Bundeskriminalamt (BKA)

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Einleitung

Online-Medien sind auch in Deutschland längst selbstverständlicher Teil des Alltags geworden. Die meisten Menschen nutzen das Internet, viele sind über das eigene Smartphone täglich online. Der quasi permanente Zugang zu Informationen und die Möglichkeit, ständig mit anderen verbunden zu sein, führen zu einem fundamentalen Wandel menschlichen Erlebens in der digitalisierten Gesellschaft: „Der Mensch von heute – und zumal der von morgen – denkt, fühlt, erlebt und handelt in der Erwartung, ‘permanently online, permanently connected’ (POPC) zu sein oder doch zumindest sein zu können”.1)

Auch die Verbreitung von Informationen hat sich verändert — im Netz kann quasi jede und jeder eigene Inhalte veröffentlichen – auch Extremistinnen und Extremisten. So machen sich beispielsweise auch rechtsextremistische Personen und islamistische Extremistinnen und Extremisten2) Online-Medien zunutze, etwa um ihre Feinde einzuschüchtern, Angriffe zu koordinieren, Videos von Anschlägen zu verbreiten, Allianzen zu festigen oder um Wissen über Anschlagstaktiken zu vermitteln. Online-Kanäle können im Rahmen sogenannter “Cyber-Kriege” mit Hilfe von Computerviren, Denial-of-Service (DDoS)3)

Angriffen oder gezielte Hacks auch selbst zum Ziel von Angriffen werden. Vor allem aber erleichtern Online-Medien Extremistinnen und Extremisten die Verbreitung von Propaganda, mit deren Hilfe (unter anderem) neue Anhängerschaften rekrutiert werden sollen. Im Gegensatz zu traditionellen Rekrutierungswegen, etwa dem Verteilen von Flyern, können dabei auch Personen erreicht werden, zu denen (zunächst) kein physischer Kontakt besteht.

Natürlich ist die Nutzung von Online-Medien etwas, was extremistische Personen mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern unserer digitalen Welt verbindet, so formuliert es Peter Neumann im Vorwort zum Bericht des Institute for Strategic Dialoge:

„Dass sich auf den Laptops von Terrorverdächtigen Kopien dschihadistischer Online-Magazine befinden und dass sie mit ihren Kameraden per Messenger und in sozialen Netzwerken kommunizieren, ist nicht unbedingt ein Beweis für „Online-Radikalisierung“, sondern zeigt, dass Extremisten – trotz ihrer extremen politischen Ansichten – Produkte ihrer Zeit sind. Oder erwarten wir ernsthaft, dass sich Extremisten nach wie vor Briefe schreiben, ihre Flüge im Reisebüro buchen und ihre Fotos zum Entwickeln ins Labor bringen?“.4)

Propaganda5)

Propaganda ist das vorsätzliche und systematische Streben, Wahrnehmungen zu gestalten, Gefühle und Gedanken zu beeinflussen und Verhalten im Sinne einer Ideologie — meist einer mit absolutem Gültigkeitsanspruch – zu fördern. Propaganda ist kein Merkmal einer bestimmten Ideologie und kein dichotomes Merkmal, eine bestimmte Kommunikation kann mehr oder weniger propagandistisch sein.

Dennoch wird immer wieder befürchtet, dass durch Online-Propaganda die Gefahr sogenannter „verteilter“ Indoktrinationsprozesse (engl. distributed indoctrination) steigt, bei denen Mediennutzende auch durch Extremistinnen und Extremisten jenseits ihres geographischen Umfeldes oder ihrer temporalen Bedingungen radikalisiert werden könnten. Im Gegensatz dazu steht die alte Vorstellung, dass Indoktrination immer eingebettet in einem spezifischen Kontext verläuft (engl. embedded indoctrination).

Das vorliegende Kapitel beleuchtet die Befürchtung einer stark vereinfachten distributed indoctrination über das Internet und gibt Einblicke in die Rolle von Online-Medien im Allgemeinen und Online-Propaganda im Speziellen für extremistische Radikalisierungsprozesse. Dem Internet können in diesem Themenkontext verschiedene Rollen zugesprochen werden: als Verbreiter von extremistischer Propaganda, als Verstärker einer möglichen Wirkung, aber auch als Ort, in dem auch Prävention stattfinden kann. Diese Rollen können darüber hinaus auf verschiedenen Ebenen sichtbar werden. Folgende Punkte können daher als Ausgangspunkt zur Lektüre dieses Kapitels gelesen werden:

Extremistische Propaganda ist im Netz weit verbreitet

Festgehalten werden kann, dass extremistische Propaganda im Netz weit verbreitet ist. Wie groß die Menge an extremistischer Online-Propaganda genau ist, ist schwer zu sagen. Das Angebot verändert sich ständig, nicht zuletzt dadurch, dass auch große Online-Plattformen inzwischen verstärkt gegen extremistische Inhalte vorgehen. Eine erste Einschätzung für den deutschsprachigen Raum liefert das Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet, Jugendschutz.net. Jugendschutz.net berichtet, dass im Jahr 2016 insgesamt 102.423 potenziell jugendgefährdende Inhalte geprüft wurden; 20 Prozent der identifizierten Verstöße entfielen dabei auf extremistische Online-Inhalte.6)

Die Wahrscheinlichkeit, im Netz auf extremistische Angebote zu stoßen, scheint einer finnischen Untersuchung zufolge zu steigen: Während im Jahr 2013 etwa 17 Prozent der finnischen Internetnutzerinnen und -nutzer unter 30 Jahren berichteten, dass sie im Netz schon einmal extremistischen Botschaften ausgesetzt waren, stieg dieser Anteil 2015 bereits auf mehr als 60 Prozent.7) Auch für Deutschland zeigte eine repräsentative Befragung, dass 2016 etwa 40 Prozent der 14- bis 19-Jährigen über Videoplattformen wie YouTube zumindest gelegentlich mit extremistischen Inhalten in Kontakt kamen.8)

Online-Propaganda löst keine Radikalisierung aus – kann Radikalisierungsprozesse aber unterstützen

Die bisherige Befundlage in aktuellen Überblicksarbeiten zeigt, dass der reine Kontakt mit Online-Propaganda nicht als Auslöser, sondern eher als Katalysator innerhalb eines komplexen Radikalisierungsprozesses zu verstehen ist.9) Veränderungen in der digitalen Gesellschaft, die Verfügbarkeit digitaler Gemeinschaften und das Leben als Online-Individuum haben die Möglichkeiten für extremistische Radikalisierungsbemühungen verändert. Nicht mehr zeitgemäß erscheint das Bild eines „Puppenspiels”, bei dem nur die Puppenspielerin oder der Puppenspieler steuert.10) Radikalisierung kann demnach besser als „Tango“ verstanden werden, bei dem eine Partei führt und die andere sich führen lässt. Ob die Strategien, die Propaganda einsetzt, um zu „führen“ (= Push-Faktoren) erfolgreich sind, hängt daher auch von den Eigenschaften des Publikums (= Pull-Faktoren) ab, dass sich „führen” lassen muss.

Es gibt einige Gemeinsamkeiten bezüglich der bedeutsamen Push- und Pull-Faktoren im Rechtsextremismus und islamistischen Extremismus11) – auch wenn es um Online-Propaganda geht. Diese phänomenübergreifenden Faktoren stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels, für Spezifika einzelner Phänomenbereiche verweisen wir auf die Beiträge zur Phänomenologie in diesem Band (s. Kap. 2).

Online-Medien bieten auch neue Möglichkeiten für die Extremismusprävention

Online-Medien sind nicht nur für die Verbreitung und Wirkung extremistischer Propaganda relevant – auch für die Extremismusprävention können sie eingesetzt werden. So können Sozialarbeiterinnen und -arbeiter online ins Gespräch kommen, und politische Bildungsträger erreichen im Netz neue Zielgruppen. Online-Medien bieten in diesem Kontext daher einzigartige Gelegenheiten, sich über Hilfsangebote jenseits des sozialen oder geographischen Nahraums zu informieren.

Die Rolle von Online-Medien muss auf mehreren Ebenen betrachtet werden

Vor diesem Hintergrund beleuchtet das vorliegende Kapitel die Bedeutung von Online-Medien sowohl für extremistische Radikalisierungsprozesse, als auch für Präventionsansätze auf drei Ebenen: auf der „Makro-Ebene“ der digitalen Gesellschaft, der „Meso-Ebene“ virtueller Gemeinschaften, und der „Mikro-Ebene“ des Online-Individuums. Im Fokus stehen jeweils die veränderten Voraussetzungen für Radikalisierungsversuche, die sich in der digitalen Welt ergeben, die Wirkung, die extremistische Propaganda auf die jeweilige Zielgröße (Gesellschaft, Gruppe, Individuum, s. Kap. 3.1-3.3) hat, und welche Implikationen sich daraus für die Prävention ergeben.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen