Bühne des Kapitels / Moduls
Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus
3.3 Prozesse der Radikalisierung
Inhalt des Kapitels / Moduls
Einleitung: Zur Bedeutung der handelnden Person
Wenn von Radikalisierungsprozessen oder von Extremismus und Terrorismus die Rede ist, stehen die handelnden Personen häufig stärker im Fokus öffentlicher Debatten als andere phänomenbedingende Faktoren der Meso- oder Makroebene (siehe Kap. 1). Dabei wird den Motiven und Beweggründen des Individuums bzw. der Täterin oder des Täters meist eine überproportional bedeutende Rolle zugeschrieben und es wird nicht selten der Eindruck erweckt, dass individuelle Motivlagen, wie z. B. Identitätskrisen oder die Suche nach Sinn und Bedeutung, die zentralen Ursachen von Extremismus und Terrorismus sind. Des Weiteren werden individuumsbezogene Faktoren in der Öffentlichkeit auch häufig als wichtige Stellschrauben bei der Eindämmung von Extremismus und Terrorismus angesehen. Gerade wenn es um die Prävention geht, sind die bekannten Ansätze fast ausschließlich personenbezogen: Präventions- oder Deradikalisierungsmaßnahmen zielen zumeist mittelbar oder unmittelbar auf die einzelne Person ab (siehe Kap. 7) und verstehen sich zugleich nicht selten als wichtiger Bestandteil einer Extremismus- und Terrorismusbekämpfungsstrategie.
Die Faktoren, die Extremismus und Terrorismus bedingen, sind allerdings vielfältiger (siehe Kap. 1 und 3.1). Die Personenebene ist nur eine von vielen, und vieles spricht dafür, dass sie nicht einmal die Bedeutendste ist. Lässt man allerdings die Forschungslage zu diesem Thema Revue passieren, so findet man eine große Zahl von Studien und Publikationen, die überwiegend die Einflussgröße „Person“ als Gegenstand aufweisen und sich beispielsweise mit biografischen Aspekten von Terroristinnen und Terroristen beschäftigen, wie z. B. die Arbeiten von Marc Sageman, Edwin Bakker und Paul Gill. Die psychologische Sicht auf das Phänomen scheint dabei stark ausgeprägt, Erklärungsansätze der Politikwissenschaften oder Konfliktforschung hingegen kaum populär.
Besonders nach terroristischen Anschlägen beschäftigen Fragen nach den Beweggründen, Motiven und Persönlichkeiten der Täterinnen und Täter die Öffentlichkeit und es wird zumeist nach Erklärungen in ihren Biografen, ihrer psychischen Verfassung oder ihren persönlichen Erfahrungen gesucht. Auch wenn sich die Wissenschaft darüber einig ist, dass psychopathologische Störungen bei Terroristinnen und Terroristen, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielen, liegt es zunächst immer nahe, eine Erklärung für solche Straftaten in möglichen Persönlichkeitsstörungen, Identitätskrisen, Diskriminierungserfahrungen oder traumatischen Erlebnissen zu suchen. Unser gesunder Menschenverstand erschwert es uns offenbar, in terroristischen Akteurinnen und Akteuren durchschnittliche, psychisch gesunde Menschen zu sehen und es gehört scheinbar zur moralischen Abwertung ihrer Taten (als kriminell, barbarisch, feige und hinterlistig), ihnen die „Normalität“ abzusprechen.
Warum wird dem Faktor „Person“ im Vergleich zu den anderen Größen in der Öffentlichkeit und in Teilen der Wissenschaft eine größere Aufmerksamkeit geschenkt? Möglicherweise ist es die Tatsache, dass konkrete Personen, deren Biografie und deren Persönlichkeit vermeintlich fassbarer und verständlicher sind als undurchsichtige politische Konflikte oder komplexe Organisationszusammenhänge. Die einseitige Fokussierung auf die handelnden Personen bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Faktoren der weiteren Systemebenen (Mikro, Meso, Makro. siehe Kap. 1) kann auf jeden Fall zu einer verzerrten Sicht führen. Des Weiteren stammt ein Großteil der Erkenntnisse über die Einflussgröße „Person“ aus einer Biografieforschung, die sich ausschließlich mit einem kleinen Ausschnitt von terroristischen Akteurinnen und Akteuren beschäftigte, nämlich Individuen,
die Attentate verübt oder versucht haben. Diese Gruppe stellt bekanntlich lediglich die Spitze des Eisberges dar, denn das Engagement von Personen im Terrorismus geschieht im Rahmen einer Vielzahl von Rollen (z. B. in den Bereichen der Unterstützung, Ausbildung, Rekrutierung und Ideologie), die seltener im Fokus der Biografieforschung stehen.
Eine weitere Verzerrungsquelle stellt die Begriffsproblematik dar, die nur sehr ungenau zwischen „Radikalität“, „Extremismus“ und „Terrorismus“ unterscheidet. Die Vorstellung, dass es sich hierbei um unterschiedliche Stufen desselben handelt, ist nicht nur bei Laien stark verbreitet. In der Präventionspraxis wird beispielsweise zu oft unter „Radikalisierungsprävention“, „Extremismusprävention“ und „Deradikalisierung“ bzw. Ausstiegshilfe alles Mögliche zusammengefasst. In der Annahme, dass Radikalität zwangsläufig eine Vorstufe von Extremismus und Terrorismus ist, werden viele Präventionsmaßnahmen als Extremismus- bzw.Terrorismus-Prävention vermarktet, frei nach dem Motto: „Hätten wir in diesem Frühstadium nichts unternommen, dann wäre aus der Person mit Sicherheit später eine Terroristin oder ein Terrorist geworden.“ Zwar gibt es zwischen „Radikalität“, „Extremismus“ und „Terrorismus“ Schnittstellen und Übergänge, die Abgrenzungen zwischen diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen, die vor allem auf der Ebene der „Person“ wichtig erscheinen, werden allerdings allzu oft nicht ausreichend beachtet.
Der vorliegende Beitrag soll sich mit der Einflussgröße „Person“ beschäftigen – wohlwissend, dass das Phänomen der extremistischen Radikalisierung nur multidimensional zu verstehen ist. Weitere relevante Faktoren auf der Mikro-, Meso- und Makroebene (siehe Kap. 1) werden in den anderen Beiträgen dieses Kapitels behandelt. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, aus der Perspektive des handelnden Individuums die vielfältigen Wege hin zur politischen Gewalt aufzuzeigen und auf viele Missverständnisse hinzuweisen, die vor allem dem Praktizierenden ein ganzheitliches Verständnis von relevanten Radikalisierungsprozessen erschweren.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Vgl. Knefel 2013.
2)
Suedfeld/Tetlock/Streufert 1992; Lloyd/Dean 2015.
3)
Hillmann 2007, 122.
4)
Lenzen 2015, 16.
5)
Vgl. Decker/Kiess/Brähler 2016.
6)
Vgl. Decker/Brähler 2018.
7)
Vgl. Frindte et al. 2011.
8)
Deutscher Bundestag 2018.
9)
Vgl. Simcox/Dyer 2013.
10)
Crenshaw 1998.
11)
In diesem Zusammenhang sind drei Hypothesen bekannt: 1) Nach der Frustrations-Aggressionshypothese spielt eine Frustration bezüglich politischer, ökonomischer und personeller Ziele und Bedürfnisse eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung. 2) Die Hypothese der negativen Identität betont die Rolle von Wutgefühlen und Hilflosigkeit im Angesicht des Mangels an Alternativen. 3) Die Hypothese der narzisstischen Wut lenkt den Fokus auf das unterentwickelte „Selbst“, welches die Phase des primären Narzissmus im Laufe der Entwicklung nicht überwindet (Transition zum erwachsenen Selbst).
12)
Vgl. Richardson 2007.
13)
Vgl. Lipset/Raab 1971.
14)
Vgl. Beelmann 2017.
15)
Übersetzung von Sadowski et al.
16)
Vgl. Rieger/Frischlich/Bente 2013.
17)
Vgl. Jensen/LaFree 2016.
18)
Innenministerkonferenz 2016.
19)
Vgl. Richardson 2007.
20)
Kruglanski/Bélanger/Gelfand/Gunaratna/Hettiarachchi/Reinares/Orehek/Sasota/Sharvit 2013, 559-575.
21)
Vgl. Lützinger 2010.
22)
Vgl. Bjørgo/Horgan 2009.
23)
Vgl. Lützinger 2010.
24)
Bjørgo 2002.
25)
Vgl. Horgan 2009.
26)
Vgl. Rieger/Frischlich/Bente 2013.
27)
Vgl. Horgan 2009.
28)
Bjørgo/Horgan 2009; Horgan 2009.
29)
Coolsaet/de Swielande 2008, 155 folgend.
30)
Vgl. Beam 1983.
31)
Horgan et al. 2016.
32)
Vgl. Bannenberg 2016.
33)
Giebel/Rossegger/Seewald/Endrass 2014, 323-332.
34)
Horgan/Gill/Bouhana/Silver/Corner 2016, Abschlussbericht für das Department of Justice der USA.
35)
Vgl. Gill/Corner 2017.
36)
Vgl. Demant et al. 2008.
37)
Vgl. Klandermans 1997.
38)
Vgl. Rommelspacher 2006.
39)
Horgan 2009; Demant et al. 2008.
40)
Altier/Boyle et al. 2017, 305 ff.
41)
Vgl. Cronin 2011.
42)
Siehe hierzu die Arbeiten von Schiffauer, z. B. 2008.
43)
Frischlich et al. 2017.
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