Erscheinung getreten sind, steigerte sich der Anteil solcher Delikte im Verlauf der Radikalisierung auf 55 Prozent.18)
Eine Neigung zur Akzeptanz und Ausübung von Gewalt scheint somit der ideologischen Radikalisierung voranzugehen. Somit erfolgt im Radikalisierungsprozess lediglich eine neue Kanalisierung bzw. eine Legitimierung vorhandener Gewalttendenzen. Diese Aussage trifft allerdings nur auf die Personen zu, die in den letzten Jahren nach Syrien/Irak ausgereist sind oder vom IS zur Ausübung von Anschlägen rekrutiert wurden. Sie kann darüber hinaus nicht auf Personen übertragen werden, die andere Rollen im Terrorismus innehaben.
Warum werden aus normalen Menschen Terroristen? – Motive
Was bringt Menschen dazu, sich für extremistische bzw. terroristische Organisationen zu engagieren? Zahlreiche Studien haben sich mit den mutmaßlichen Motiven solcher Personen beschäftigt. In der Fachliteratur (z. B. Stern 2003, Horgan 2005, Richardson 2007) trifft der Lesende bei der Suche nach den Gründen für einen Einstieg vor allem auf drei Hauptmotive:
Ein Anschluss an eine terroristische/extremistische Gruppierung kann demnach (1) als Antwort auf eine individuell oder kollektiv wahrgenommene Ungerechtigkeit, (2) als Bedürfnis nach sozialen Bindungen, Gemeinschaft, Akzeptanz sowie (3) als die Suche nach Sinn und Identität betrachtet werden.
Jessica Stern beschreibt den Terrorismus als ein Problem des gemeinschaftlichen Handelns, bei dem die Kosten für ein Engagement durch die einzelnen Personen getragen werden müssen, wovon die ganze Gruppe profitiert. Was sind also die Anreize, die zum Engagement Einzelner führen? Wie bei allen Menschen sind die Motive Stern zufolge in der Regel durchmischt und nicht leicht voneinander zu trennen. Für manche ist das Engagement im Terrorismus wie eine Steuer, welche die oder der Einzelne zu bezahlen hat, um gegen die wahrgenommene Ungerechtigkeit gegenüber der eigenen Gruppe vorzugehen. Für andere erfüllt das Engagement ein Bedürfnis nach Abenteuern, nach sozialer Eingebundenheit, nach Ruhm und Anerkennung oder finanziellen Vorteilen. Ein Gefühl der Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft oder auch Anomie können Gründe für ein Engagement sein. Als Strategie verfolgt Terrorismus nach Jessica Stern primäre und sekundäre Ziele (Gewaltanwendung und psychische sowie politische Folgen der Gewaltanwendung).
Louise Richardson19) spricht im Zusammenhang mit den Motiven der handelnden Personen von den drei „R“ (Rache, Ruhm, Reaktion):
Die unmittelbaren Motive für Terrorismus sind demnach, (1) gegen die wahrgenommenen Unterdrücker der eigenen Gruppe Rache zu nehmen, (2) durch das Rachenehmen öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und die Sache der Gruppe zu ziehen und dadurch persönlichen Ruhm zu erlangen und (3) Zugeständnisse der Mehrheitsgesellschaft bzw. der Unterdrückenden zu erwirken oder auch eine Überreaktion der Regierung zu provozieren. Richardson zufolge haben Rache, der dadurch gewonnene Ruhm und die Provokation (irgend-)einer Reaktion in sich selbst einen befriedigenden Charakter und sind somit ausreichend, um zu einem terroristischen Engagement zu motivieren. Wenn auch andere Personen Genugtuung aus der Rache, dem von der Akteurin oder vom Akteur gewonnenen Ruhm oder der Reaktion der Regierung erwirken, so gilt dies natürlich als positiver Nebeneffekt.
Der Sozialpsychologe Kruglanski,20) der sich in den letzten Jahren intensiv mit der Motivation von Terroristen beschäftigte, entwickelte ein Modell, welches eine Reihe von psychologischen Erklärungsansätzen integriert.
In Kruglanskis Modell stellt ein menschliches Grundbedürfnis, nämlich ein grundsätzliches Bedürfnis nach Bedeutung (auch: Werthaftigkeit, Sinnerleben, Respekt und Wertschätzung, etc.), die zentrale Triebfeder der Radikalisierung dar. Bedeutung als Grundbedürfnis wird Kruglanski zufolge dabei gesellschafts- und kulturabhängig definiert. Das Ziel, dieses Grundbedürfnis zu befriedigen, wird immer dann wichtig, wenn die eigene Person oder die Eigengruppe, mit der man sich identifiziert, an Bedeutung verliert, sie zu verlieren droht oder aber an Bedeutung gewinnen kann. Tatsächlicher oder wahrgenommener Bedeutungsverlust kann durch persönliche Faktoren (z. B. Versagen, Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, Demütigung), durch soziale Faktoren (z. Ausgrenzung, Kränkung der Eigengruppe) oder durch gesellschaftliche Faktoren (z. B. Krieg, politische und/oder ökonomische Instabilität) begünstigt oder verursacht werden. Gleichzeitig kann die Aussicht auf Bedeutungsgewinn in bestimmten Situationen (z. B. die Aussicht auf Ruhm innerhalb der Eigengruppe) das Streben nach Bedeutung aktivieren.
In Einklang mit gängigen Theorien der Motivationspsychologie steht die Wiederherstellung bzw. der Gewinn von Bedeutung dabei immer in Konkurrenz zu alternativen Zielen (z. B. Selbsterhalt, Wohlbefinden, Familiengründung, Schutz der Gemeinschaft). Je mehr das Streben nach Bedeutung in den Vordergrund rückt, desto mehr werden diese alternativen Ziele unterdrückt. Im Umkehrschluss tritt bei einer erfolgreichen Deradikalisierung auf motivationaler Ebene das Ziel des Gewinnens bzw. der Wiederherstellung von Bedeutung in den Hintergrund und weicht somit anderen Zielen.
Kruglanski schreibt der Rolle der personalen, der sozialen bzw. der kollektiven Identität in Radikalisierungsprozessen eine besondere Bedeutung zu. Demnach kann die Suche nach einer bedeutsamen Identität den Radikalisierungsprozess in Gang setzen, wenn sie auf das Angebot extremistischer Organisationen stößt, die sich als Identifikationsinstanzen anbieten. Die Identifikation mit der Identität des „Radikalen“, „Extremisten“ oder „Terroristen“ geschieht am effektivsten in einer Gruppe oder einem Netzwerk (Kruglanski spricht in diesem Zusammenhang von den drei Ns: Need, Narrativ und Network).
Ähnliche Ergebnisse brachte eine qualitative Biografiestudie des Bundeskriminalamtes,21) in deren Rahmen verschiedene biografische Faktoren und Persönlichkeitsmerkmale von politisch motivierten Straftäterinnen und -tätern herausgearbeitet wurden.
Die Mehrheit der untersuchten Fälle wies problematische Biografen auf. Sie wuchsen in familiären Umfeldern mit ausgeprägten sozialen Defiziten auf (mangelnde Kommunikation, Neigung zur Verdrängung und dysfunktionalen Bewältigungsstrategien mittels Drogen oder Gewalt). Des Weiteren waren ihre Biografen durch ein Scheitern bei der Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben (Schulabschluss, Beruf, Beziehung) gekennzeichnet, die für die Bildung einer Erwachsenenidentität von Bedeutung sind.
Ihre Radikalisierung war zu Beginn des Prozesses in erster Linie durch ein Bedürfnis nach Anschluss und Anerkennung getrieben, das sie durch den Eintritt in eine radikale/extreme Clique oder Szene zu befriedigen glaubten. Bei vielen von ihnen fungierte der neue „Freundeskreis“ als primäres Stützsystem.
Auch Bjørgo und Horgan22) fanden in ihren Studien heraus, dass bei der Radikalisierung von Personen die drei Motivlagen (Gerechtigkeit, soziale Bedürfnisse und Suche nach Sinn) in allen Terrorismusarten (Rechts- und Links- sowie islamistischer Terrorismus) eine Schlüsselrolle spielen. Wie die Autoren in ihren Untersuchungen festgestellt haben, unterscheiden sich die verschiedenen Phänomene zwar in ihren politischen und ideologischen Sichtweisen, jedoch nicht in ihren sozialen und psychologischen Prozessen. Diese Aussage deckt sich weitestgehend mit den Erkenntnissen der BKA-Studie zur Biografie von abgeurteilten politisch motivierten Straftätern. Zwar unterscheiden sich „… die verschiedenen Milieus hinsichtlich ihrer ideologischen Hintergründe, diverse situative Bedingungen und prozessuale Verläufe galten jedoch für alle Terrorismus- und Extremismusformen gleichermaßen“. Auch stimmen die Befunde beider Studien überein, dass der Einstieg in eine Szene eher zweckmäßigen, als tatsächlich politischen/religiösen Absichten folgt: Vorrangig galt es, Akzeptanz, sozialen Anschluss und emotionale Unterstützung zu finden. Auch wurde deutlich, dass sich extremistische bzw. terroristische Personen hinsichtlich ihrer sozialen Merkmale nicht grundlegend von anderen, nicht-politisch motivierten Straftäterinnen und -tätern unterscheiden und die Wege in den Extremismus vielfältiger Natur sind.23)
Ruft man in Erinnerung, dass Radikalisierungsprozesse in den meisten Fällen während der Phase des Erwachsenwerdens beginnen (d. h. in einem Alter zwischen 14 und 25 Jahren, worauf die Erkenntnisse über bekannte „Radikalisierte“ wie bei den Sicherheitsbehörden registrierte Gefährderinnen/Gefährder oder Personen, die nach Syrien/Irak ausgereist sind, hindeuten), wird die Bedeutung des Identitätsaspektes deutlich. Junge Menschen befinden sich in der Adoleszenz in einer Übergangsphase auf der Suche nach einer Erwachsenenidentität, nachdem sie die Kindesidentität bereits abgelegt haben. Einige von ihnen scheinen in dieser kritischen Phase zugänglich für das Identifikationsangebot extremistischer Strömungen.
Extremistische bzw. terroristische Gruppierungen müssen zu Beginn grundlegende soziale und psychische Bedürfnisse von Individuen erfüllen, um sie zu ködern. Nach Bjørgo24) tritt nur eine Minderheit in diese Organisationen ein, weil sie mit deren Ideologie und Politik bereits übereinstimmt. In der Regel werden die radikalen Denkstrukturen erst im Laufe der Gruppenzugehörigkeit übernommen.
Nach Horgan25) lässt sich dieser Art der Radikalisierung „… als ein sozialer und psychologischer Prozess der schrittweisen Verpflichtung zu einer radikal politischen oder religiösen Ideologie“ beschreiben.
Prozesse extremistischer Radikalisierung
Radikalisierungsprozesse sind angesichts der Vielfalt an psychologischen, gruppenbezogenen und sozialen bzw. politischen Faktoren, die sie bedingen, kaum zu typologisieren. Nach den Anfängen der Radikalisierungsforschung, die vor allem durch die Suche nach Profilen und Persönlichkeiten von Terroristinnen und Terroristen geprägt waren, liegt seit einigen Jahren der Fokus auf den Wegen und Pfaden, die von unterschiedlichen Individuen in Richtung Gewalt eingeschlagen werden.
Im Folgenden werden anhand beispielhafter Modelle aus der Forschung diese Pfade beschrieben, die zu einem Engagement im Extremismus/Terrorismus führen können. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Radikalisierungsprozessen, die einem Engagement im Gruppenkontext folgen (klassischer Terrorismus) und solchen, die im Rahmen eines Engagements abseits von Gruppen zu beobachten sind.
Radikalisierung von Individuen im Rahmen von Gruppen- bzw. Organisationsstrukturen
Bei dieser Form erfolgt die Radikalisierung nach dem Anschluss an eine Gruppe. Dabei erfolgt zuerst die Rekrutierung, die vor allem einen Selektionsprozess beinhaltet. Terroristische Gruppierungen suchen in der Regel ihre potenziellen Mitglieder sorgfältig aus und wenden dabei Kriterien an, die Motivation, Zuverlässigkeit und Fähigkeiten berücksichtigen. Marc Sageman verglich in dieser Hinsicht Al-Qaida mit einem Assessment Center, in dem Personal begutachtet und ausgewählt wird. Im Rahmen von Radikalisierungsprozessen geschieht die Indoktrination mithilfe gruppendynamischer Prozesse. Die Zuspitzung der Radikalisierung (Eskalation) bis hin zur Legitimierung von Gewalt erfordert oft eine Abschottung von äußeren Einflüssen, die durch das Abtauchen im „Untergrund“ erleichtert wird.
Im klassischen Verständnis von Radikalisierungsprozessen im Kontext des Phänomens „Extremismus und Terrorismus“ spielen Organisationen und Gruppen als Rekrutierer, Ausbilder und Auftraggeber eine tragende Rolle. Radikalisierung geschieht demnach innerhalb einer Gruppe, im Kreis von Gleichgesinnten auf der Grundlage direkter, persönlicher Interaktion. Ferner ist Radikalisierung als ein fortschreitender Prozess zu verstehen, der zur Steigerung der Gewaltbereitschaft führt und in Gewalthandlungen münden kann. Dieser Radikalisierungsprozess treibt das Individuum nach und nach in Richtung einer Selbstverpflichtung zur Gewalt im Namen einer Organisation und findet in einem sowohl politischen als auch sozialen und psychologischen Zusammenhang statt.
Die Wechselwirkungen dieser Kontextvariablen entfalten in der Regel in einem mikrosozialen Umfeld (Gruppe) eine radikalisierende Dynamik und führen dazu, die Mechanismen der Selbstregulation zu beeinflussen und das regulative Bezugssystem umzuformen. Die bisher auf das Individuum einwirkenden Instanzen von Selbst- und sozialer Kontrolle können somit beeinflusst und ggf. außer Kraft gesetzt oder durch andere Kontrollinstanzen bzw. -einflüsse (etwa die neue radikale Bezugsgruppe) ersetzt werden. Die Persuasion, die Überredung, die Überzeugung und die Indoktrinierung gelingen mithilfe von gruppendynamischen Prozessen (siehe Kap 3.2). Diese klassische Form der Indoktrination wird als „embedded indoctrination“ bezeichnet.26) Eingebettet in ein soziales Gruppengefüge, im Kontext politischer Spannungen und in der Regel durch existenzielle Bedrohung bedingt (Nebenerscheinung von Krieg und Konflikt wie Unsicherheit und Vertreibung), ist die Person unweigerlich radikalen Einflüssen ausgesetzt, was zur Persuasion und Indoktrination führen kann. Dies kann man sich als ein vitales kommunikativ-interaktives Geschehen vorstellen, das unter anderem die jeweiligen gruppendynamischen Prozesse steuert.
Um das Engagement von Individuen im Extremismus oder im Terrorismus besser zu verstehen, nehmen Wissenschaftler zunehmend die Laufbahnen bzw. Verläufe dieses Engagements stärker in den Fokus ihrer Arbeit. Somit sollen Radikalisierungsprozesse verstanden werden, die über die Radikalisierung von Einstellungen hinausgehen.
Einigkeit herrscht in der Wissenschaft darüber, dass eine Karriere im Terrorismus in der Regel nach einem bestimmten Ablauf erfolgt. Sie beginnt mit dem Einstieg und endet mit dem Ausstieg aus dem Terrorismus. Dabei sind auch eine spätere Distanzierung und sogar eine Deradikalisierung als Entwicklungsstufen im Prozess möglich. Individuen, die sich am Terrorismus beteiligen, durchlaufen nach Horgan (2009) verschiedene Stadien und machen unterschiedliche Erfahrungen. Um die Komplexität dieses prozessualen Ablaufs zu verdeutlichen, entwickelte er folgendes Prozessmodell.27)
Dieser Prozess verläuft jedoch nicht bei jeder Person in dieser linearen Form. Die gezeigten Entwicklungsschritte müssen nicht zwangsläufig alle durchlaufen werden.
Am Ausgangspunkt jeder terroristischen Biografie steht die Phase der Vor-Radikalisierung: Ausnahmslos jedes Individuum, das sich einer Gruppe anschließt, habe „ein Leben vor dem Terrorismus“ gehabt, in dem möglicherweise unterschiedlichste Faktoren den Weg zum Extremismus/Terrorismus begünstigt haben können. Aufgrund unterschiedlicher Gründe beschließt das Individuum, sich einer terroristischen Zelle, Gruppe, Organisation oder allgemein einer Szene anzuschließen. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, geschieht dies aus verschiedenen Motivlagen.
Eine Verfestigung extremistischer Ansichten und eine Erstarkung der Identifikation mit der Ideologie der Gruppierung erfolgt in der Regel erst im Bezugskreis der Gruppe während der Phase der Radikalisierung. Allein die An- bzw. Übernahme von radikalem Gedankengut führt allerdings noch nicht zwangsläufig zu einer Bereitschaft, Gewalt-handlungen auszuüben.
Im Stadium des Vor-Engagements befindet sich die Person noch auf der Suche nach einem Platz innerhalb des Gruppengefüges. Die Beteiligung an den Aktivitäten der Gruppe oder Organisation kann verschiedene Formen annehmen und sich in unterschiedlichen Entwicklungsstufen durch unterschiedliche Aktionen und Verhaltensweisen äußern. Während sich beispielsweise ein Teil der Gruppenmitglieder mit logistischer Unterstützung beschäftigt oder sich auf eine mögliche Kampfbeteiligung vorbereitet, kann sich der andere Teil bereits an gewalttätigen Aktivitäten beteiligen. Die Aufgaben, die übernommen werden, können im Laufe der Mitgliedschaft durchaus im Sinne von Rollenmigration und hierarchischem Auf- bzw. Abstieg wechseln. Welche Funktion oder Rolle ein Gruppenmitglied letztendlich zu einem bestimmten Zeitpunkt einnimmt, ergibt sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit anderen Mitgliedern, Erfahrungen innerhalb der Gruppe oder durch Zufall.
Die (Radikalisierungs-)Faktoren, die den Einstieg in den Extremismus/Terrorismus begünstigen, sind deshalb oft für eine Prognose des Karriereverlaufs innerhalb einer Gruppe nicht geeignet. Die Rollen, die eine Person im Laufe dieser Karriere übernimmt sowie die Prozesse, die zu einem späteren Zeitpunkt zu einer eventuellen Loslösung von der Gruppierung führen können, sind eher durch die Dynamik zu erklären, die sich nach dem Eintritt in die Gruppierung entfaltet.
Vor der Teilnahme an gewaltsamen Handlungen findet laut Horgan stets das Stadium der gewalttätigen Radikalisierung statt. Mittels dieser weiterführenden Radikalisierung bis hin zur Ausübung von Gewalt entwickelt sich während der Ausbildung und des Trainings eine stärkere Loyalität und Bindung zur Gruppe. Folglich verbleibt die terroristische bzw. extremistische Person in diesem Gruppengefüge dauerhaft engagiert.
Ab dem Zeitpunkt, an dem das Individuum einer Gruppierung beitritt und sich radikalisiert, ändern sich nicht nur das soziale Umfeld, sondern auch die Denk- und Einstellungsstrukturen. Im Laufe der Mitgliedschaft entfaltet sich ein – jeder Gruppendynamik eigenes – soziales und auch psychologisches Geschehen, in dem sich sowohl Befindlichkeiten als auch Motive wandeln. Infolge diverser Erlebnisse und Erfahrungen können sich die Person und ihre Beziehungen zu anderen Individuen ändern; gewisse gewalttätige Handlungen werden kritischer gesehen. Neben dem Alterungsprozess führt dies nach Horgan (2009) in der Regel unweigerlich dazu, dass der terroristisch aktive Mensch den Terrorismus eines Tages hinter sich lässt.
Die Abkehr vom Terrorismus kann unterschiedliche Formen annehmen. Sie kann als eine objektiv feststellbare Distanzierung von extremistischen und terroristischen Handlungen erfolgen und/oder eine Ablegung der gemeinsamen (gruppenspezifischen) sozialen Normen, Werte und Einstellungen beinhalten – mit anderen Worten in Form einer Verhaltens- und/oder Einstellungsänderung. Horgan (2009) und andere Wissenschaftler verwenden in diesem Zusammenhang zwei zentrale Begriffe: Disengagement und Deradikalisierung.
Während sich „Disengagement“ auf das Verhalten bezieht, beinhaltet „Deradikalisierung“ eine Änderung bezüglich der Einstellungen.
Disengagement ist als ein Prozess zu betrachten, bei dem das Individuum die terroristische Gruppe verlässt oder eine andere Rolle bzw. Funktion innerhalb der Organisation einnimmt, die nicht strafrechtlich relevant ist. Beide Formen können entweder auf freiwilliger oder auf unfreiwilliger Basis geschehen. Das Ende der Teilnahme an gewalttätigen Aktionen kann sich aber auch abrupt mit der Verhaftung oder dem Tod der Person ereignen.
Disengagement, das nicht zwangsläufig eine Veränderung auf der kognitiven Ebene mit sich bringt, kann dabei durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst werden oder sich langsam prozessual entwickeln.28)
Da ein völliger Ausstieg aus dem Terrorismus im Sinne einer Rehabilitierung neben der Absage an gewalttätige Verhaltensweisen ebenso die Änderung der radikalen Einstellungen und Sichtweisen beinhaltet (Deradikalisierung), ist „Disengagement“ nur eine erste Etappe des Ausstiegs. „Disengagement“ muss demnach nicht immer Hand in Hand mit der Deradikalisierung gehen, da sich diese in der Regel im Laufe eines längeren Prozesses vollzieht.
Darüber hinaus weisen Coolsaet und de Swielande29) sowie Horgan (2009) vor diesem Hintergrund darauf hin, dass „Deradikalisierung“ nicht bedeute, dass ein Individuum wieder in seine „Vor-Radikalisierungs-Phase“ versetzt werden soll. Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund der Erfahrungsgeschichte, die die betroffenen Personen in Gestalt eines Radikalisierungsprozesses bis hin zu gewalttätigem Engagement durchlaufen haben, können sie nicht wieder zu ihrem ursprünglichen Bewusstseinszustand vor der Radikalisierung gelangen. Abgesehen von der Tatsache, dass die Lebenssituation im Stadium der Vor-Radikalisierung zur Radikalisierung geführt hat und somit als nicht erstrebenswert scheint, widerspräche das Ziel der Wiedererlangung des „Vor-Radikalisierungsstatus“ der Natur des Menschen als ein sich stetig weiterentwickelndes und lernendes Wesen. Nach diesem Verständnis ist der Radikalisierungsprozess nicht umkehrbar, kann allerdings in seiner Entwicklung in Richtung Ausstieg und/oder Abkehr von radikalen Anschauungen gelenkt werden.
Radikalisierungsprozesse abseits von Gruppenstrukturen
Das relativ neue Phänomen der Radikalisierung in die Gewalt abseits von Gruppenkontexten kann als Ausdruck eines Paradigmenwechsels innerhalb des Terrorismus betrachtet werden. Bereits in den 1990er-Jahren tauchten erste programmatische Schriften auf, die für diese Form des Engagements warben (leaderless resistance; white supremacy movement in USA).30)
Im islamistisch motivierten Terrorismus ist ein vergleichbarer Strategiewechsel seit Mitte der 2000er-Jahre zu beobachten. Dabei nimmt die Nutzung des Internets zur Verbreitung von Propaganda, Programmatik und Taktiken eine bedeutende Rolle ein.
Terroristische Gruppierungen, die in großem Maße auf den Einsatz von autonomen Täterinnen und Tätern setzen, nehmen in gewisser Weise einen damit einhergehenden Kontrollverlust hin und verzichten oft auf den unmittelbaren Einfluss auf die Zielauswahl, den Zeitpunkt des Angriffes und den Einsatz von Tatmitteln – eigentlich wichtige Stellschrauben für den Erfolg des Terrorismus. Dennoch wird dieser Kontrollverlust in Kauf genommen, um handlungsfähig zu bleiben.
Betrachtet man die Akteurinnen und Akteure der letzten Jahre, die in Deutschland und in der westlichen Welt in Erscheinung getreten sind, so lässt sich neben den Täterinnen und Tätern, die sich einer Organisation oder einer organisierten Gruppe anschließen und ihre Taten in diesem Kontext planen und ausführen, ein neuer Typus erkennen. Dabei handelt es sich um Einzeltäterinnen und -täter, die abseits bekannter Strukturen autonom handeln und sich dabei an der vorgegebenen Ideologie, Programmatik und Zielsetzung einer Extremismusart orientieren. Die Kategorie der sogenannten „lone actors“ beinhaltet Personen, die autonom und unabhängig von einer Gruppe bezüglich Ausbildung, Vorbereitung und Zielauswahl operieren, und Personen, die zwar von einer Gruppe ausgebildet oder ausgestattet worden sind, ihre Angriffe aber autonom planen und durchführen. Des Weiteren beinhaltet diese Kategorie isolierte „Dyaden“, das sind Paare, die unabhängig von einer Gruppe agieren.31)
Das oben geschilderte Modell von Horgan zu Terrorismuskarrieren (Pathways) befasst sich mit Personen, die sich im Extremismus bzw. Terrorismus in klassischer Weise engagieren, indem sie Mitglieder entsprechender Organisationen werden. In dieser organisierten Form sind bestimmte Aktivitäten charakteristisch, die eine Arbeitsteilung erfordern und Ansatzpunkte für sicherheitsbehördliche Ermittlungen bieten können (z.B. Rekrutierungsaktivitäten, Auswahlverfahren, Training, logistische Aktivitäten, Kommunikation).
Im Gegensatz dazu stellt das relativ neue Phänomen der autonom agierende Tatperson, die oder der alleine und lediglich orientiert an den Zielvorgaben des Terrorismus ihre bzw. seine Tat ausübt, eine besondere Herausforderung für die Terrorismusbekämpfung und ein Novum für die Forschung dar. Zwar lassen einige neue Studien, die sich mit den agierenden Personen befassten, Parallelen zu Verhaltensweisen von Amokläuferinnen und Amokläufern vermuten (instabile Persönlichkeiten, persönliche Krisen, delinquente Karrieren), ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings in der Motivation. Während Amokläuferinnen und -läufer in der Regel ihnen bekannte Personen angreifen, um sich für persönliche Kränkungen zu rächen, sind terroristische Einzeltäterinnen und -täter grundsätzlich eher von der Motivation getrieben, Rache für andere auszuüben. Sie bedienen sich weitgehend einer klassischen Terrorstrategie, indem sie ihre Opfer als stellvertretend für das anzugreifende System ins Visier nehmen. Die in der Öffentlichkeit oft thematisierte Ähnlichkeit zwischen terroristischen Einzeltäterinnen und -tätern und Amokläuferinnen und -läufern veranlasste die Radikalisierungsforschung dazu, sich das Phänomen des Amoks genauer anzuschauen.
In dem Projekt „Tat- und Fallanalysen hochexpressiver, zielgerichteter Täter (TARGET)“32) wurden Amokläuferinnen und -läufer u. a. kriminologisch und forensisch-psychiatrisch bzw. psychologisch untersucht. Bei dieser überwiegend jungen Tätergruppe spielen offenbar unterschiedliche Faktoren eine Rolle im Entwicklungsprozess. Sie wiesen z.B. nicht die typischen Risikomerkmale auf, welche für gewöhnlich bei Gewalttätigkeit auftreten. Das bedeutet, sie waren in der Schule eher still und ängstlich, zeigten Rückzugstendenzen und mieden soziale Kontakte. Das familiäre Umfeld der Täterinnen und Täter war zumeist unauffällig, allerdings war die Beziehung zu den Eltern und Geschwistern durch eine Ambivalenz, ein schwaches Vertrauensverhältnis und ein „Nebeneinander-her-Leben“ gekennzeichnet. Die Täterinnen und Täter besuchten überwiegend Gymnasien, waren aber leistungsmäßig oft überfordert. Sie entwickelten im Laufe der Zeit ein übermäßiges Interesse an Attentaten, Amokläufen und Massentötungen. Des Weiteren lagen bei vielen von ihnen Hinweise auf eine depressive Symptomatik sowie Suizidäußerungen gegenüber Gleichaltrigen vor. Die untersuchten Amokläuferinnen und -läufer dokumentierten ihre überschießenden Rachefantasien und ihren ausgeprägten Hass in Tagebüchern und Aufzeichnungen. Sie zeigten einen Hang zu Waffen und militärischen Symbolen und kleideten sich entsprechend. Ebenso war ihr subjektives Erleben dadurch geprägt, dass sie sich unverstanden, gedemütigt oder gemobbt fühlten. Dies stand im Kontrast zur Außenwahrnehmung, wonach sie Kontaktangebote zurückwiesen, andere abwerteten sowie unfreundlich und empathielos auftraten. Die gedankliche Einengung auf Hass und Rache war dabei ein langfristiger Prozess.
Eine Auswertung der Forschungsbefunde zur Psychopathologie von Amokläufern hat des Weiteren gezeigt, dass die Befundlage eher schwach ist.33) Dennoch ist sicher, dass es beim Amokläufer eine hohe Veranlagung zu psychischen Störungen gibt, wobei diese insbesondere bei erwachsenen Täterinnen und Tätern höher ist. Weiterhin lässt sich feststellen, dass (auch hier vor allem bei den Erwachsenen) psychotische bzw. wahnhafte Symptomatiken vorherrschen. Für andere psychische Störungen, die in der Forschung als auslösend für den Amoklauf angesehen werden, gibt es zwar Hinweise, aber keine belastbaren Befunde.
Anschläge autonom agierender Terroristinnen und Terroristen weisen, wie schon gesagt, Ähnlichkeiten zu den Taten von Amokläuferinnen und -läufern auf. Beide Gruppen verüben in erster Linie öffentliche Gewalttaten und benutzen häufig ähnliche Waffen. Horgan und seine Kollegen34) verglichen die beiden Tätergruppen in einer Studie. Die Ergebnisse zeigten, dass es wenige Unterschiede zwischen ihnen gibt. Sowohl bei autonom agierenden terroristischen Personen als auch bei Amokläuferinnen und -läufern waren die Attentate für gewöhnlich das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von persönlichen, politischen und sozialen Ursachen, welche das Individuum auf dem Pfad zur Gewalttätigkeit vorantrieben. Viele der Täterinnen und Täter zeigten eine Mischung aus persönlichen Lebensumständen und einer Intensivierung ihrer Überzeugungen, welche schließlich in der Idee der Gewaltanwendung mündete. Manchmal führten die persönlichen Probleme zur Anfälligkeit für eine Ideologie, manchmal intensivierten sich langjährige ideologische Überzeugungen durch persönliche Probleme. Horgan stellte mit seinem Team jedoch fest, dass es Unterschiede bezüglich (1) des Grads der Interaktion mit Mittäterinnen und -tätern, (2) des Verhaltens vor der Tat sowie (3) des Grads der Vorankündigung gab. Letzten Endes unterscheidet sich die Motivation der beiden Tätergruppen. Aufgrund des Mangels einer bestimmten Weltanschauung ist für Amokläuferinnen und -läufer bei ihrer Entscheidungsfindung das gegenwärtige politische und sicherheitsbezogene Klima unwichtig. Tatsächlich waren bei den meisten der untersuchten Personen vor allem persönliche Kränkungen maßgeblich. Außerdem zeichneten sich die untersuchten Amokläufe scheinbar durch weniger vorbereitete Absicht und Strategie aus.
Was die Unterschiede zwischen Einzeltäterinnen und -tätern sowie organisierten Terroristinnen und Terroristen angeht, konnten Gill und seine Kollegen35) anhand ihrer Analysen frei zugänglicher Informationen über autonom und in Gruppen agierende terroristische Personen zeigen, dass sich bei ihnen im Vergleich zu den gruppenbezogenen Täterinnen und Tätern ein erhöhtes Auftreten psychischer Störungen zeigte. Dennoch wichen die allein agierenden Täterinnen und Täter nur in wenigen Störungsbildern (nämlich der Schizophrenie, der wahnhaften Störung und des Autismus) von der Gesamtbevölkerung ab.
Das in den letzten Jahren zunehmend beobachte Engagement von autonomen Täterinnen und Tätern hat gravierende Konsequenzen für die Terrorismusbekämpfung und für die Prävention. Bezüglich der handelnden Akteurinnen und Akteure ist eine Erweiterung der Bandbreite von Täterprofilen festzustellen. Es werden zunehmend Personen aktiv, die aufgrund ihrer instabilen Persönlichkeiten oder gar psychischen Störungen in organisierten Gruppen nicht in das Beuteschema der Rekrutiererinnen und Rekrutierer passen. Als autonome Täterinnen und Täter können allerdings Personen wie Arid Uka und Anders Breivik Terroranschläge im Namen einer Sache/Gemeinschaft ausüben – zwei Täter, die es aller Wahrscheinlichkeit nach mangels Integrationsfähigkeiten nicht geschafft hätten, sich einer Organisation anzuschließen.
Weil autonome Täterinnen und Täter in der Regel keine Ausbildung in Trainingscamps hatten, in denen beispielsweise der Bau von Sprengsätzen gelehrt wird, können sie nicht annähernd so professionell agieren wie Gruppenmitglieder mit entsprechenden Erfahrungen. Überwiegend aus diesem Grund bevorzugen sie daher Tatmittel, die ohne eine vorherige Ausbildung eingesetzt werden können (Selbstlaborate, Messer, Nutzung von Alltagsgegenständen wie Pkw und Lkw). Autonome Täterinnen und Täter greifen überwiegend sogenannte weiche Ziele an und sind bei der Zielauswahl weitgehend selbstständig. Anders verhält es sich in der organisierten Gruppe: Hier bedarf die Auswahl eines bestimmten Angriffszieles einer Abwägung und einer Entscheidung auf der Führungsebene, die unterschiedliche Gesichtspunkte berücksichtigt (die Botschaft, die mit der Tat an verschiedene Zielgruppen übermittelt wird, die mögliche Reaktion des Gegners etc.). Es wird deutlich, dass autonome Täterinnen und Täter eine andere Gefährdung darstellen. Sie bewegen sich in der Regel unter dem Beobachtungsradar der Sicherheitsbehörden und sind im Vorfeld der Tat schwieriger zu entdecken als organisierte Tätergruppen (Gefahr der Radikalisierung im Stillen).
Eine tragende Rolle in den Radikalisierungsprozessen von autonomen Tätern scheint das Internet zu spielen, denn einhergehend mit den Entwicklungen in diesem Bereich wird seit Jahren eine zunehmende Verlagerung von Aktivitäten mit extremistischem und terroristischem Bezug dorthin beobachtet. Dies gilt vor allem für Aktivitäten, die auf die Anwerbung von Sympathisanten und Unterstützern abzielen. Entsprechende Organisationen verbreiten z.B. ihre Propaganda, ideologische Schriften, Trainings- und Bombenbauanleitungen im Netz. Dabei verfolgt die zugrunde liegende Strategie offenbar das Ziel, viele Einzelne zu radikalisieren und zum Handeln zu animieren, ohne dass sie sich in Krisengebiete begeben oder größeren Gruppen anschließen müssten. Mithilfe der Möglichkeiten des Internets sollen die Zugangsschwellen zu terroristischen Gruppen und Hemmschwellen gegenüber einem konkreten terroristischen Engagement gesenkt werden.
Die Berührung mit Extremismus und Terrorismus von Einzelpersonen, die keine Bezüge zu radikalen Umfeldern oder Krisengebieten haben, geschieht in der Regel mittels der Propaganda im Internet. Sie erreicht die Adressatinnen und Adressaten überall und verfolgt unterschiedliche Ziele: vom Wecken eines Interesses über die Bestätigung vorhandener Tendenzen, den Anschluss an und die Kommunikation mit Gleichgesinnten bis zur Hinführung zu extremistischen oder gar terroristischen Aktionen. Ein Großteil dieser Propagandaaktivitäten wird von Organisationen gesteuert und – wie die Erfahrungen mit dem sogenannten Islamischen Staat gezeigt haben – mit großem Aufwand betrieben.
Somit wird die Bedeutung von Organisationen auch bei der Radikalisierung von autonomen Tätern eindeutig. Auch für sie spielen die Propaganda und die Programmatik solcher Organisationen eine zentrale Rolle. Diese Organisationen stellen die ideellen Rahmenbedingungen zur Verfügung, ohne die viele autonome Täterinnen und Täter nicht in der Lage wären, ihre Taten zu planen, auszuführen und als Terrorakte zu inszenieren. Organisationen, die bewusst Gewalt als legitimes Mittel zur Erreichung politischer Ziele einsetzen, stellen somit die wichtigste Tatgelegenheitsstruktur dar, die Terrorismus erst möglich macht. Dies scheint auch für das Phänomen der autonomen Täterinnen und Täter zu gelten.
Ausstieg und Deradikalisierung
Wege aus dem Terrorismus und Extremismus
Entsprechend dem oben skizzierten Modell von Horgan stellt der Ausstieg aus dem Terrorismus/Extremismus das Ergebnis einer weiteren Entwicklung der Person dar. Grundsätzlich ist es in jeder Phase des Prozesses möglich, einen Ausstieg einzuleiten, sowohl zum Zeitpunkt der Vor-Radikalisierung, der Radikalisierung, des Vor-Engagements, der gewalttätigen Radikalisierung als auch in der Phase des dauerhaften Engagements. Je nachdem, wie fortgeschritten der Radikalisierungsprozess im Einzelfall ist, werden unterschiedliche Interventionsstrategien der Extremismusprävention angewendet, mit denen wiederum unterschiedliche Akteurinnen und Akteure mit der Extremismusprävention betraut werden können.
Die Bereitschaft oder Fähigkeit zum Disengagement und schließlich zur Deradikalisierung setzt die Überwindung bestimmter Barrieren voraus: soziale und psychologische Abhängigkeiten von der Gruppe, anfallende Kosten im Falle eines Ausstiegs und Angst vor Status- und Ansehensverlust sowie vor Vergeltungsmaßnahmen.36) Je nachdem, wie stark die Verpflichtung gegenüber der Organisation im Einzelnen ausgeprägt ist, fällt der Ausstieg leichter bzw. schwerer. Klandermans37) spricht dabei von drei Formen der Verpflichtung:
Die normative Verpflichtung bezieht sich auf das moralische Band zwischen der Gruppe und einer Person. Diese Bindung ist das Ergebnis eines langen Sozialisationsprozesses, bei dem die eigenen Ansichten und Verhaltensweisen denen der Organisation angepasst werden.
Durch eine räumliche Distanz zu der Gruppe und mangelnde Kommunikation mit ihren Mitgliedern kann das Ausmaß der normativen Verpflichtung nachlassen.
Mit der Intensität der emotionalen Bindung an eine Organisation steigt die Partizipation und umgekehrt. In diesem Fall ist die Rede von einer affektiven Verpflichtung, die durch negative Erfahrungen sinkt (z.B. durch Feindseligkeiten innerhalb der Gruppierung).
Die beständige Verpflichtung gegenüber einer Gruppe (dauerhaftes Engagement) hängt stark von rationalen Abwägungen ab (dem Umfang der Investitionen für die Gruppe und dem Reiz der wahrgenommenen Alternativen). Bieten diese einen höheren Nutzen im Gegensatz zum Verbleiben in der Organisation, so steigt die Bereitschaft für einen Ausstieg.
Horgan (2009) und Demant et al. (2008) führen relevante psychologische und soziale Einflussgrößen auf, die als ausstiegsfördernde Faktoren angesehen werden können. Dabei handelt es sich um sogenannte Push-Faktoren, die sich auf bestimmte negative soziale Umstände und Kräfte beziehen, die einen Umdenkprozess in Gang setzen, durch den es nicht länger attraktiv erscheint, im Terrorismus/Extremismus bzw. in der Organisation/Gruppe zu verbleiben.
Desillusionierung
Mitglieder terroristischer bzw. extremistischer Organisationen werden aufgrund eines zunehmend als Belastung wahrgenommenen Unterschiedes zwischen idealisierter Vorstellung und Realität unzufrieden und desillusioniert. Die Erlebnisse innerhalb der Gruppe und der Subkultur stimmen weitestgehend nicht (mehr) mit den anfänglichen Erwartungen überein. Ursächlich können dafür beispielsweise ein zu großer Gruppen- und/oder psychologischer Druck sowie eine begrenzte Loyalität unter den Mitgliedern sein. Das erhoffte Vertrauen und Gemeinschaftsgefühl wird nicht mehr empfunden.
Divergenz zwischen der politischen Zielsetzung und den operativen Taktiken
Einige Aktivistinnen und Aktivisten verlieren durch die Erkenntnis, dass sie die gestellten Ziele und die gewünschte Zukunft mit den Mitteln der Gewalt nicht erreichen können, den Glauben an die Ideologie und Politik der Organisation. Oft wird dieser Umstand durch die eigene Konfrontation mit gewalttätigem Handeln ausgelöst. Rommelspacher38) kommt in ihrer Studie über deutsche Rechtsextremistinnen und -extremisten zu dem Ergebnis, dass eine Reihe von Personen die Gruppe verließ, nachdem sie zum ersten Mal persönlich mit Gewalt in Kontakt gekommen waren. Sie erlebten Selbstzweifel, als sie den Eindruck gewannen, dass das, woran sie glaubten und wofür sie kämpften, sowohl moralisch als auch politisch falsch war.
Druck von außen
Insbesondere bei Mitgliedern von Terrororganisationen, die einem enormen Druck von außen unterliegen (z.B. durch Einträge auf Sanktionslisten, Führung als Gefährderin bzw. Gefährder oder Strafverfolgung), kann sich der Wunsch nach einem sorgenfreien Leben in Frieden entwickeln.
Psychopathologische Störungen
Vor allem Terroristen, die lange Zeit aktiv in einer Organisation tätig waren, können unter psychologischen Störungen leiden (z.B. Burn-Out-Syndrom). Ihr Verbleib in der Organisation ist auch aus Sicherheitserwägungen der Gruppe selbst nicht mehr wünschenswert.
Veränderung der persönlichen Prioritäten und der Lebenssituation
In vielen Fällen wirkt der Faktor „Alter“ ausstiegsunterstützend. Terroristen wachsen demnach aus dieser Rolle heraus und nehmen dafür eine andere, beispielsweise die des Ehepartners oder Vaters bzw. der Mutter an, die neue Verantwortung mit sich bringt. Das Bedürfnis nach Bedeutung, Anerkennung und Gemeinschaft wird nun innerhalb einer Ehe oder Familie befriedigt. Das Verlangen nach Aufregung und Aktion lässt ebenfalls mit steigendem Alter nach. Des Weiteren kann eine Veränderung sowohl im schulischen bzw. beruflichen als auch im privaten Bereich (neue Freund- und/oder Partnerschaft) das Verlassen der Gruppe beeinflussen. Vor allem der Kontakt zu außerhalb der terroristischen Gruppe stehenden Personen kann die Sichtweise verändern und für einen differenzierteren Blick sorgen.39)
Im Gegensatz zu den Push-Faktoren scheinen Pull-Faktoren wie das Angebot an Deradikalisierungsprogrammen und Ausstiegshilfen eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. In einer jungen Untersuchung, die sich mit den Ausstiegsprozessen von 87 Fällen beschäftigte, fanden Altier und Kollegen heraus, dass die häufigsten Ursachen von Ausstiegsprozessen Desillusionierung hinsichtlich der Gruppenstrategie, Meinungsverschiedenheiten mit Gruppenmitgliedern oder Gruppenführern sowie Unzufriedenheit mit den täglichen Aufgaben und Burn-Out sind.40)
Zur Eindämmung von Terrorismus scheinen die Möglichkeiten der Prävention ohnehin eher begrenzt. Terroristische Kampagnen werden meistens durch Verhandlungen (FARK, IRA) oder durch militärische Entscheidungen (LTE) beendet.41) Die Beschäftigung mit Personen, die im Terrorismus engagiert sind, ist in erster Linie eine Aufgabe der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr. Präventionsarbeit kann in einzelnen Fällen die sicherheitsbehördlichen Bemühungen flankieren, wenn Personen sich für einen Ausstieg aus dem Terrorismus entscheiden (Ausstiegshilfe) oder nach der Beendigung ihres Strafprozesses, wenn sie ihre Strafe im Gefängnis verbüßen (mit dem Ziel der Rehabilitierung). Deradikalisierungsmaßnahmen können dazu beitragen, solche Personen in unsere Gesellschaft zu integrieren und sie im besten Fall als Partner der Extremismusprävention zu gewinnen. Andernfalls können Aussteigerinnen und Aussteiger weiterhin ein Unsicherheitsfaktor bleiben, wenn sie trotz Distanzierung von Gewalt andere Funktionen im Sinne extremistischer Organisationen übernehmen. Als Veteranen sind sie bestens geeignet, andere Menschen zu radikalisieren, die in ihnen Vorbilder sehen.
Was die Deradikalisierung von extremistischen Akteuren angeht (extremistische Organisationen und ihre Mitglieder), zeichnet sich dieser Bereich durch ein Dilemma aus. Eine effektive Extremismuspräventionsstrategie sollte eigentlich versuchen, auf diese Organisation einzuwirken, mit dem Ziel, sie auf einen gemäßigten Weg zu bringen. Dies kann in der Regel nur dann gelingen, wenn zunehmend gemäßigte Mitglieder das Geschehen in der Organisation bestimmen.
Das Verbot solch einer Organisation oder deren Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden führt allerdings dazu, dass gemäßigte Personen diese Organisation verlassen oder von einem Eintritt absehen. So verbleiben nur diejenigen Mitglieder, die den radikalen Kurs der Organisation aufrechterhalten.42)
Ausblick
Die Praxis der Extremismusprävention zeigt sich bestrebt, ihre Ansätze, Programme und Maßnahmen auf fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen. Dabei wird der Forschung zu den Risiko- und Schutzfaktoren, die Radikalisierungsprozesse bedingen, sowie zu dem Verlauf solcher Prozesse eine hohe Bedeutung beigemessen. Die Extremismusforschung ist allerdings aus vielerlei Gründen zumindest aktuell nicht in der Lage, präzise Antworten auf einige wichtige Fragen der Praxis zu liefern. Vielmehr zeigt die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, dass die meisten Studien einen explorativen Charakter aufweisen, über keine ausreichende Datenbasis verfügen oder nicht empirisch vorgehen. Sie beschäftigen sich mit einem schwierigen Gegenstand, der aus verschiedenen praktischen und theoretischen Gründen nicht einfach zu erforschen scheint.
Die Unzulänglichkeiten des Phänomens und die Begrenztheit der Aussagekraft vieler Forschungsbefunde sind der Wissenschaft wohl bewusst. Darauf wird in den Publikationen korrekterweise stets hingewiesen. Ein Bewusstsein für die Grenzen der Forschung bei den Rezipienten solcher Forschungsberichte aus Praxis und Politik zu schaffen, ist eines der Ziele dieses Beitrages.
Solange wir nicht im Stande sind, die Forschung in diesem Bereich massiv auszubauen, sollten wir die Umsetzung von Theorien in der Praxis mit der gebotenen Vorsicht vollziehen und kritisch begleiten. Die Forschungslage zeigt uns vor allem, dass wir wenig wissen. Eine Praxis, die sich auf solch eine defizitäre Wissensbasis stützen muss, sollte vorsichtig handeln und im Zweifelsfall Handlungsoptionen unterlassen, wenn Risiken nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können. Die Forschung zeigt uns zudem auch immer wieder, dass unsere Vorgehensweisen nicht immer zielführend sind (Evaluationsforschung). Solche Negativbefunde sollten genauso ernst genommen werden, wie die Befunde, die gute Argumente für unsere Praxisansätze liefern.
Erst in der Gesamtschau unter Berücksichtigung der Erkenntnisse vieler Disziplinen und bei der Betrachtung von sowohl „best“ als auch „bad practices“ können sich die Synthesen der Forschung in diesem komplexen Feld zeigen. So ist es in den letzten Jahren sowohl in der Forschung als auch in der Praxis gelungen, einige Muster zu erkennen, die für die Gestaltung einer effektiven und wirkungsvollen Extremismusprävention von hohem Nutzen zu sein scheinen. Einige wenige davon erachtet der Autor dieses Beitrages an dieser Stelle für erwähnenswert:
- Im Bereich der pädagogischen Arbeit mit radikalisierungsgefährdeten oder sich radikalisierenden jungen Menschen scheinen vor allem Ansätze erfolgversprechend, die dieselben Bedürfnisse ernst nehmen, wie sie auch von radikalen und extremistischen Gruppierungen aufgegriffen werden. Die Präventionsarbeit sollte Alternativen für das Identifikations- bzw. Deutungsangebot extremistischer Gruppen bieten und sogenannte funktionale Äquivalente (Ersatzangebote) schaffen. Die Bedürfnisse der jungen Menschen nach Bedeutung, Anerkennung und Anschluss sollten ohne die Zuwendung an eine extremistische Ideologie befriedigt werden.
- Präventionsansätze, die ausschließlich die Ideologie bzw. das „falsche Religionsverständnis“ thematisieren, laufen Gefahr, in einen kaum zu gewinnenden Wettbewerb mit extremistischen Ideologen zu geraten, die auf jedes Gegenargument eine Antwort parat haben. Ideologische Debatten können des Weiteren als eine Art Gegenpropaganda in Misskredit geraten und somit ihre beabsichtigte Wirkung verfehlen.
- Neuere Erkenntnisse über die Wirkung von sogenannten „Counter Narrativen“ zeigen z.B., dass solche Botschaften vor allem als Instrument der Immunisierung ihre Wirkung entfalten können. Sie scheinen aber weniger geeignet, extremistischer Propaganda zu widersprechen.43) Solche positiven Botschaften sind am effektivsten, wenn sie auf die Bedürfnisse der Zielgruppe und ihre Lebenswelt Rücksicht nehmen.
- Vor allem im Bereich der universellen und der selektiven Prävention sollte die Stärkung der Abwehrkräfte von jungen Menschen in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt werden. Sogenannte „Labelingseffekte“ können in diesem Bereich unerwünschte Nebenwirkungen erzeugen. Dies ist der Fall, wenn Jugendliche z.B. aufgrund eines vagen Verdachtes auf Radikalisierung, oder weil sie radikale Einstellungen aufweisen, mit expliziten Deradikalisierungsmaßnahmen belegt und als potenzielle Terroristen angesehen werden. Der Einsatz unverhältnismäßiger Mittel kann Radikalisierungsprozesse erst recht anheizen, die wahrscheinlich ohne diese Intervention von allein abgeklungen wären.
- Schließlich sollten sich Präventionsansätze, die sich ausschließlich auf der Systemebene des Individuums bewegen, realistische Ziele setzen. Sie können im besten Fall im Bereich der indizierten bzw. der tertiären Extremismusprävention einzelne Personen aus dem Terrorismus herausholen oder einen Rückfall verhindern. Dies wäre bereits ein großer positiver Effekt und ein wichtiger Beitrag zur Eindämmung von Extremismus und Terrorismus. Die Extremismusprävention sollte sich stärker auf diesen wichtigen Bereich fokussieren. Die erhoffte immunisierende Wirkung einer Extremismusprävention, die – weit im Vorfeld von Radikalisierungsprozessen – allgemeine extremismusunspezifische Risikofaktoren adressiert, bleibt ein schwer einzulösendes Versprechen.
Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Vgl. Knefel 2013.
2)
Suedfeld/Tetlock/Streufert 1992; Lloyd/Dean 2015.
3)
Hillmann 2007, 122.
4)
Lenzen 2015, 16.
5)
Vgl. Decker/Kiess/Brähler 2016.
6)
Vgl. Decker/Brähler 2018.
7)
Vgl. Frindte et al. 2011.
8)
Deutscher Bundestag 2018.
9)
Vgl. Simcox/Dyer 2013.
10)
Crenshaw 1998.
11)
In diesem Zusammenhang sind drei Hypothesen bekannt: 1) Nach der Frustrations-Aggressionshypothese spielt eine Frustration bezüglich politischer, ökonomischer und personeller Ziele und Bedürfnisse eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung. 2) Die Hypothese der negativen Identität betont die Rolle von Wutgefühlen und Hilflosigkeit im Angesicht des Mangels an Alternativen. 3) Die Hypothese der narzisstischen Wut lenkt den Fokus auf das unterentwickelte „Selbst“, welches die Phase des primären Narzissmus im Laufe der Entwicklung nicht überwindet (Transition zum erwachsenen Selbst).
12)
Vgl. Richardson 2007.
13)
Vgl. Lipset/Raab 1971.
14)
Vgl. Beelmann 2017.
15)
Übersetzung von Sadowski et al.
16)
Vgl. Rieger/Frischlich/Bente 2013.
17)
Vgl. Jensen/LaFree 2016.
18)
Innenministerkonferenz 2016.
19)
Vgl. Richardson 2007.
20)
Kruglanski/Bélanger/Gelfand/Gunaratna/Hettiarachchi/Reinares/Orehek/Sasota/Sharvit 2013, 559-575.
21)
Vgl. Lützinger 2010.
22)
Vgl. Bjørgo/Horgan 2009.
23)
Vgl. Lützinger 2010.
24)
Bjørgo 2002.
25)
Vgl. Horgan 2009.
26)
Vgl. Rieger/Frischlich/Bente 2013.
27)
Vgl. Horgan 2009.
28)
Bjørgo/Horgan 2009; Horgan 2009.
29)
Coolsaet/de Swielande 2008, 155 folgend.
30)
Vgl. Beam 1983.
31)
Horgan et al. 2016.
32)
Vgl. Bannenberg 2016.
33)
Giebel/Rossegger/Seewald/Endrass 2014, 323-332.
34)
Horgan/Gill/Bouhana/Silver/Corner 2016, Abschlussbericht für das Department of Justice der USA.
35)
Vgl. Gill/Corner 2017.
36)
Vgl. Demant et al. 2008.
37)
Vgl. Klandermans 1997.
38)
Vgl. Rommelspacher 2006.
39)
Horgan 2009; Demant et al. 2008.
40)
Altier/Boyle et al. 2017, 305 ff.
41)
Vgl. Cronin 2011.
42)
Siehe hierzu die Arbeiten von Schiffauer, z. B. 2008.
43)
Frischlich et al. 2017.
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