Bundeskriminalamt (BKA)

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Radikalisierung bedeutet auf den Kern reduziert zunächst zweierlei: die prinzipielle Abweichung von gesellschaftlich anerkannten Normen sowie die zunehmende Bereitschaft, abweichende Denk- und Verhaltensmuster auch gegen Widerstand durchzusetzen. Radikalisierung bedeutet dabei nicht zwingend die Anwendung von Gewalt, sie kann aber die Bereitschaft zu extremistischem Handeln in Abhängigkeit von erfahrenem Widerstand erhöhen. Die Motive, aus denen sich Personen radikalisieren und sich im Weiteren extremistischen Szenen zuwenden, sind allerdings ebenso vielschichtig wie die Formen ihrer Kommunikation und ihres Handelns. Prävention im Sinne einer Mäßigung bzw. Vermeidung weiterer Radikalisierung erfordert insofern eine große Bandbreite an geeigneten Maßnahmen. Während Repression und Strafverfolgung in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch einen Vertrauensvorschuss gegenüber präventiven Maßnahmen genießen, weil sie unmittelbare Abhilfe versprechen, herrscht unter politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern inzwischen größtenteils Einigkeit darüber, dass Extremismus und Radikalisierung mit repressiven Maßnahmen allein nicht begegnet werden kann.1) Zum einen werden diese gewöhnlich erst im Ergebnis eines bereits erreichten höheren Grades der Radikalisierung, d.h. in Beurteilung einer potenziell strafbewehrten Verhaltensweise, erwogen, zum anderen zielt die Repression auf den Ausschluss eines bestimmten Verhaltens, nicht aber auf die Beseitigung der Motive dessen. Prävention richtet sich auf beides, die dauerhafte Vermeidung fortschreitender Radikalisierung, insbesondere von extremistischen Handlungen, sowie die Beeinflussung auffassungs- und verhaltensprägender Motive im Umfeld anfälliger Akteurinnen und Akteure bzw. deren Gruppen.

So werden die militärisch-polizeilichen und auf traditionellen Sicherheitskonzepten beruhenden Strategien zur Extremismusbekämpfung seit längerem um eine präventive Dimension ergänzt, die sich über die letzten Jahre und insbesondere im Zuge eines wachsenden, gewaltbereiten Salafismus und anderer Ausdrucksformen des religiösen Extremismus zu einem bedeutenden Handlungsfeld entwickelt hat. Eine besondere Rolle kommt dabei den zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren zu. So arbeitet die Bundesregierung heute im Präventionsbereich mit fast 700 zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen.2) Eine solcherart breite Zusammenarbeit zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren ist einmalig in Europa.3)

Doch die existierende Vielzahl an Programmen und Maßnahmen wird nicht nur positiv bewertet. Insbesondere die breite Diversifizierung der Akteurinnen und Akteure und Konzepte wird bemängelt. So betonen Kritikerinnen und Kritiker das Vorhandensein einer allzu heterogenen, konzeptlos agierenden zivilgesellschaftlichen Präventionslandschaft, welche durch die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland noch verstärkt werde. Aus der Kritik entwickelte sich unter anderem der Ruf nach einer stärkeren Anbindung der zivilgesellschaftlichen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit an die Behörden4). Ein Blick nach Frankreich5) zeigt jedoch, dass erfolgreiche Präventionsarbeit infolge der Heterogenität von Zielgruppen und Motivlagen prinzipiell eines breiten Spektrums an institutionellen Akteurinnen und Akteuren bedarf. So hat eine zentralisierte, rein staatliche, an sicherheitspolitischen Interessen orientierte Präventionsarbeit alleine oft Schwierigkeiten, überhaupt an von Radikalisierung gefährdete Menschen heranzukommen oder bei den Betroffenen als glaubwürdig wahrgenommen zu werden. Unabhängige, mit staatlichen Mitteln geförderte zivilgesellschaftliche Organisationen können dagegen „Brücken bauen und intervenieren, weil sie nicht unmittelbar mit staatlichen Interessen und sicherheitspolitischen Erwägungen in Verbindung stehen“.6) Tatsächlich können erst durch die Vernetzung und Kooperation aller für die Thematik relevanten Einrichtungen und ihren unterschiedlichen Ansätzen jene beruflichen, gesellschaftlichen und individuellen Handlungsfelder verknüpft werden, die für die Entwicklung einer nachvollziehbaren und effektiven Deradikalisierungsstrategie voraussetzend sind, um gefährdete Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen extremistischen Milieus wirksam zu erreichen.

Praktische Beispiele aus der zivilgesellschaftlichen Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit

Um die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Komponente der Extremismus- und Radikalisierungsprävention zu veranschaulichen und einen Einblick in die ihr zugrundeliegenden Ansätze und Strategien zu vermitteln, beschreibt dieser Beitrag im Folgenden zwei konkrete Projekte aus der Praxis der Extremismusprävention etwas genauer.

Streitkultur 3.0: Lernräume und -medien für junge Menschen zur Auseinandersetzung mit Hass und Gewalt im Netz

Das Projekt Streitkultur 3.0 der Berghof Foundation, das von September 2017 bis Dezember 2019 im Rahmen von „Demokratie leben!“ gefördert wurde, soll Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg und Berlin im Alter zwischen 13 und 20 Jahren in einem partizipativen, dialogorientierten Prozess und mittels innovativer Methoden zu einer kritischen Medienkompetenz befähigen. Es schult sie entsprechend im Umgang mit sogenannten Hassreden, mit Hetze und extremistischen Ideologien im Internet. Das Projekt greift damit die Tatsache auf, dass Internet und soziale Medien heute einen besonders großen Einfluss auf die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen ausüben. Während die technische Entwicklung viele Vorteile mit sich bringt und Jugendlichen unter anderem ermöglicht, sich virtuell mit anderen Jugendlichen zu vernetzen, dadurch Einblicke in andere Welten zu erhalten, sich neues Wissen anzueignen und sich auf das Berufsleben vorzubereiten, können Internet und soziale Medien bei der Orientierungssuche und Identitätsfindung auch sehr problematische Wirkungen mit sich bringen. Beide können gleichermaßen bildend und aufklärerisch sein sowie manipulierend und verführend. Gerade Jugendlichen fällt es oft schwer, zwischen Meinungen und Meldungen oder Gerüchten und Fakten zu unterscheiden. Mit zunehmender Professionalität von Hasspredigten und Videobotschaften kann es Extremisten gelingen, Ängste zu schüren, aber auch zu vereinnahmen und zu mobilisieren. Dies insbesondere, wenn sich Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Entwicklung dem Internet und sozialen Medien anvertrauen und die sozialen Bindungen in der Familie und den schulischen Freundeskreisen an Einfluss verlieren. Die Radikalisierung beginnt mit dem virtuellen Angebot auf vermeintlich offene Lebensfragen, für welche das herkömmliche soziale Umfeld – Eltern, Lehrpersonen, Freundinnen und Freunde – keine überzeugenden Antworten (mehr) bereithält.

Das Projekt Streitkultur 3.0 begegnet diesen Herausforderungen mit einem zweistufigen Prozess. In einer ersten Phase wurden Jugendlichen Räume und Möglichkeiten geboten, um sich kritisch mit demokratie- und menschenfeindlichen Informations- und Meinungsbildungsangeboten im Netz auseinanderzusetzen und anhand konkreter Beispiele aus der Praxis insbesondere das Gefahrenpotenzial hinsichtlich einer Manipulation von Meinungen zu diskutieren. In Kleingruppen arbeiteten sich Jugendliche dafür in Themengebiete ein und setzten sich mit den Einflüssen spezifischer Netzphänomene auseinander. Im Rahmen von Workshops wurden dabei folgende konkrete Themengebiete bearbeitet und gemeinsam zentrale Inhalte sowie geeignete didaktische Methoden für Dialoglabore erarbeitet:

  • Fake oder Fakt: Zum kritischen Umgang mit Informations- und Meinungsbildungsangeboten 
  • Hass und Hetze: Angebote gegen Menschenverachtung, Ausgrenzung und Gewalt
  • Bots und Algorithmen: Leitfaden für Multiperspektivität statt Meinungsmache
  • Kritische Medienkompetenz: Beiträge zu einer digitalen Ethik
  • Engagement im Internet: Gewaltfreiheit und Demokratie stärken.

In einem partizipativen Prozess wurden bereits Lernmedien wie zum Beispiel eine App, Trick- und Erklärfilme, Lernmodule und Leitfäden entwickelt. Durch aktive Einbindung und Teilhabe wurden nicht nur die Bedürfnisse der Zielgruppe in den Mittelpunkt der initiierten Lernprozesse gestellt, sondern auch eine hohe Akzeptanz seitens der beteiligten Jugendlichen erreicht. Das Projekt stellt damit eine bewusste Umkehr des allzu oft bevorzugten und belehrenden top-down Ansatzes dar. Es befähigt stattdessen junge Menschen und im weiteren Sinne die Zivilgesellschaft, mit anderen in Kontakt zu treten, die nach Antworten auf wichtige Lebensfragen suchen und möglicherweise anfällig für extremistische Radikalisierung und Rekrutierung sind.

Die Formate für Dialoglabore und die Lernmedien werden – auch nach Abschluss des Modellprojektes – über die Internetplattform https://www.frieden-fragen.de/ und in Fortbildungsveranstaltungen verfügbar bleiben. Dadurch können sie von qualifizierten Jugendlichen und Lehrkräften im Schulunterricht und der außerschulischen Jugendarbeit eingesetzt werden, über das Modellprojekt hinaus zur Verbesserung der kritischen und reflektierten Mediennutzung von Jugendlichen beitragen und dadurch letzteren ermöglichen, sich auf Dauer zivilgesellschaftlich im Netz zu engagieren und Beiträge zu einer offenen, demokratischen Diskussionskultur in sozialen Medien zu leisten.

Ein anderes Vorhaben, das wir hier vorstellen wollen, zielt auf Prävention in den Ursprungsregionen islamistischer Radikalisierung, deren Wirkungen heute bis nach Europa reichen. Präventionsarbeit, die in Deutschland Wirkung entfalten soll, darf sich folglich nicht allein auf Deutschland oder Europa beschränken. So wie Terrorismus zu einem globalen Phänomen geworden ist, so muss auch Prävention als globale Aufgabe aufgefasst und verfolgt werden.

Sunnitischer Dialog im Libanon

In Deutschland wurden bereits Anfang der 2000er-Jahre erste Initiativen ins Leben gerufen, die sich mit unterschiedlichen Ausdrucksformen des religiösen Extremismus beschäftigten.7) Im Zuge der wachsenden Bewegung von gewaltbereiten Salafistinnen und Salafisten und wiederholten Anschlägen von islamistisch Radikalisierten in Europa, haben sich Projekte zur Prävention islamistischer Radikalisierung zu einem bedeutenden Handlungsfeld in der deutschen Präventionslandschaft entwickelt. Aus säkularen Überzeugungen heraus und unter der Annahme, dass Radikalisierungsprozesse in erster Linie psychopathologischer Natur seien und ihre Ursprünge in sozialen Deprivationsprozessen und struktureller Gewalt haben, wurden Religion und religiöse Akteurinnen und Akteure in der Präventionspraxis jedoch lange vernachlässigt oder gar gänzlich von ihr ausgeschlossen. Statt auf theologische haben sich Präventions- und Deradikalisierungsprogramme lange auf psychologische bzw. sozialpädagogische Ansätze beschränkt.8)

Erfahrungen aus der Praxis haben allerdings gezeigt, dass religiöse Autoritäten und Verbände insbesondere auf lokaler Ebene einen positiven Beitrag zur Extremismusprävention leisten können und deren Einbezug in ein ganzheitliches Präventionskonzept insofern eine Berechtigung hat. Das vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland und dem Instrument Contributing to Stability and Peace (IcSP) der Europäischen Union geförderte und von der Berghof Foundation verwirklichte Projekt eines Sunnitischen Dialoges im Libanon ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Obwohl in einem entfernten geografischen und kulturellen Umfeld umgesetzt, liefert das Projekt wichtige Erkenntnisse in Bezug auf den Beitrag präventiver Ansätze im muslimischen Kontext auch für die Präventionsarbeit hierzulande. Es veranschaulicht am konkreten Beispiel, welche Rolle religiöse Organisationen und Akteurinnen und Akteure in der Prävention von Radikalisierung und Extremismus spielen können.

Das dreijährige Projekt hat zum Ziel, Dialogbereitschaft und religiöse Toleranz in einem multikulturellen und religiös diversen Umfeld zu stärken, den Ursachen von gewalttätigem Extremismus langfristig entgegenzuwirken und letztlich eine weitere Polarisierung der libanesischen Gesellschaft zu verhindern. Um dies zu ermöglichen, schafft das Projekt informelle Räume für einen regelmäßigen Austausch zwischen politisch und sozial einflussreichen Persönlichkeiten der sunnitischen Gemeinschaften. Es reagiert damit auf die zunehmenden Spannungen zwischen den libanesischen Religionsgemeinschaften, nicht zuletzt infolge des Krieges in Syrien, aber auch bedingt durch strukturelle Schwächen der libanesischen Institutionen, von denen sich viele Angehörige der sunnitischen Glaubensgemeinschaft nicht repräsentiert fühlen. Diese Spannungen haben Räume für Mobilisierungs- und Rekrutierungsbemühungen ultra-radikaler Gruppierungen geschaffen und die Spaltung nicht nur zwischen den schiitischen und sunnitischen Gemeinschaften vertieft, sondern auch Radikalisierungstendenzen in Teilen der sunnitischen Bevölkerung befördert. Das Projekt bringt religiöse und sozial engagierte Persönlichkeiten innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft im Rahmen inklusiver und informeller Dialogplattformen (z. B. Runde Tische und Workshops) zusammen, um die vielfältigen Ursachen für Radikalisierung zu identifizieren und ein gemeinsames Verständnis über effektive Präventions- und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Neben Diskussionen zu den Ursachen der Radikalisierung setzen sich die Dialogplattformen mit der aktiven Förderung von Toleranz in religiösen Medien auseinander und befassen sich mit praktikablen Ansätzen zur Förderung von Pluralismus und Toleranz in der religiösen Erziehung. Durch regelmäßigen Austausch wird der sunnitische Dialog gefördert, es werden moderate Ansichten und religiöse Toleranz gestärkt und dadurch letztlich dem gewaltsamen Extremismus alternative Botschaften entgegengesetzt. Begleitet werden die Dialogplattformen durch kapazitätsaufbauende Maßnahmen im Bereich der Dialoggestaltung, der Mediation, Kommunikation sowie der (medialen) Öffentlichkeitsarbeit.

In den Dialogen arbeitet das Projektteam mit einer breit aufgestellten Kerngruppe einflussreicher sunnitischer Persönlichkeiten, darunter Imame, religiöse Gelehrte, Lehrende und Gemeindevertreterinnen und -vertreter. Durch die Einbindung dieses großen Spektrums an Akteurinnen und Akteuren wird sichergestellt, dass eine möglichst breite Schicht der sunnitisch-libanesischen Gemeinschaft erreicht wird; insbesondere jene Gruppen, die sich aufgrund politischer, sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung häufig als ausgegrenzt wahrnehmen. Um die Reichweite des Projektes weiter zu erhöhen und Herausforderungen in verschiedenen Regionen des Libanon zu berücksichtigen, finden Treffen nicht nur in Beirut, sondern auch in anderen Städten des Landes statt, wo sich die Kerngruppe mit lokalen Regierungsvertreterinnen und -vertretern und einflussreichen Persönlichkeiten der Gemeinden austauscht.

Anders als viele Projekte zur Prävention islamistischer Radikalisierung geht das vorliegende Projekt über die gängige formelle, oft nur symbolische Beteiligung religiöser Akteurinnen und Akteure hinaus und anerkennt Religion, ihre Vertreterinnen und Vertreter, ihre Institutionen und Symbole sowie theologische und religionswissenschaftliche Ansätze als integralen Bestandteil der Deradikalisierungsarbeit. Dieser Ansatz basiert auf der Erkenntnis, dass Bemühungen zur Stärkung von Dialogbereitschaft und religiöser Toleranz nur dann wirksam sein können und auf Akzeptanz bei den Betroffenen stoßen, wenn sie gesellschaftlich verankert und aus der entsprechenden Gemeinschaft heraus initiiert und getragen werden.

Das vorliegende Projekt liefert jedoch nicht nur wichtige Erkenntnisse über die Rolle religiöser Akteurinnen und Akteure in der Präventionsarbeit im Libanon, sondern kann angesichts der Tatsache, dass sich – analog zur sunnitischen Gemeinschaft im Libanon – auch viele Angehörige der muslimischen Glaubensgemeinschaft in Deutschland von den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und gesellschaftlich ausgegrenzt wahrnehmen, auch zur besseren Gestaltung der Präventionsarbeit in Deutschland im Bereich der islamistischen Radikalisierung beitragen. Denn ohne ihre Bedeutung angesichts der sehr vielfältigen Ursachen von gewaltsamem Extremismus zu überschätzen, hat das vorliegende Projekt gezeigt, dass religiöse Akteurinnen und Akteure einen wertvollen Beitrag zur Überwindung einiger dieser Ursachen leisten können, der so von niemand anderem und keiner anderen Institution geleistet werden kann.

Unbeabsichtigte Auswirkungen verstehen und kontrollieren: konfliktsensitive Präventionsarbeit

Politische Interventionen und Hilfsmaßnahmen – ob entwicklungspolitischer, friedensfördernder oder deradikalisierender Natur – vollziehen sich nie in einem Vakuum. Zusammen mit den Akteurinnen und Akteuren, die sie ausführen, bilden sie immer einen Teil des sozialen, politischen und ökonomischen Gesamtkontextes und können daher neben den beabsichtigten Effekten auch unbeabsichtigte, gegebenenfalls auch dem Projektziel entgegengesetzte Auswirkungen auf die jeweilige Konfliktdynamik haben. Erfolgsorientierte Prävention setzt insofern immer eine eingehende Analyse von lokalen Gegebenheiten und struktureller Ursachen von Extremismus voraus und, darauf aufbauend, eine konfliktsensitive Ausgestaltung der Planung, Implementierung und des Monitorings von Projekten. Als grundlegende Richtlinie gilt hier das Do-No-Harm-Prinzip,9) das potenzielle kurz- und langfristige Auswirkungen von Projektaktivitäten in allen Phasen des Projektzyklus berücksichtigt und es Organisationen so erlauben soll, bestmögliche Ergebnisse unter weitgehendem Ausschluss von nachteiligen Effekten für die Gesellschaft zu erzielen. Um dies zu erreichen, sind ganzheitliche Interventionsstrategien im Sinne des 3C-Ansatzes („coordinated, complementary and coherent action“) notwendig, also in sich schlüssige und abgestimmte Strategien, die auf die vielfältigen Ansätze und Aktivitäten relevanter internationaler, nationaler und lokaler Akteure Rücksicht nehmen. Sie gehen Radikalisierung damit nicht als isoliertes Phänomen an, sondern wirken auch den unsichtbaren strukturellen sowie sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten entgegen. Nur so können gesellschaftliche Strukturen gestärkt, extremistische Ideologien mit einem pluralistischen, inklusiven und sozial gerechten demokratischen Modell infrage gestellt und letztlich die Ursachen von gewalttätigem Extremismus effektiv und nachhaltig bekämpft werden.10)

Herausforderungen effektiver Präventionsarbeit

Präventionsarbeit – speziell in religiös geprägten Kontexten – hat auf konzeptioneller, praktischer und gesellschaftlicher Ebene mit einer Reihe von Hindernissen zu kämpfen, wovon einige hier abschließend zusammengefasst werden:

  1. Eine systematische, standardisierte Evaluation der Konzeption, Ausgestaltung, Umsetzung und Wirksamkeit von Präventionsprogrammen gestaltet sich in den meisten Fällen schwierig. Wie soll zuverlässig beurteilt werden, was vermieden werden kann, wenn der kritische Fall noch nicht eingetreten ist? Wie sollen zuverlässig Rückschlüsse auf die antreibenden Faktoren der Radikalisierung gezogen werden können, wenn diese Faktoren nicht nur vielfältiger Natur sind, sondern in vergleichbaren Kontexten auch unterschiedliche Wirkung entfalten? Jede Bewertung von Präventionsprogrammen ist und bleibt kontext-spezifisch und umfasst vielseitige Indikatoren wie Rückfälligkeitsraten von Teilnehmenden des Programmes, das Ausmaß an extremistischen Aktivitäten und an effektiver Rekrutierung, die Nachfrage und die Verfügbarkeit von Beratungsangeboten usw. Der Erfolg der Prävention bleibt unter allen Umständen schwerer zu beurteilen als deren Misserfolg im Ergebnis ihres Scheiterns. Prävention setzt die Vorwegnahme der Folgen unternommener Maßnahmen ebenso voraus wie ständiges Lernen aus durchgeführtem Handeln. Natürlich kann Prävention einen extremistischen Akt nicht ausschließen. Sie kann aber den Zusammenhang beeinflussen, in dem sich Radikalisierung vollzieht und ausbreiten kann. Sie kann die Akzeptanz für Extremismus verringern und toleranten Verhaltensmustern den Weg ebnen. Interesse und Beteiligung an Dialog- und Bildungsprogrammen eignen sich hierfür als Indikator. In der Praxis können jedoch vor allem qualitative Indikatoren nur selten gemessen und die Wirksamkeit eines Präventionsprogrammes somit auch nur selten akkurat quantifiziert werden, zumal der Mangel an finanziellen Mitteln, gelegentlich bewusste Intransparenz aufgrund der Sensibilität der involvierten Akteure oder aber auch die naturgemäß langfristig angelegte Wirksamkeit von Präventionsprogrammen das Monitoring und die Datenerhebung erschweren.11)
  2. Präventionsarbeit kann in der Öffentlichkeit nicht nur positiv, sondern als Instrument zur staatlichen Überwachung und Einschränkung der Bürgerrechte wahrgenommen werden und damit Misstrauen in betroffenen Gemeinschaften hervorrufen. Beispiele hierfür sind die Diskussionen um das „Aarhus-Modell“ in Dänemark, das britische Prevent-Programm oder die französische Familienberatungsstelle, allesamt Projekte, die bei den Polizeibehörden angesiedelt oder sehr eng mit ihnen verflochten sind. Tatsächlich wurden viele Deradikalisierungsprogramme bewusst auch zu Überwachungs- und Datenerhebungszwecken genutzt, insbesondere im Nahen Osten und in Südostasien, vermehrt aber auch in Westlichen Staaten.12)
  3. Durch den starken Fokus der Präventionsarbeit auf Mitglieder von Minderheitsgemeinschaften läuft die Präventionsarbeit Gefahr, dem Anliegen des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts zuwiderzulaufen und die Beziehung zwischen den staatlichen Institutionen und dieser Gemeinschaft zu belasten. So kann zum Beispiel der Fokus auf die Radikalisierung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu einer von deren Mitgliedern wahrgenommenen Diskriminierung führen. Im politischen Kontext äußert sich dies unter anderem in der Kritik an einer vermeintlichen geringeren Aufmerksamkeit für Aktivitäten rechtsextremer Gruppierungen. Prävention, die als Stigmatisierung einer Gruppe im Vergleich zu anderen wahrgenommen wird, läuft Gefahr, eine gegenteilige Wirkung als beabsichtigt zu erzielen: Radikalisierung als Schutzreflex. Umgekehrt kann aber auch eine übermäßige Zuwendung für eine bestimmte Gruppe als Ausdruck präventiver Maßnahmen zu kritischen Einwendungen anderer Gruppen führen, die eine ungerechtfertigte Privilegierung vermuten. Auch in diesem Falle ist eine Radikalisierung in den Einstellungen, z. B. im Verhältnis ethnisch-religiöser Gemeinschaften zueinander, nicht auszuschließen (Thomas 2010).
  4. Interreligiöse Präventionsarbeit bedarf konzeptioneller Schärfung. Ein großer Teil der Literatur stützt sich bei der Theoriebildung nicht auf belegbare und systematische Forschung, sondern auf anekdotische oder abstrakte Konzepte oder auf Konzepte aus der weltlichen Präventionsarbeit, die der Einzigartigkeit interreligiöser Präventionsarbeit nicht gerecht werden. Dies beeinträchtigt die Wirksamkeit von Instrumenten, um religiöse Akteurinnen und Akteure sowie Dimensionen stärker in die Präventionsarbeit zu integrieren (Berghof Handbook Dialogue Series 2018).
  5. Schließlich können auch gesetzliche Einschränkungen die zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit erschweren oder gar unmöglich werden lassen. Die Empfehlungen der Financial Action Task-Force (FATF), die darauf abzielen, Terrorfinanzierung zu verhindern, führt als unerwünschten, mancherorts allerdings auch leider durchaus erwünschten Nebeneffekt in zahlreichen Ländern zu rechtlichen und operativen Einschränkungen für die Tätigkeit von zivilgesellschaftlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Unter Verweis auf den möglichen Missbrauch von Nichtregierungsorganisationen durch terrorismusverdächtige oder auch nur mutmaßlich unterstützende Organisationen können auf der Basis der Empfehlungen der FATF Sanktionen auch gegen Nichtregierungsorganisationen verhängt werden, welche mit diesen Kontakte unterhalten. Da einige Staaten manche Vereinigungen bereits als Terrorgruppen definieren, wenn sie der politischen Opposition zugerechnet werden, droht unter dem Deckmantel der Prävention die Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten. Ebenso können höhere Anforderungen an das Risikomanagement von Banken entstehen, die Non-Governmental Organizations im Bereich der Radikalisierungsprävention zu unliebsamen Kunden werden lassen und so deren Zugang zu notwendigen Finanzdienstleistungen erschweren. Während eine politische Instrumentalisierung der FATF-Empfehlungen in Deutschland nicht zu befürchten ist, so ist doch zumindest ein behördlicher Fokus auf muslimische Organisationen zu erwarten, was die zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit zur Verhinderung muslimischer Radikalisierung erheblich einschränken könnte (Financial Action Task Force 2014; Brot für die Welt 2017).

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen