Bühne des Kapitels / Moduls
Digitaler Wandel, Radikalisierungsprozesse und Extremismusprävention im Internet
3.4 Prozesse der Radikalisierung
Inhalt des Kapitels / Moduls
Einleitung
Online-Medien sind auch in Deutschland längst selbstverständlicher Teil des Alltags geworden. Die meisten Menschen nutzen das Internet, viele sind über das eigene Smartphone täglich online. Der quasi permanente Zugang zu Informationen und die Möglichkeit, ständig mit anderen verbunden zu sein, führen zu einem fundamentalen Wandel menschlichen Erlebens in der digitalisierten Gesellschaft: „Der Mensch von heute – und zumal der von morgen – denkt, fühlt, erlebt und handelt in der Erwartung, ‘permanently online, permanently connected’ (POPC) zu sein oder doch zumindest sein zu können”.1)
Auch die Verbreitung von Informationen hat sich verändert — im Netz kann quasi jede und jeder eigene Inhalte veröffentlichen – auch Extremistinnen und Extremisten. So machen sich beispielsweise auch rechtsextremistische Personen und islamistische Extremistinnen und Extremisten2) Online-Medien zunutze, etwa um ihre Feinde einzuschüchtern, Angriffe zu koordinieren, Videos von Anschlägen zu verbreiten, Allianzen zu festigen oder um Wissen über Anschlagstaktiken zu vermitteln. Online-Kanäle können im Rahmen sogenannter “Cyber-Kriege” mit Hilfe von Computerviren, Denial-of-Service (DDoS)3)
Angriffen oder gezielte Hacks auch selbst zum Ziel von Angriffen werden. Vor allem aber erleichtern Online-Medien Extremistinnen und Extremisten die Verbreitung von Propaganda, mit deren Hilfe (unter anderem) neue Anhängerschaften rekrutiert werden sollen. Im Gegensatz zu traditionellen Rekrutierungswegen, etwa dem Verteilen von Flyern, können dabei auch Personen erreicht werden, zu denen (zunächst) kein physischer Kontakt besteht.
Natürlich ist die Nutzung von Online-Medien etwas, was extremistische Personen mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern unserer digitalen Welt verbindet, so formuliert es Peter Neumann im Vorwort zum Bericht des Institute for Strategic Dialoge:
„Dass sich auf den Laptops von Terrorverdächtigen Kopien dschihadistischer Online-Magazine befinden und dass sie mit ihren Kameraden per Messenger und in sozialen Netzwerken kommunizieren, ist nicht unbedingt ein Beweis für „Online-Radikalisierung“, sondern zeigt, dass Extremisten – trotz ihrer extremen politischen Ansichten – Produkte ihrer Zeit sind. Oder erwarten wir ernsthaft, dass sich Extremisten nach wie vor Briefe schreiben, ihre Flüge im Reisebüro buchen und ihre Fotos zum Entwickeln ins Labor bringen?“.4)
Dennoch wird immer wieder befürchtet, dass durch Online-Propaganda die Gefahr sogenannter „verteilter“ Indoktrinationsprozesse (engl. distributed indoctrination) steigt, bei denen Mediennutzende auch durch Extremistinnen und Extremisten jenseits ihres geographischen Umfeldes oder ihrer temporalen Bedingungen radikalisiert werden könnten. Im Gegensatz dazu steht die alte Vorstellung, dass Indoktrination immer eingebettet in einem spezifischen Kontext verläuft (engl. embedded indoctrination).
Das vorliegende Kapitel beleuchtet die Befürchtung einer stark vereinfachten distributed indoctrination über das Internet und gibt Einblicke in die Rolle von Online-Medien im Allgemeinen und Online-Propaganda im Speziellen für extremistische Radikalisierungsprozesse. Dem Internet können in diesem Themenkontext verschiedene Rollen zugesprochen werden: als Verbreiter von extremistischer Propaganda, als Verstärker einer möglichen Wirkung, aber auch als Ort, in dem auch Prävention stattfinden kann. Diese Rollen können darüber hinaus auf verschiedenen Ebenen sichtbar werden. Folgende Punkte können daher als Ausgangspunkt zur Lektüre dieses Kapitels gelesen werden:
Extremistische Propaganda ist im Netz weit verbreitet
Festgehalten werden kann, dass extremistische Propaganda im Netz weit verbreitet ist. Wie groß die Menge an extremistischer Online-Propaganda genau ist, ist schwer zu sagen. Das Angebot verändert sich ständig, nicht zuletzt dadurch, dass auch große Online-Plattformen inzwischen verstärkt gegen extremistische Inhalte vorgehen. Eine erste Einschätzung für den deutschsprachigen Raum liefert das Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet, Jugendschutz.net. Jugendschutz.net berichtet, dass im Jahr 2016 insgesamt 102.423 potenziell jugendgefährdende Inhalte geprüft wurden; 20 Prozent der identifizierten Verstöße entfielen dabei auf extremistische Online-Inhalte.6)
Die Wahrscheinlichkeit, im Netz auf extremistische Angebote zu stoßen, scheint einer finnischen Untersuchung zufolge zu steigen: Während im Jahr 2013 etwa 17 Prozent der finnischen Internetnutzerinnen und -nutzer unter 30 Jahren berichteten, dass sie im Netz schon einmal extremistischen Botschaften ausgesetzt waren, stieg dieser Anteil 2015 bereits auf mehr als 60 Prozent.7) Auch für Deutschland zeigte eine repräsentative Befragung, dass 2016 etwa 40 Prozent der 14- bis 19-Jährigen über Videoplattformen wie YouTube zumindest gelegentlich mit extremistischen Inhalten in Kontakt kamen.8)
Online-Propaganda löst keine Radikalisierung aus – kann Radikalisierungsprozesse aber unterstützen
Die bisherige Befundlage in aktuellen Überblicksarbeiten zeigt, dass der reine Kontakt mit Online-Propaganda nicht als Auslöser, sondern eher als Katalysator innerhalb eines komplexen Radikalisierungsprozesses zu verstehen ist.9) Veränderungen in der digitalen Gesellschaft, die Verfügbarkeit digitaler Gemeinschaften und das Leben als Online-Individuum haben die Möglichkeiten für extremistische Radikalisierungsbemühungen verändert. Nicht mehr zeitgemäß erscheint das Bild eines „Puppenspiels”, bei dem nur die Puppenspielerin oder der Puppenspieler steuert.10) Radikalisierung kann demnach besser als „Tango“ verstanden werden, bei dem eine Partei führt und die andere sich führen lässt. Ob die Strategien, die Propaganda einsetzt, um zu „führen“ (= Push-Faktoren) erfolgreich sind, hängt daher auch von den Eigenschaften des Publikums (= Pull-Faktoren) ab, dass sich „führen” lassen muss.
Es gibt einige Gemeinsamkeiten bezüglich der bedeutsamen Push- und Pull-Faktoren im Rechtsextremismus und islamistischen Extremismus11) – auch wenn es um Online-Propaganda geht. Diese phänomenübergreifenden Faktoren stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels, für Spezifika einzelner Phänomenbereiche verweisen wir auf die Beiträge zur Phänomenologie in diesem Band (s. Kap. 2).
Online-Medien bieten auch neue Möglichkeiten für die Extremismusprävention
Online-Medien sind nicht nur für die Verbreitung und Wirkung extremistischer Propaganda relevant – auch für die Extremismusprävention können sie eingesetzt werden. So können Sozialarbeiterinnen und -arbeiter online ins Gespräch kommen, und politische Bildungsträger erreichen im Netz neue Zielgruppen. Online-Medien bieten in diesem Kontext daher einzigartige Gelegenheiten, sich über Hilfsangebote jenseits des sozialen oder geographischen Nahraums zu informieren.
Die Rolle von Online-Medien muss auf mehreren Ebenen betrachtet werden
Vor diesem Hintergrund beleuchtet das vorliegende Kapitel die Bedeutung von Online-Medien sowohl für extremistische Radikalisierungsprozesse, als auch für Präventionsansätze auf drei Ebenen: auf der „Makro-Ebene“ der digitalen Gesellschaft, der „Meso-Ebene“ virtueller Gemeinschaften, und der „Mikro-Ebene“ des Online-Individuums. Im Fokus stehen jeweils die veränderten Voraussetzungen für Radikalisierungsversuche, die sich in der digitalen Welt ergeben, die Wirkung, die extremistische Propaganda auf die jeweilige Zielgröße (Gesellschaft, Gruppe, Individuum, s. Kap. 3.1-3.3) hat, und welche Implikationen sich daraus für die Prävention ergeben.
Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Moduls
Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Vorderer et al. 2015, 260.
2)
Rechtsextremistinnen und -extremisten sowie islamistische extremistische Personen sind für eine Vielzahl von deutschsprachigen Online-Propaganda-Angeboten verantwortlich und stehen daher im Fokus dieses Kapitels (Bundesministerium des Innern 2017). Diese Schwerpunktsetzung bedeutet aber nicht, dass andere Ideologien und Gruppierungen keine Online-Propaganda verbreiten oder weniger extremistisch sind. Prinzipiell sind Online-Propaganda und Extremismus kultur- und ideologieübergreifende Phänomene.
3)
Bei einer DDoS-Attacke werden digitale Server gezielt überlastet, indem sie durch unzählige koordinierte Anfragen oder E-Mails bombardiert werden.
4)
Baldauf/Ebner/Guhl 2018, 5.
5)
Frischlich/Rieger 2017; Frischlich 2018.
6)
Glaser et al. 2017.
7)
Kaakinen/Oksanen/Räsänen 2018.
8)
Reinemann et al. 2019.
9)
Hohnstein/Glaser 2017; Meleagrou-Hitchens/Kaderbhai 2017.
10)
Ritzmann im Interview mit Kixmüller 2018.
11)
Ebner 2017.
12)
Hasebrink/Hölig 2017.
13)
Engl. Gatewatcher; Bruns 2009.
14)
Für einen Überblick s. Winter 2015.
15)
Bennett/Livingston 2018.
16)
Mitchell et al. 2018.
17)
Unseren eigenen Analysen zufolge: 15.791mal (Brinkschulte/Frischlich 30.03.2018, Facebook-Engagement via Netvizz)
18)
Vosoughi/Roy/Aral 2018.
19)
Als Meme bezeichnet man kulturtypische Ideen, Stilrichtungen oder Wissensinhalte, die sich von Account zu Account verbreiten. Meist wird die Bezeichnung umgangssprachlich für einen interessanten oder amüsanten Online-Inhalt verwendet, der sich rasch im Netz verbreitet. Oft handelt es sich um Bilder, die mit einer bestimmten Textbotschaft kombiniert werden.
20)
Jugendschutz.net 2016.
21)
Auch staatliche Einzelpersonen können so Propagandistinnen und Propagandisten unterstützen (oder ihnen etwas entgegensetzen). So streitet beispielsweise der amtierende US-Präsident Donald Trump in seinen Tweets häufig den Anstieg einer rechtsextremen Gesinnung ab und unterstützt/legitimiert so indirekt rassistische Äußerungen.
22)
Farkas/Schou/Neumayer 2017.
23)
Local Times Erfurt 2016.
24)
Schatto-Eckrodt et al. ohne Datum.
25)
Collins/Poulsen/Ackerman 2017.
26)
Appelbaum et al. 2017.
27)
Ahmed/George 2017.
28)
Schmitt et al. 2018.
29)
Grimme/Assenmacher/Adam 2018.
30)
Frischlich/Quandt 2019.
31)
Kreißel et al. 2018.
32)
O'Callaghan et al. 2015.
33)
Regnér 2014.
34)
Siehe Infobox: Pariser 2011.
35)
Haim/Graefe/Brosius 2017.
36)
Flaxmann/Rao 2016.
37)
Benigni/Joseph/Carley 2017.
38)
Frankenberger et al. 2018.
39)
Frischlich 2018.
40)
Guess/Nagler/Tucker 2019.
41)
Über die Reichweite der Plattformanbieter hinaus gibt es weitere Meldestellen für Propaganda, Hate Speech und andere problematische Inhalte, beispielsweise das Demokratiezentrum BW.
42)
Hasebrink/Hölig 2017.
43)
Brosius/Esser 1995; Frindte/Haußecker 2010.
44)
Weichert 2007; Marwick/Lewis 2017.
45)
Frischlich/Boberg/Quandt 2017; Preuß/Tetzlaff/Zick 2017.
46)
Etwa Antonio Amadeu Stiftung, Kahane 2015.
47)
firstdraftnews.
48)
jugendschutz.net.
49)
Glaser et al. 2017.
50)
Gollatz/Riedl/Pohlmann 2018.
51)
redirect.
52)
#search-racism-find-truth.
53)
Facebook Newsroom 2017.
54)
Machowecz et al. 2018.
55)
Torok 2010.
56)
Morin/Flynn 2014; Oboler 2015.
57)
Schreiber 2016.
58)
Siehe Infobox: Sunstein 2007.
59)
Dubois/Blank 2018.
60)
Neumann/Baugut 2016.
61)
Del Vicario et al. 2016.
62)
Bright 2017.
63)
Wojcieszak 2008.
64)
Tajfel/Turner 1979.
65)
Atwan 2016.
66)
Ismay 2018.
67)
Die Gezi-Proteste begannen im Mai 2013 in Istanbul mit einer kleinen Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten, die gegen die geplante Umwandlung des Gezi-Parks in ein Einkaufscenter protestierten. Die Polizei reagierte mit voller Härte, der Premierminister Recep Tayyip Erdoğan verurteilte die Proteste aufs Schärfste. In den folgenden Tagen griffen die Proteste auf weitere Städte über und richteten sich zunehmend gegen die autoritäre Führung des Landes.
68)
Giglou/Ogan/d'Haenens 2018.
69)
Haslam et al. 2016.
70)
Rieger/Frischlich/Bente 2019.
71)
Lyons-Padilla et al. 2015; Pfundmair 2018.
72)
McKenna/Bargh 1998.
73)
Kiefer et al. 2017.
74)
Spinney 2017.
75)
Clarke/Ingram 2018.
76)
Smeekes/Verkuyten/Martinovic 2015.
77)
Bruder et al. 2013.
78)
Rieger/Schneider 2018.
79)
Böhm/Rusch/Gürek 2015.
80)
Siehe Infobox: Ebd.
81)
Reinemann et al. 2019.
82)
Kaakinen/Oksanen/Räsänen 2018.
83)
Hsueh/Yogeeswaran/Malinen 2015.
84)
Näsi et al. 2015.
85)
Lyons-Padilla et al. 2015.
86)
Ufuq e. V.
87)
Das Nettz.
88)
Jamal Al-Khatib, Mein Weg.
89)
Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage.
90)
Pettigrew/Tropp 2006.
91)
Walther 2009.
92)
Das Nettz.
93)
von Kaspar/Riffn/Gräser 2017.
94)
Vorderer at al. 2018.
95)
Valkenburg/Peter 2013.
96)
Klicksafe, Rechtsextremismus hat viele Gesichter, 40ff.
97)
Baaken/Schlegel 2017.
98)
Erelle 2015.
99)
Leyendecker/Mascollo 2016.
100)
Eigene Recherche, 24.05.2018.
101)
Rieger/Frischlich/Bente 2013; Rieger et al. 2019.
102)
Morten et al. 2017; Frischlich et al. 2018.
103)
Schmitt et al. 2017.
104)
Rieger et al. 2013.
105)
Jonas et al. 2014.
106)
Hogg et al. 2007; Hogg/Blaylock 2012.
107)
McGregor et al. 1998; Greenberg et al. 2001; Pyszczynski et al. 2006.
108)
Pfundmair 2018.
109)
Frischlich et al. 2015; Rieger/Frischlich/Bente 2017.
110)
Rieger/Frischlich/Bente 2013.
111)
Morten et al. 2017.
112)
Winter 2015.
113)
Eigene Beobachtungen anhand der Analyse prominenter ultra-rechter alternativer Medien.
114)
Stern/Berger 2016.
115)
Neumann 2008.
116)
Kruglanski 2009; Kruglanski et al. 2013.
117)
Qasem/Nordbruch 2017.
118)
Ernst et al. 2017.
119)
Schmitt et al. 2017.
120)
Frischlich et al. 2017, 2018.
121)
Morten et al. 2017.
122)
Doosje/van Eerten 2017.
123)
Die Tränen der Dawa.
124)
Klicksafe.
125)
Junge Islam-Konferenz.
126)
Mein Islam - dein Islam.
127)
Rieger/Morten/Frischlich 2017.
128)
U. a. Dschihadismus im Internet, Spektren salafistischer Diskurse in NRW.
129)
Meleagrou-Hitchens/Kaderbhai 2017.
130)
Engesser/Fawzi/Larsson 2017.
131)
Doosje et al. 2016.
132)
Frischlich 2018b.
133)
strongcitiesnetwork.org.
134)
Brown/Paterson 2016.
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