Bundeskriminalamt (BKA)

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Radikalisierung bedeutet auf den Kern reduziert zunächst zweierlei: die prinzipielle Abweichung von gesellschaftlich anerkannten Normen sowie die zunehmende Bereitschaft, abweichende Denk- und Verhaltensmuster auch gegen Widerstand durchzusetzen. Radikalisierung bedeutet dabei nicht zwingend die Anwendung von Gewalt, sie kann aber die Bereitschaft zu extremistischem Handeln in Abhängigkeit von erfahrenem Widerstand erhöhen. Die Motive, aus denen sich Personen radikalisieren und sich im Weiteren extremistischen Szenen zuwenden, sind allerdings ebenso vielschichtig wie die Formen ihrer Kommunikation und ihres Handelns. Prävention im Sinne einer Mäßigung bzw. Vermeidung weiterer Radikalisierung erfordert insofern eine große Bandbreite an geeigneten Maßnahmen. Während Repression und Strafverfolgung in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch einen Vertrauensvorschuss gegenüber präventiven Maßnahmen genießen, weil sie unmittelbare Abhilfe versprechen, herrscht unter politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern inzwischen größtenteils Einigkeit darüber, dass Extremismus und Radikalisierung mit repressiven Maßnahmen allein nicht begegnet werden kann.1) Zum einen werden diese gewöhnlich erst im Ergebnis eines bereits erreichten höheren Grades der Radikalisierung, d.h. in Beurteilung einer potenziell strafbewehrten Verhaltensweise, erwogen, zum anderen zielt die Repression auf den Ausschluss eines bestimmten Verhaltens, nicht aber auf die Beseitigung der Motive dessen. Prävention richtet sich auf beides, die dauerhafte Vermeidung fortschreitender Radikalisierung, insbesondere von extremistischen Handlungen, sowie die Beeinflussung auffassungs- und verhaltensprägender Motive im Umfeld anfälliger Akteurinnen und Akteure bzw. deren Gruppen.

So werden die militärisch-polizeilichen und auf traditionellen Sicherheitskonzepten beruhenden Strategien zur Extremismusbekämpfung seit längerem um eine präventive Dimension ergänzt, die sich über die letzten Jahre und insbesondere im Zuge eines wachsenden, gewaltbereiten Salafismus und anderer Ausdrucksformen des religiösen Extremismus zu einem bedeutenden Handlungsfeld entwickelt hat. Eine besondere Rolle kommt dabei den zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren zu. So arbeitet die Bundesregierung heute im Präventionsbereich mit fast 700 zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen.2) Eine solcherart breite Zusammenarbeit zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren ist einmalig in Europa.3)

Doch die existierende Vielzahl an Programmen und Maßnahmen wird nicht nur positiv bewertet. Insbesondere die breite Diversifizierung der Akteurinnen und Akteure und Konzepte wird bemängelt. So betonen Kritikerinnen und Kritiker das Vorhandensein einer allzu heterogenen, konzeptlos agierenden zivilgesellschaftlichen Präventionslandschaft, welche durch die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland noch verstärkt werde. Aus der Kritik entwickelte sich unter anderem der Ruf nach einer stärkeren Anbindung der zivilgesellschaftlichen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit an die Behörden4). Ein Blick nach Frankreich5) zeigt jedoch, dass erfolgreiche Präventionsarbeit infolge der Heterogenität von Zielgruppen und Motivlagen prinzipiell eines breiten Spektrums an institutionellen Akteurinnen und Akteuren bedarf. So hat eine zentralisierte, rein staatliche, an sicherheitspolitischen Interessen orientierte Präventionsarbeit alleine oft Schwierigkeiten, überhaupt an von Radikalisierung gefährdete Menschen heranzukommen oder bei den Betroffenen als glaubwürdig wahrgenommen zu werden. Unabhängige, mit staatlichen Mitteln geförderte zivilgesellschaftliche Organisationen können dagegen „Brücken bauen und intervenieren, weil sie nicht unmittelbar mit staatlichen Interessen und sicherheitspolitischen Erwägungen in Verbindung stehen“.6) Tatsächlich können erst durch die Vernetzung und Kooperation aller für die Thematik relevanten Einrichtungen und ihren unterschiedlichen Ansätzen jene beruflichen, gesellschaftlichen und individuellen Handlungsfelder verknüpft werden, die für die Entwicklung einer nachvollziehbaren und effektiven Deradikalisierungsstrategie voraussetzend sind, um gefährdete Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen extremistischen Milieus wirksam zu erreichen.

Praktische Beispiele aus der zivilgesellschaftlichen Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit

Um die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Komponente der Extremismus- und Radikalisierungsprävention zu veranschaulichen und einen Einblick in die ihr zugrundeliegenden Ansätze und Strategien zu vermitteln, beschreibt dieser Beitrag im Folgenden zwei konkrete Projekte aus der Praxis der Extremismusprävention etwas genauer.

Streitkultur 3.0: Lernräume und -medien für junge Menschen zur Auseinandersetzung mit Hass und Gewalt im Netz

Das Projekt Streitkultur 3.0 der Berghof Foundation, das von September 2017 bis Dezember 2019 im Rahmen von „Demokratie leben!“ gefördert wurde, soll Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg und Berlin im Alter zwischen 13 und 20 Jahren in einem partizipativen, dialogorientierten Prozess und mittels innovativer Methoden zu einer kritischen Medienkompetenz befähigen. Es schult sie entsprechend im Umgang mit sogenannten Hassreden, mit Hetze und extremistischen Ideologien im Internet. Das Projekt greift damit die Tatsache auf, dass Internet und soziale Medien heute einen besonders großen Einfluss auf die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen ausüben. Während die technische Entwicklung viele Vorteile mit sich bringt und Jugendlichen unter anderem ermöglicht, sich virtuell mit anderen Jugendlichen zu vernetzen, dadurch Einblicke in andere Welten zu erhalten, sich neues Wissen anzueignen und sich auf das Berufsleben vorzubereiten, können Internet und soziale Medien bei der Orientierungssuche und Identitätsfindung auch sehr problematische Wirkungen mit sich bringen. Beide können gleichermaßen bildend und aufklärerisch sein sowie manipulierend und verführend. Gerade Jugendlichen fällt es oft schwer, zwischen Meinungen und Meldungen oder Gerüchten und Fakten zu unterscheiden. Mit zunehmender Professionalität von Hasspredigten und Videobotschaften kann es Extremisten gelingen, Ängste zu schüren, aber auch zu vereinnahmen und zu mobilisieren. Dies insbesondere, wenn sich Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Entwicklung dem Internet und sozialen Medien anvertrauen und die sozialen Bindungen in der Familie und den schulischen Freundeskreisen an Einfluss verlieren. Die Radikalisierung beginnt mit dem virtuellen Angebot auf vermeintlich offene Lebensfragen, für welche das herkömmliche soziale Umfeld – Eltern, Lehrpersonen, Freundinnen und Freunde – keine überzeugenden Antworten (mehr) bereithält.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen