Bühne des Kapitels / Moduls
Extremismuspräventionslandschaft – eine Bestandsaufnahme präventiver Angebote in Deutschland sowie ausgewählter Präventionsstrategien aus dem europäischen Ausland
7. Extremismuspräventionslandschaft
Inhalt des Kapitels / Moduls
Frankreich
Im Februar 2018 stellte die französische Regierung den neuen nationalen Plan zur Prävention der Radikalisierung mit dem Titel „Prévenir pour Protéger (vorbeugen, um zu schützen)“ vor.44) Der Maßnahmenkatalog beinhaltet die Vernetzung der Ressorts Justiz, Bildung und Soziales unter der Federführung des interministeriellen Komitees (CIPD) der französischen Regierung. Dies unterstreicht zwar den politischen Willen Frankreichs, eine nachhaltige Präventions- und Deradikalisierungs-Strategie aufzubauen, verdeutlicht aber auch das Verständnis französischer Sicherheitspolitik, staatliche Kompetenzen nicht oder nur begrenzt an lokale und kommunale Akteurinnen und Akteure abzugeben. Die Regierung geht davon aus, dass sich staatlich koordinierte Präventionsarbeit besser kontrollieren lässt und eine höhere Wirksamkeit erreicht. Frankreichs zentralisierter Ansatz ist nach dem deutlichen Anstieg radikalisierter Personen sowie Ausreisender in die Kampfgebiete des Irak und Syrien nicht unumstritten. In jüngster Vergangenheit geriet der französische Strafvollzug zunehmend in die Kritik. Überbelegung sowie finanzielle Engpässe und die damit einhergehende fehlende Betreuung von Inhaftierten werden oft als eine Ursache für mögliche Radikalisierungsprozesse vermutet. Offensichtlich liegt der Schwerpunkt auf dem Strafvollzug und der Unterbringung von Inhaftierten. Die Umsetzung der Maßnahme des neuen nationalen Plans, bis zu 1.500 neue Haftplätze zu schaffen, um die grundsätzliche Trennung zwischen Radikalisierten, Risikopersonen und nicht-radikalisierten Inhaftierten zu gewährleisten, wird aufmerksam verfolgt. Über 512 Insassinnen und Insassen sind derzeit allein im Zusammenhang mit Terrorismus inhaftiert. Geplant ist eine intensive und individuelle Betreuung nach „dänischem Vorbild“. Diese Maßnahmen gelten sowohl für Prävention als auch Intervention.45) In der öffentlichen Debatte wird vielmals das Beispiel des Attentäters Amedy Coulibaly angeführt. Dieser hatte sich vor seinem Anschlag auf den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher (2015) offenbar in der Haft radikalisiert. Geplant sind darüber hinaus Fortbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen gegen extremistische Weltbilder an Schulen sowie in Sportvereinen und Unternehmen.
Innerhalb Europas sticht Frankreich aus vielerlei Gründen hervor. Der zentralistische Ansatz und das Verständnis, als Republik die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, erweist sich als möglicher Stolperstein wirksamer Extremismusprävention.46) Gesetzliche Verbote wie zum Beispiel 2003 das Tragen islamischer Frauenkleidung für Schülerinnen an der Schule und Bedienstete im öffentlichen Dienst und 2010 das Tragen der Burka in der Öffentlichkeit wurden von Teilen der Gesellschaft gelobt, andere sind der Meinung, dass dadurch der Radikalisierung eines Teils der muslimisch geprägten Jugend in den Vorstädten Vorschub geleistet wurde.47)
Deutlich wird der Mangel an zivilgesellschaftlichen Strukturen und einer dauerhaften Vernetzung staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen. Kritiker bemängeln die fehlende Autonomie zivilgesellschaftlicher Träger sowie ein fehlendes Verständnis für die Präventionsarbeit als Unterstützung und Begleitung von Individuen. Demzufolge würde Prävention noch immer als „vorbeugende Repression“ gegen radikalisierte Abweichler der französischen Gesellschaft verstanden. Frankreichs Bemühungen, staatliche Maßnahmen rasch und zielführend zu verwirklichen, werden auch künftig mit Spannung verfolgt.
Alle drei vorgetragenen nationalen Präventionsstrategien gegen den Extremismus verdeutlichen die Notwendigkeit wissenschaftlich objektiver Begleitforschung (Evaluation). Bis heute liegen jedoch Evaluationsergebnisse, falls zugänglich, nur in Form mangelhaft dokumentierter Endberichte vor. Prozessbegleitende und transparente Evaluationsmaßnahmen sind somit schwer nachvollziehbar. Mit dem Anspruch, die Extremismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen und dieser mit einem ganzheitlichen Ansatz zu begegnen, haben Großbritannien, Dänemark und Frankreich nationale Präventionsstrategien initiiert, die der Strategie der deutschen Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung ähneln. Im Unterschied zur deutschen Präventionslandschaft liegt der aktuelle Schwerpunkt der vorgestellten Präventionsprogramme jedoch auf dem religiös begründeten Extremismus (Islamismus/Salafismus). Obwohl Links-und Rechtsextremismusprävention nicht vollkommen außen vor bleiben, werden sie weitestgehend ausgeklammert. Eine Ausnahme bildet Großbritannien, das sich seit Jahrzehnten mit rechtsextremistischen Erscheinungsformen, insbesondere im Umfeld des britischen Fußballs48) 49),befasst und mit dem Nordirland-Konflikt auseinandersetzt. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans CONTEST werden repressive ebenso wie präventive „vertrauensbildende“ Maßnahmen wie „Community Policing“ (Bürgernahe Polizeiarbeit) im Kampf gegen den Rechtsextremismus eingesetzt.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Lützinger 2010, 67 folgend.
2)
Die Bundesregierung 2016, 17.
3)
Die 2017 gegründete und durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Stelle am Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen erforscht Radikalisierungshintergründe und Strukturen der linken militanten Szene, um daraus Präventionsansätze zu entwickeln.
4)
Bezieht sich auf die Bundesförderprogramme „Zusammenhalt durch Teilhabe“ und „Demokratie leben!“ (vgl. hierzu auch Kap. 6).
5)
Sämtliche Modulabschlussberichte des PüG-Projekts können auf der Homepage des Bundeskriminalamts heruntergeladen werden. Diese umfassen eine umfassende Literaturrecherche, die Darstellung der Präventionslandschaft 2014/2015 sowie eine Expertenbefragung, in der Präventionspraktiker hinsichtlich etwaigen Optimierungspotenzials in der Extremismusprävention befragt wurden.
6)
Zur Einteilung nach IOM - Institute of Medicine/National Research Council - vergleiche Kapitel 5.1 im vorliegenden Band.
7)
Gruber/Lützinger 2017, 12.
8)
Die Berechnung erfolgte unter Vernachlässigung bundesweiter Angebote und solcher, die sowohl in mind. einem Bundesland im Osten als auch im Westen, aber nicht deutschlandweit arbeiten (n=340). Hierunter fallen nach hiesigem Verständnis auch Internetangebote, sofern der Zugang nicht nur einer speziellen Zielgruppe möglich ist (z. B. Jugendliche aus Stadt X, die sich über ein Passwort einloggen). Das Bundesland Berlin wurde hier dem Osten zugeordnet.
9)
Bundesprogramm Demokratie leben 2019, zu Bundesförderprogrammen vgl. auch Kap. 6.
10)
Anlass: Ermordung einer minderjährigen deutschen Staatsangehörigen durch einen afghanischen Staatsangehörigen am 27.12.2017.
11)
Anlass: Verdacht des gemeinschaftlichen Totschlags durch einen syrischen und irakischen Staatsangehörigen zum Nachteil eines Deutsch-Kubaners am 26.08.2018.
12)
Wiederholt rechtsextremistische Konzert- und Rednerveranstaltungen mit tausenden Teilnehmern.
13)
Größte organisationsübergreifende Kampfsportveranstaltung der rechtsextremistischen Szene in Europa.
14)
Etwa: Ägypten, Algerien, Indonesien, Jemen, Jordanien, Saudi Arabien, Tunesien.
15)
Ursächlich hierfür sind die angespannte geo- und gesellschaftspolitische Lage im Nahen Osten und in Nordafrika sowie die hiermit verbundenen sozialen Spannungen, welche Unruhen auslösen und die politische Stabilität nachhaltig beinträchtigen. Akteure aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und internationalen Organisationen stehen der staatlichen Extremismusprävention in Nicht-EU-Staaten (z. B. in Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten u. a.) grundsätzlich skeptisch gegenüber, da repressive Maßnahmen und die Anwendung von Gewalt gegen zivilgesellschaftliche Gruppen wie Menschenrechtsaktivisten oder Umweltschützer seit dem 11. September 2001 mit dem „Krieg gegen den Terror“ legitimiert werden.
16)
Innerhalb der EU ist das Thema Extremismusprävention durchgängig präsent, spielt in einigen Ländern derzeit jedoch noch eine nachrangige Rolle. Dennoch gibt es beispielsweise in den Ländern Belgien, Österreich, Tschechien, Ungarn, Griechenland und Italien Präventionsprogramme unter Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die mit unterschiedlicher Intensität betrieben werden. Als Vorreiter der Extremismusprävention innerhalb der EU können Großbritannien, Dänemark und Frankreich gelten (s.u.).
17)
Vgl. Lützinger/Gruber 2017, 9.
18)
Zu Formen des Extremismus, deren Ursprung im Ausland liegt und die dementsprechend eine transnationale Komponente aufweisen, vgl. Kap. 2.4 in diesem Band.
19)
Die Bundesregierung 2016, 32.
20)
Vgl. Eilers/Gruber/Kemmesies 2017, 37f.
21)
Vgl. auch Gruber/Lützinger 2017, 36.
22)
Im September 1991 kam es in der sächsischen Stadt Hoyerswerda zu Angriffen auf ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und Flüchtlinge, die im weiteren Verlauf derart eskalierten, dass sie von Seiten der Polizei kaum unter Kontrolle gebracht werden konnten. Bisweilen geht man von mehreren hundert Angreifern aus, die auf Zuruf und durch Ermunterung durch Zuschauer Brandsätze warfen. Hoyerswerda gilt als Auftakt einer Serie fremdenfeindlicher Anschläge.
23)
Eine klare Zuordnung zu ausschließlich einem Feld gestaltet sich in aller Regel schwierig (vgl. hierzu auch Extremismusprävention aus der Perspektive eines sicherheitsbehördlichen Bedarfs im vorliegenden Band).
24)
Mit dem XENOS-Sonderprogramm „Ausstieg zum Einstieg“ unterstützte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Ausstieg junger Menschen aus der rechten Szene. Gefördert wurden Initiativen, Projekte und Vereine, die neue Ideen entwickeln, um den Ausstieg aus einem rechten Umfeld mit dem Einstieg in Arbeit zu verknüpfen.
25)
Durch vier Verkehrsflugzeuge, die von Mitgliedern der Al-Qaida entführt und in das World-Trade-Center in New York, das Pentagon in Washington und auf ein Feld in Pennsylvania gesteuert wurden, kamen mehr als 3.000 Menschen zu Tode.
26)
Lützinger/Gruber 2017, 13.
27)
Vgl. Bundeskriminalamt 2019, 57.
28)
Lützinger/Gruber 2017, 18.
29)
Armborst et al. 2018, 5.
30)
CONTEST wurde 2003 vom Home-Office initiiert und 2006 erstmals aktualisiert. Diese aktualisierte Fassung des Aktionsplans wurde 2018 publiziert. CONTEST wird von vier „P“ Strategien getragen: Prevent, Pursue, Protect, Prepare. Dieser Abschnitt hebt ausschließlich die erste Säule „Prevent“ hervor und fasst die wesentlichen Grundzüge der Extremismuspräventionsstrategie Großbritanniens zusammen. Die weiteren drei Säulen werden aufgrund des Umfangs und der thematischen Eingrenzung nicht weiter berücksichtigt.
31)
Thomas 2017, 143.
32)
Ebd., 144.
33)
Medact 2018.
34)
Dresser 2018, 134.
35)
Berlingske Tidende.
36)
Ostjütland.
37)
Bertelsen 2017, 173.
38)
Hemmingsen 2015, 12.
39)
Nordbruch 2013, 9.
40)
Dänische Regierung 2016.
41)
Seit 2013 reisten mindestens 125 Personen aus Dänemark Richtung Syrien und Irak aus. Vestergaard 2018, 258.
42)
Hemmingsen 2015, 28.
43)
Tammikko 2018, 105.
44)
Interministerial Committee for the Prevention of Crime and Radicalisation 2018.
45)
Hier sei zu erwähnen, dass sich aktuell ca. 323 Rückkehrer aus Syrien und Irak in Frankreich befinden.
46)
Khosrokhavar 2017, 156 f.
47)
Ebd., 157.
48)
Glaser 2011, 150.
49)
Wie zum Beispiel die rechtsextreme „English Defense League“ und kleinere Gruppen aus der Hooliganszene.
50)
Europol.
51)
Die durchschnittliche Erfolgsquote gemeldeter und erfolgreich entfernter Internetinhalte lag laut IRU bei etwa 80 % (Stand Ende 2017); Europol.
52)
European Commission, Radicalisation Awareness Network 2018.
53)
Bundeszentrale für politische Bildung.
54)
Die vollständige Liste aller Arbeitsgruppen und ihre Kontaktdaten können bei der European Commission – Migration and Home Affairs/RAN Working Groups abgerufen werden 2019.
55)
European Commission – Migration and Home Affairs/RAN best practices 2019.
56)
Europäisches Netzwerk für strategische Kommunikation 2019.
57)
Europäisches Forum für urbane Sicherheit 2019.
58)
Institut für strategischen Dialog, Vorstellung Projekt Strong Cities Network 2019.
59)
European expert network on terrorism issues 2019.
60)
Ted eTendering.
61)
Europäische Kommission.
Literatur
Armborst, Andreas/Biene, Janusz/Coester, Mark/Greuel, Frank/Milbrandt, Björn/Nehlsen, Inga (2018): Evaluation in der Radikalisierungsprävention: Ansätze und Kontroversen, PRIF Report 11/2018. Frankfurt/M. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
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Dresser, Paul (2018): Counter-Radicalisation Through Safeguarding: A Political Analysis of the Counter-Terrorism and Security Act (2015). In: Journal for Deradicalisation. Nr. 16.
Eilers, Franziska/Gruber, Florian/Kemmesies, Uwe (2015): Entwicklungsmöglichkeiten einer phänomenübergreifend ausgerichteten Prävention politisch motivierter Gewaltkriminalität (PüG). Modul 2 – Literaturanalyse. Wiesbaden, Bundeskriminalamt (Herausgeber).
Eilers, Franziska/Gruber, Florian/Kemmesies, Uwe (2017): Entwicklungsmöglichkeiten einer phänomenübergreifend ausgerichteten Prävention politisch motivierter Gewaltkriminalität (PüG). Modul 2 – Literaturanalyse. Wiesbaden, Bundeskriminalamt (Hrsg.), S. 37 folgend.
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Glaser, Michaela (2011): Prävention von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Europa. Halle, DJI.
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Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt (2018): Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt für das Jahr 2017.
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Thomas, Paul (2017): Im Wandel begriffen und doch umstritten: „Prevent“, die Anti-Terrorismus-Strategie Großbritanniens. In: „Sie haben keinen Plan B“ Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und Intervention. Kärgel, Jana (Hrsg). Bonn, BpB.
Quellen
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Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpommern, Pressemitteilung Nr. 47 am 23.04.2018: „Entwicklung der Politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2017 in Mecklenburg-Vorpommern“, Quelle: https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/im/Aktuell/?id=137455&processor=processor.sa.pressemitteilung (08.10.2018).
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Statistisches Bundesamt – Destatis, Pressemitteilung Nr. 347 vom 14.09.2018: „Bevölkerung in Deutschland: 82,8 Millionen zum Jahresende 2017“, Quelle: https://www.destatis.de/DE/Presse/ Pressemitteilungen/2018/09/PD18_347_12411.html.
Tammikko (2018): The political challenges of community-level PVE practices: The Danish case of Copenhagen vs. Aarhus on dialoguing with extremist milieus. In: Journal For Deradicalization. Nummer 16/2018.
Ted eTendering. Quelle: https://etendering.ted.europa.eu/cft/cft-display.html?cftId=4796 (02.03.2020).
Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales (2018): Politisch motivierte Kriminalität Statistik 2017.
Vestergaard (2018): Foreign Terrorist Fighters: De-Radicalisation and Inclusion vs Law Enforcement and Corrections in Denmark. Hart Publishing.