Bühne des Kapitels / Moduls
Handlungsfeld "Indizierte Extremismusprävention"
5.3 Extremismusprävention in Deutschland – Praxiskonzepte
Inhalt des Kapitels / Moduls
Indizierte Extremismusprävention sollte sich auf Interventionen bei verfestigten Radikalisierungsprozessen und die Prävention von (erneuten) extremistischen Straftaten konzentrieren. Sie richtet sich damit primär an sogenannte Aussteiger sowie Personen und deren Bezugspersonen, bei denen bereits deutliche extremistische Einstellungen und Verhaltensweisen bestehen. Dementsprechend umfasst sie sowohl die Aspekte der Deradikalisierung als auch der Loslösung aus einer radikalisierten Gruppe bzw. den Verzicht auf extremistisch begründete Straftaten (Disengagement). Durchgeführte Maßnahmen sollten neben der betroffenen Person auch immer das soziale Umfeld einbinden, um reale Gelegenheiten und Bedingungen eines Ausstieges zu sichern.
Die grundlegende Präventionsarbeit mit den Klientinnen und Klienten beruht dabei auf allgemeinen Prinzipien der Beratung mit Aufbau einer Vertrauensbeziehung, Auftragsklärung, Akzeptanz der Person sowie Entwicklung einer realistischen Perspektive sozialer Integration. Zudem ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit beispielsweise zwischen Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Akteuren sinnvoll. Diese Aspekte sowie fachliche und organisatorische Standards können dann auch wesentlich zum Erfolg einer Beratung beitragen. Dringend notwendig im Bereich der indizierten Prävention sind eine Evaluation sowie der Ausbau und eine stärkere Standardisierung der bestehenden Beratungsangebote, um Wirkfaktoren überprüfen zu können, sowie eine stärkere Auseinandersetzung mit Sicherheits- und Gefährdungsaspekten in der Beratungspraxis.
Definition indizierter Prävention
Für das Gelingen einer Präventionsmaßnahme ist es von entscheidender Bedeutung, dass Ziele, Zielgruppe und Fokus der Maßnahme eindeutig definiert werden. Indizierte Prävention richtet sich im Gegensatz zur universellen Prävention, in der die Allgemeinbevölkerung oder Bevölkerungsgruppen adressiert werden, und der selektiven Prävention, in der gezielt Risikogruppen angesprochen werden, in erster Linie an Menschen, bei denen schon eine Problematik zu erkennen ist, ohne dass jedoch bereits ein Vollbild der Problematik besteht, das eine Intervention im engeren Sinne erforderlich macht. Der Begriff der indizierten Prävention wird allerdings in der Literatur von dem Begriff der tertiären Prävention nicht immer scharf abgegrenzt (oder zum Teil auch synonym verwendet).1) Anders als die indizierte Prävention, bei der beginnende problematische Entwicklungsverläufe beeinflusst werden sollen, zielt die tertiäre Prävention auf die Vermeidung von Folgeschäden und vom erneuten Auftreten eines ungünstigen Ereignisses ab. Hier besteht eine starke Überschneidung des Begriffs der tertiären Prävention mit dem der Intervention (siehe auch Kapitel 5.1 „Universelle Prävention“).
Für den Bereich der Extremismusprävention ergeben sich (in Abhängigkeit der Zieldefinition der präventiven Maßnahme) dabei Probleme der Abgrenzung der indizierten Prävention von selektiver Prävention sowie Intervention.
Ist das primäre Ziel, einen Radikalisierungsprozess unabhängig vom Vorliegen extremistischer Straftaten zu beeinflussen, so müssen indizierte Präventionsmaßnahmen zu Beginn eines Radikalisierungsprozesses ansetzen. Hier ist die Abgrenzung von der selektiven Prävention oft schwierig. Diese wendet sich zwar per Definition an Risikogruppen ohne bestehende Radikalisierungstendenz, muss aber, da diese Risikogruppen nicht klar definiert sind und zur Vermeidung von Stigmatisierungen, letztlich auf den Indikator einer beginnenden Radikalisierung zurückgreifen (siehe auch Kapitel 5.2 „Selektive Prävention“). Bereits verfestigte Radikalisierungsprozesse bis hin zum Extremismus im Sinne einer ideologisch begründeten prinzipiellen Ablehnung der herrschenden Gesellschaftsordnung würden in der Logik der personenbezogenen Prävention (universell, selektiv, indiziert) letztlich unter den Aspekt der Intervention gefasst werden müssen.
Kritisch zu betrachten ist bei diesem Ansatz allerdings, dass Radikalisierungsprozesse zwar einen Risikofaktor für die Entstehung von extremistischer Gewalt darstellen können, aber letztlich überwiegend eben nicht in gewalttätigen Handlungen münden, sondern in erster Linie Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte und Entwicklungen sind (siehe auch Kapitel 1 sowie Kapitel 3.1). Radikalisierungsprozesse sind aber insbesondere dann „präventionswürdig“, wenn sie mit einem erhöhten Risiko für extremistische Straftaten verbunden sind, da ansonsten die Gefahr einer Kriminalisierung und unter Umständen auch Pathologisierung von Einstellungen besteht.
Dementsprechend sollte (indizierte) Prävention vornehmlich das Ziel haben, extremistische Straftaten zu verhindern und bei Personen ansetzen, bei denen Radikalisierungsprozesse mit einem steigenden Risiko für extremistische Straftaten einhergehen bzw. bereits Hinweise auf geplante Straftaten bestehen (Abbildung 1). Hierbei ist die Abgrenzung von der Intervention im engeren Sinne nicht immer eindeutig, da auch diese bei bereits straffälligen Personen letztlich einen präventiven Effekt für erneute Straftaten haben kann (indizierte Kriminalprävention im engeren Sinne).2) Zudem ist bei der indizierten Prävention, wie in Abbildung 1 dargestellt , oft ein vernetztes Arbeiten von Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen notwendig, um den Aspekten einer Verhinderung von Straftaten, einer Risikoeinschätzung für Straftaten sowie der sozialen Integration und Deradikalisierung gerecht zu werden. Gerade beim Eingreifen der Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit geplanten Straftaten ist sicherlich der Begriff Intervention ebenfalls angemessener als der der indizierten Prävention (siehe unten „Praxisbeispiel indizierter Prävention“).
Wir definieren daher die indizierte Extremismusprävention als Interventionen bei manifesten Radikalisierungsprozessen und die Prävention (erneuter) extremistischer Straftaten und fokussieren uns in diesem Beitrag auf diese Aspekte. Zielgruppe der indizierten Prävention in diesem Sinne sind dementsprechend sogenannte Aussteigerinnen und Aussteiger sowie Personen, bei denen bereits deutliche extremistische Einstellungen und Verhaltensweisen zu beobachten sind und die ggf. durch strafrechtlich relevante oder delinquente, extremistisch begründete Taten aufgefallen sind. Dies schließt auch die Arbeit mit Angehörigen und dem Umfeld der Personen ein. Indizierte Prävention in diesem Sinne hat sicherlich im Vergleich zur universellen und selektiven Prävention den am stärksten kriminalpräventiven Effekt.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Siehe z.B. Ceylan/Kiefer 2018.
2)
Eilers/Gruber/Kemmesies 2015.
3)
Vgl. Mücke 2017.
4)
Vgl. Altier/Thoroughgood/Horgan 2014; Biene/Junk 2017.
5)
Vgl. Ceylan/Kiefer 2018.
6)
Vgl. Hofinger/Schmidinger 2017.
7)
Vgl. El-Mafaalani/Fathi/Mansour/Müller/Nordbruch/Waleciak 2016.
8)
Vgl. Ebd. 2016.
9)
Vgl. Mücke 2017.
10)
Vgl. Gruber/Lützinger/Kemmesies 2016.
11)
Vgl. Eilers et al. 2015.
12)
Vgl. Baier 2018.
13)
Vgl. Gruber/Lützinger/Kemmesies 2016.
14)
Vgl. van den Berg/van Hemert/van Vliet 2018.
15)
Vgl. Kober 2017.
16)
Vgl. Steffen 2015.
17)
Vgl. Glaser 2017.
18)
Vgl. Kober 2017.
19)
Vgl. Rabasa et al. 2010.
20)
Vgl. Horgan 2008.
21)
Vgl. El-Mafaalani et al. 2016.
22)
Vgl. Kober 2017; El-Mafaalani et al. 2016.
23)
Vgl. Ceylan/Kiefer 2018.
24)
Ebd. 2018.
25)
Vgl. El-Mafaalani et al. 2016.
26)
Vgl. Institute for Strategic Dialogue 2010.
27)
Vgl. Rabasa/Pettyjohn/Ghez/Boucek 2010.
28)
Vgl. Harris/Gingart/Drake 2017.
29)
Vgl. Leuschner 2017.
30)
Vgl. Dugas/Kuglanski 2014; Lukas 2012; Kober 2017.
31)
Vgl. Fazel/Singh/Doll/Grann 2012.
32)
Vgl. Coid/Ullrich/Kallis 2013.
33)
Vgl. Scarcella/Page/Furtado 2016.
34)
Pressman/Flockton 2012.
35)
Egan/Cole/Cole/Alison/Alison/Waring/Elntib 2016.
36)
Böckler/Allwinn/Hoffmann/Zick 2017.
37)
Vgl. Borum 2015; Lloyd/Dean 2015.
38)
Vgl. Sarma 2017.
39)
Vgl. Ponsot et al. 2018.
40)
Vgl. Lützinger/Gruber 2017.
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