Bühne des Kapitels / Moduls
Universelle Prävention
5.1 Extremismusprävention in Deutschland – Praxiskonzepte
Inhalt des Kapitels / Moduls
Mit diesem Kapitel wird das Augenmerk auf die Prävention des in den vorangegangenen Abschnitten detailliert beschriebenen Phänomens extremistischer Gewalthandlungen gerichtet.
In der Prävention geht es darum, einen Radikalisierungsprozess erst gar nicht entstehen zu lassen bzw. ihn möglichst frühzeitig zu erkennen und zu unterbrechen. Für den zielgenauen Einsatz von Präventionsmaßnahmen ist ein theoretischer Rahmen notwendig. Erläutert werden in diesem Kapitel (5) die universelle, die selektive und die indizierte Prävention in Abgrenzung zu anderen Systematiken. Dabei unterscheiden sich die Präventionsangebote nach der jeweils angesprochenen Zielgruppe.
Vertieft wird in diesem Artikel die universelle Prävention. Der Unterschied zu allgemeinen Fördermaßnahmen liegt darin, dass in der universellen Prävention das Ziel in der Verhinderung unerwünschter Zustände liegt. Bestimmten Problematiken wird im Idealfall mit nachweislich wirkungsvollen Maßnahmen begegnet. Dies erfolgt in bestimmten Teilgruppen der allgemeinen Bevölkerung, bei deren Auswahl besondere Auf- oder Anfälligkeiten keine Rolle spielen, z. B. Kinder einer bestimmten Altersgruppe.
Für die Umsetzung der universellen Prävention eignet sich besonders eine ressortübergreifende Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen im Sinne eines „Präventions-Mainstreamings“. Um diese Akteure zu beraten, zu schulen und zu unterstützen, sind übergreifende Gremien geeignet, wie z. B. Präventionsräte auf kommunaler und Landesebene. Nach dieser theoretischen Einordnung wird die universelle Prävention im Be reich des Extremismus, insbesondere des Rechtsextremismus, ausgeführt. Die Inhalte dieser Präventionsansätze orientieren sich an den wissenschaftlich nachgewiesenen Risiko- und Schutzfaktoren für Radikalisierungsprozesse. Abschließend werden konkrete Handlungsempfehlungen benannt, wie z. B. die Ermöglichung positiver Erfahrungen mit sozialer Vielfalt oder die Förderung von bestimmten Sozialkompetenzen.
Einleitung
In diesem Beitrag wird der Begriff der „universellen Prävention“ zunächst im allgemeinen Feld der Gewalt- und Kriminalprävention ohne einen Bezug zu einem spezifischen Bereich wie Radikalisierung oder Extremismus hergeleitet und definiert, um im anschließenden Abschnitt über die universelle Prävention von Radikalisierung auf diesen allgemeinen Begriff Bezug nehmen zu können. Für die Konkretisierung erscheint es zudem notwendig, auf die Akteure der universellen Prävention einzugehen. Gleichzeitig werden die Abgrenzungsprobleme zu anderen Arten der Prävention benannt, und die Reichweite der universellen Prävention wird kritisch diskutiert.
Grundsätzlich ist zunächst hervorzuheben, dass es bei der hier vorgenommenen Betrachtung bislang vorliegender Definitionsansätze nicht um eine Beurteilung im Sinne von „richtig“ oder „falsch“ geht, sondern darum, wie brauchbar und nützlich sie auch in der Praxis für die Ein- und Abgrenzung von präventiven Maßnahmen sind. Zu bedenken ist ferner, dass die Einteilung von Präventionsbereichen und damit auch die Kategorisierung, welche Maßnahmen überhaupt zur Prävention gehören und welche nicht, immer auch mit Interessen verbunden ist. Gerade beim Begriff der universellen Prävention ist die Abgrenzung nicht ganz einfach. Die Kategorisierung hat jedoch oft einen direkten Einfluss auf den Zugang zu finanziellen Mitteln und Fördertöpfen und ist damit von besonderer Wichtigkeit.
Außerdem werden gesellschaftliche Entwicklungen immer wieder zu einer Weiterentwicklung auch der Definitionen und Einteilungen führen. Die hier geführte Debatte um die Definition und Klassifikation von Prävention ist daher nicht abschließbar, sondern muss immer wieder neu geführt werden.
Im Vordergrund steht also die Entwicklung einer „Arbeitsdefinition“, bei der die Nützlichkeit und Brauchbarkeit für die Praxis zu betonen sind. Es geht um eine Orientierungshilfe, damit sich so etwas wie eine „gemeinsame Sprache“ entwickeln kann, sodass für jeden verständlich ist, was mit bestimmten Begriffen gemeint ist.
Zur Entwicklung des Begriffs der Universellen Prävention
In der Regel wird zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention2) oder zwischen universeller, selektiver und indizierter Prävention3) unterschieden. Diese Unterteilungen wurden ursprünglich im Bereich der Medizin bzw. im Fachgebiet Public Health entwickelt und anschließend auch von Seiten der Kriminologie übernommen.4)
Ein weiteres zu benennendes Klassifikationsbegriffspaar ist das der Verhaltens- und der Verhältnisprävention, mit dem die Ausrichtung der Maßnahmen auf das Individuum selbst einerseits und die Veränderung der individuellen Lebensumstände anderseits differenziert werden. In den folgenden Ausführungen gehen wir davon aus, dass beide Ausrichtungen beim Verständnis von universeller Prävention mitgedacht sind. In der Medizin findet sich dazu auch der Begriff der Primordialprävention, mit der die Veränderung von gesellschaftlichen Risikofaktoren bezeichnet wird. In der Präventionspraxis gehen diese Bereiche zumeist eng zusammen, weshalb diese Differenzierung rein analytisch bleibt. Im Bereich der Kriminalprävention ist die „klassische“ Unterteilung (primäre, sekundäre und tertiäre Prävention) nach Caplan inzwischen recht verbreitet. Sie ist u. a. auch in §§ 20-24 SGB V festgeschrieben und orientiert sich am Zeitstrahl in Bezug auf das Ereignis einer kriminellen Handlung und lässt sich folgendermaßen darstellen:
Begriff | Zeitraum | Zielsetzung | Riskio- einschätzung |
Primäre Prävention | weit vor dem Ereignis | Verhinderung des Auftretens | kein erhöhtes Risiko |
Sekundäre Prävention | nahe dran am Ereignis | Verhinderung der Verschlimmerung | erhöhtes Risiko |
Tertiäre Prävention | nach dem Ereignis | Verhinderung des Rückfalls | hohes Risiko |
Festzustellen ist allerdings, dass von verschiedenen Autorinnen und Autoren die Begriffe zwar genutzt, jedoch teilweise unterschiedlich gedeutet werden. Insbesondere wird die sekundäre Prävention auch mit situativer Prävention gleichgesetzt, welche auf die Reduzierung von Tatgelegenheiten abzielt.5) Es existiert somit keine einheitliche und klare Definition.
Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Moduls
Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Schreiber 2019.
2)
Vgl. Caplan 1964.
3)
Vgl. Gordon 1983.
4)
Der einzige genuine Ansatz aus der Kriminologie findet sich bei Tonry/Farrington und differenziert zwischen „developmental prevention, community prevention, situational prevention, law enforcement“ (Tonry/Farrington 1994). Dieser Ansatz wird hier nicht weiter aufgegriffen, da sich die Prävention von Radikalisierung im Kern innerhalb der entwicklungsorientierten („developmental“) und der gemeinwesenorientierten („community“) Prävention bewegt. Eine weitere Klassifikation wird von dem United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) eingebracht. Sie unterscheidet nach Art und Ort der Maßnahmen zwischen sozialer, lokaler, situativer und reintegrativer Prävention (Vgl. UNODC 2010).
5)
Vgl. u. a. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat o. J.
6)
U.a. Cowen 1977, 1980; Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
7)
„The classifcation that we propose would restrict the use of the term ‘preventive’ to measures, actions, or interventions that are practiced by or on persons who are not, at the time, suffering from any discomfort or disability due to the disease or condition being prevented. This distinction would serve to eliminate most of what is now encompassed in the old category ‘tertiary’.” (Gordon 1983, 108).
8)
Greenberg/Weissberg 2001.
9)
Vgl. Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
10)
Vgl. Hafen 2004.
11)
Effektstärken geben als statistischer Wert das Ausmaß der Wirkung eines bestimmten Einflussfaktors an.
12)
Diskutiert wird weiterhin: Die Effektstärke von universeller Prävention ist zwar zumeist gering, aber immer in Bezug auf die Gesamtpopulation zu sehen. Bei der selektiven und indizierten Prävention werden oft mittlere bis große Effektstärken erreicht, dies aber nur in Bezug auf die jeweilige Zielgruppe. Bezieht man diese Ergebnisse ebenfalls auf die Gesamtpopulation, sind die Effektstärken u. U. kleiner als bei der universellen Prävention.
13)
Rose 1985.
14)
Ein Beispiel hierfür ist die „Grüne Liste Prävention“, die der Landespräventionsrat Niedersachsen entwickelt hat und in der Präventionsprogramme, eingestuft nach dem Grad ihrer geprüften Wirksamkeit, dargestellt werden.
15)
Vgl. Fixsen et al. 2005.
16)
Rogers 2003.
17)
Vgl. Gruber/Lützinger 2017.
18)
Vgl. Baier 2018.
19)
Beelmann/Jahnke/Neudecker 2017, 90f.
20)
Vgl. Beelmann, Gutachten 2017, 14.
21)
Ebd., 36.
22)
Ebd., 18.
23)
Ebd., 54-59.
24)
Scales/Leffert 2004.
25)
Eine mögliche diese Überlegungen berücksichtigende Formulierung wäre dann „Prävention von religionsbezogenem (ggf. sogar islambezogenem) politischem Extremismus“.
Literatur
Baier, Dirk (2018): Gutachten für den 23. Deutschen Präventionstag am 11. & 12. Juni 2018 in Dresden.
Baumann, Thomas (2012): Quartäre Prävention. In: Pädiatrie up2date 3, Seiten 215-216.
Beelmann, Andreas (2017): Grundlagen einer entwicklungsorientierten Prävention des Rechtsextremismus. Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Broschüre: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/kriminalitaetsbekaempfung-und-gefahrenabwehr/kriminalpraevention/kriminalpraevention-node.html
Beelmann, Andreas (2017): Grundlagen einer entwicklungsorientierten Prävention des Rechtsextremismus, Gutachten im Rahmen eines Wissenschafts-Praxis-Dialogs zwischen dem Landespräventionsrat Niedersachsen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Beelmann, Andreas/Jahnke, Sarah/Neudecker, Clara (2018): Radikalisierung Jugendlicher und Extremismusprävention. In: Beelmann,Andreas (Hrsg.): Toleranz und Radikalisierung in Zeiten sozialer Diversität. Beiträge aus Psychologie und Sozialwissenschaften, S. 90-106. Schwalbach/Ts, Wochenschau Verlag.
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) (o. J.): Artikel Sicherheit Kriminalprävention. Online: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/kriminalitaetsbekaempfung-und-gefahrenabwehr/kriminalpraevention/kriminalpraevention-node.html. Zuletzt abgerufen: 13.03.2019.
Caplan, Gerald (1964): Principles of Preventive Psychiatry. New York, Basic Books.
Cowen, Emory L. (1977): Baby-steps toward primary prevention. In: American Journal of Community Psychology, 5, Seiten 1-22.
Cowen, Emory L. (1980): The wooing of primary prevention. In: American Journal of Community Psychology, 8, Seiten 258-284.
Fixsen, Dean L./Naoom Sandra F./Blase, Karen A./Friedman, Robert M./Wallace, Frances (2005): Implementation research: A synthesis of the literature. Tampa, University of South Florida.
Gordon, Robert S. (1983): An operational classifcation of disease prevention. In: Public Health Reports, 98, Seiten 107-109.
Greenberg, Mark T. /Weissberg, Roger P. (2001): In the name of prevention: Commentary on “Priorities for prevention research at NIMH”. In: Prevention and Treatment, 4, Art. 25.
Grüne Liste: https://www.gruene-liste-praevention.de/nano.cms/datenbank/information, aufgerufen am 28.3.2019.
Hafen, Martin (2004): Was unterscheidet Prävention von Gesundheitsförderung? In: Prävention 1/2004, S. 8-11.
IOM (1994): Reducing Risks for Mental Disorders: Frontiers for Preventive Intervention Research. Institute of Medicine US, Committee on Prevention of Mental Disorders, Mrazek, Patricia J./Haggerty Robert (Hrsg.). Washington, DC, National Academy Press.
IOM/NRC (2009): Preventing Mental, Emotional, and Behavioural Disorders Among Young People: Progress and Possibilities; National Research Council (US) and Institute of Medicine (US) Committee on the Prevention of Mental Disorders and Substance Abuse Among Children, Youth, and Young Adults: Research Advances and Promising Interventions; Editors: O’Connell, Mary-Ellen/Boat, Thomas/Warner, Kenneth E.
Lützinger, Saskia/Gruber, Florian (2017): Extremismusprävention in Deutschland. Herausforderungen und Optimierungspotential. Wiesbaden, Bundeskriminalamt.
Meier, Bernd-Dieter (2010): Kriminologie, 4. Aufage. München, C.H. Beck.
Rogers, Everett (2003): Diffusion of Innovations, 5th Edition. New York, Simon and Schuster.
Rose, Geoffrey (1985): Sick Individuals and Sick Populations. In: International Journal of Epidemiology 14, Seiten 32-38.
Scales Peter C./Leffert Nancy (2004): Developmental assets: A synthesis of the scientific research on adolescent development (2. Auf.). Minneapolis Search Institute.
Schreiber, Verena (2019): Kommunale Kriminalprävention in Deutschland 2018 – Fortschreibung einer Bestandsaufnahme 2007. Bonn, Nationales Zentrum für Kriminalprävention.
Tonry, Michael/Farrington, David P. (Hrsg.) (1995): Building a Safer Society: Strategic Approaches to Crime Prevention, Crime and Justice, Vol. 19. The University of Chicago Press.
Wettstein, Felix (2008): Gesundheitsförderung und Prävention – ein Beitrag zur Klärung des oft diskutierten Verhältnisses unter besonderer Berücksichtigung der Suchtthematik. In: Abhängigkeiten 2/2008, Seiten 41-51.