Bundeskriminalamt (BKA)

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Selektive Prävention“ wendet sich an Personen, die gefährdet erscheinen, sich rechtsextremen und islamistischen Positionen und Organisationen zuzuwenden. Als „gefährdet“ werden im Folgenden einzelne Personen (selten auch Gruppen) verstanden, die durch konkrete Positionen und Verhaltensweisen Hinweise darauf geben, dass solche Prozesse zu befürchten oder bereits im Gange sind. Allerdings sind diese Hinweise meist unspezifisch und ihre Wahrnehmung ist immer geprägt von persönlichen Deutungsfiltern und gesellschaftlichen Kontexten. Dies muss bei jeder Bewertung von Hinweisen mitbedacht werden. Andernfalls können präventive Ansprachen und Maßnahmen stigmatisierend wirken und Polarisierungsprozesse sowie ggf. Prozesse hin zum Extremismus noch befördern.

Anbieter von selektiv-präventiven Maßnahmen sind neben speziell darauf ausgerichteten Organisationen und Projekten nicht zuletzt die Regelsysteme von Schule oder Jugendarbeit, die entsprechend aufgestellt sein sollten. Maßnahmen der selektiven Prävention sollten immer auf die jeweilige Person und deren soziales System zugeschnitten sein. Voraussetzung für ihr Gelingen sind u. a. eine akzeptierende Grundhaltung und eine belastbare (Arbeits-)Beziehung. Gemeinsam mit der potenziell gefährdeten Person müssen sodann alternative Perspektiven und soziale Bezüge entwickelt werden. Erst auf dieser Grundlage können ideologische Anschauungen und Weltbilder infrage gestellt sowie Hinwendungen zu anti-demokratischen Gruppierungen gestoppt werden.

Einleitung

Im Dreiklang von universeller, selektiver und indizierter Prävention ist das Feld der selektiven Prävention wohl das Schillerndste und am schwersten zu Umreißende.1)Selektive Prävention richtet sich an „definierte Risikogruppen“,2) d. h. an Personen, die ein erhöhtes Risiko aufweisen, bestimmte als problematisch bzw. als unerwünscht betrachtete Erscheinungsformen auszuprägen. Das klingt zunächst eindeutig. Doch zumindest im Handlungsfeld der Extremismusprävention ist die Zielgruppe selektiver Präventionsmaßnahmen keineswegs eindeutig definiert.3) Die einschlägige (deutschsprachige) Fachliteratur macht vielmehr deutlich, dass der Begriff der „Risikogruppe“ bzw. der diese Gruppe definierenden „Risikomerkmale“ oder „-faktoren“ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird:4)

In der einen Lesart bezieht er sich auf Individuen und Gruppen, denen ein erhöhtes Radikalisierungsrisiko im Sinne einer besonderen – durch Lebensumstände und -erfahrungen oder auch „Persönlichkeitsmerkmale“ bedingten – „Vulnerabilität“ (hier zu deuten als Ungeschütztheit, Empfänglichkeit) gegenüber extremistischen Deutungs- und Gruppenangeboten zugesprochen wird. Eine andere Deutung orientiert sich dagegen an konkreten Erscheinungsformen: Als risikobehaftet oder gefährdet (engl.at risk“ ) gelten hier solche jungen Menschen, die durch konkrete Positionierungen, Verhaltensweisen, soziale Kontakte und Bezüge auffallen oder aufgefallen sind, die als mögliche Anzeichen einer beginnenden inhaltlichen und/oder sozialen Annäherung an extremistische Strömungen erachtet werden.

Auch infolge dieses breiten Begriffsverständnisses (bzw. dieser breiten Verwendungspraxis) weist das Arbeitsfeld der „selektiven Prävention“ Unschärfen an den Schnittstellen zur indizierten Prävention auf, die sich an Personen mit manifestem Risikoverhalten richtet. Erst recht gilt das für die universelle Prävention:5) Diese hat allgemein vorbeugenden Charakter und ihre Angebote wenden sich – etwa in Schule und Jugendarbeit – an alle Jugendlichen (vgl. Kapitel 5.1). Wenn sich aber inhaltlich identische Angebote an spezifische Zielgruppen richten, weil diese aufgrund bestimmter Gruppenmerkmale als stärker „gefährdet“ gelten, wären sie der ersten Lesart zufolge bereits dem Feld der selektiven Prävention zuzurechnen.

Noch etwas führt zu Überschneidungen mit den anderen beiden Präventionsfeldern: Bei der Übernahme extremistischer Orientierungen und Einfindung in extremistische Gruppierungen handelt es sich in der Regel um prozesshafte Entwicklungen mit fließenden Übergängen. Kategorisierungen zur Beschreibung solcher Prozesse (gilt jemand noch als „gefährdet“ oder bereits als „ideologisiert“ oder „involviert“?) können dementsprechend niemals „objektiv“ sein, sondern sind in hohem Grade abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld und den jeweils kategorisierenden Personen (mehr dazu s. u.).

Infolgedessen findet sich in der Praxis ein breiter „Korridor“ unterschiedlichster Maßnahmen, die der selektiven Prävention zugerechnet werden können: Sie reichen von Angeboten der politischen Bildung und Demokratieförderung für Schulklassen (z. B. einer Altersstufe) bis zu passgenauen Unterstützungs- und Problembearbeitungsmaßnahmen für einzelne Jugendliche oder Erwachsene, die sich bereits in extremistischen Szenen bewegen.

Im Folgenden wird zunächst dargelegt, welches Zielgruppenverständnis selektiver Prävention die Autorinnen und Autoren bei der pädagogischen Extremismusprävention aus welchen Gründen für angemessen halten. Das so umrissene Handlungsfeld bildet den inhaltlichen Rahmen für die weiteren Ausführungen dieses Kapitels.

In der Darstellung gehen wir zunächst phänomenübergreifend vor, das heißt, wir beschreiben Zielgruppen der Arbeit, potenzielle Signale von Annäherungs- und Einfindungsprozessen in den Extremismus sowie Formate und Vorgehensweisen bzw. Maßnahmen der Prävention – soweit möglich – zunächst unabhängig davon, ob es sich um das Phänomenfeld „Rechtsextremismus“ oder um „islamistischen Extremismus“ handelt. Aus dieser Vorgehensweise folgt jedoch nicht, dass beide Phänomene gleichzusetzen sind oder auch phänomenübergreifend, d. h. durch generalisierte Präventionsansätze bearbeitet werden könnten. Zwar gibt es bei islamistischem und rechtem Extremismus große Überschneidungsbereiche in den Motiven der Hinwendung zu „radikalen“ oder „extremen“ Positionen, Ideologien und Gruppierungen: Es sind verschiedenste Entfremdungserfahrungen bzw. Wahrnehmungen mangelnder Zugehörigkeit und Anerkennung (in der Familie, dem sozialen Umfeld, als Angehöriger einer diskriminierten Gruppe etc.), die dazu führen, dass „problematische“ (ideologische) Angebote einzelne Jugendliche und junge Erwachsene anziehen. Doch gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen Hinwendungsbewegungen zu rechtem und islamistischem Extremismus. Diese resultieren aus den Besonderheiten der ideologischen Konstrukte, die sie für verschiedene Personengruppen unterschiedlich attraktiv machen,6)aus unterschiedlichen gesamtgesellschaftlichen Bewertungen der jeweiligen Phänomene sowie aus dem unterschiedlichen gesellschaftlichen Status von Akteuren, die sich diesen Strömungen jeweils überwiegend anschließen („Einheimische“ versus „Zugezogene“).7) In den einzelnen Abschnitten werden deshalb jeweils die Besonderheiten und Unterschiede der Phänomenbereiche hervorgehoben.

Das Handlungsfeld „Linksextremismus“ wird in dieser Darstellung überwiegend ausgeklammert. Es ist auf der Phänomen- und auf der Präventionsebene mit den anderen beiden bereits genannten Bereichen nicht unmittelbar vergleichbar. Die Ursachenforschung in den Bereichen „Rechtsextremismus“ und „islamistischer Extremismus“ lässt den Schluss zu, dass verschiedene Ansätze und Vorgehensweisen aus dem etablierten Präventionsfeld „Rechtsextremismus“ auf das Handlungsfeld „islamistischer Extremismus“ übertragbar sind.8) Für den Bereich „Linksextremismus“ gilt dies aber eher nicht: Einmal fehlt es hier an Forschung, die vergleichbare, d. h. für pädagogische Prävention relevante Zusammenhänge in den Blick nimmt9) und auf die sich Übertragungs- und Weiterentwicklungsüberlegungen stützen könnten. Erfahrungen aus der Praxis zeigen zudem, dass etablierte Ansätze aus anderen Präventionsfeldern auf das Handlungsfeld „Linksextremismus“ nicht übertragbar sind, da die anvisierten Zielgruppen mit den dort erprobten Maßnahmen kaum erreichbar sind. Auch existiert de facto keine substanzielle Praxis der selektiven Prävention im Handlungsfeld des Linksextremismus, deren Ansätze und Erfahrungswerte vergleichend vorgestellt und diskutiert werden könnten. Nicht zuletzt unterscheiden sich aktuelle, unter dem Begriff des „Linksextremismus“ in Deutschland zusammengefasste Phänomene10) z.B. bezüglich Stellenwert und Qualität von Gewalt deutlich von den anderen beiden Phänomenfeldern.11)

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen