Bühne des Kapitels / Moduls
Wie Terroristen uns Journalisten benutzen
Exkurs 3 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Bei jedem Anschlag erfüllen Journalisten aufs Neue das Kalkül der Attentäter. Warum nur? Und was können wir dagegen tun?
Betroffenheit ist endlich. Nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo versammelten sich knapp 20.000 Menschen zur Mahnwache vor dem Brandenburger Tor, in Solidarität mit den Opfern sangen sie die Marseillaise, auf ihren T-Shirts stand „Je suis Charlie“.
Zehn Monate später, als Terroristen wieder in Paris zuschlugen, kamen nicht mal mehr 2.000 Menschen zum Brandenburger Tor. Den Brennpunkt im Ersten aber schauten knapp zehn Millionen. Einige Monate später griffen Terroristen in Brüssel an, dann in London, den Fernseher schalteten nur noch jeweils sechs Millionen ein, zum Brandenburger Tor kam kaum noch jemand. Nach dem Anschlag in Barcelona registrierte die ARD nur noch etwas mehr als vier Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer. Mahnwachen gab es keine mehr.
Es waren ja auch so viele Anschläge in den vergangenen Jahren. Hannover, Essen, Würzburg, Ansbach, Berlin, Hamburg, Kopenhagen, London, Nizza, Brüssel, St. Petersburg, Stockholm, Manchester, London, mehrmals Paris, mehrmals Istanbul, und das sind nicht mal alle. Ich wette, bei einigen dieser Städtenamen mussten Sie kurz nachdenken, was dort eigentlich passiert ist. Vielleicht kommen Sie nicht mal mehr drauf. Ging mir genauso, als ich anfing, diesen Text zu schreiben. Irgendwo auf dieser Anschlagsstrecke hat unser Mitleid abgenommen.
Wir sehen die neuesten Terror-Bilder im Fernsehen, aber wir blicken auf sie nur noch wie auf einen Unfall auf der Autobahn. Kurzes Hinsehen, ein Moment der Erschütterung. Dann kehren wir zurück in unsere emotionale Komfortzone. Furchtbar, wie wir abstumpfen, oder?
Nein, im Gegenteil. Ich glaube, etwas Besseres kann uns gar nicht passieren. Wenn es um die Frage geht, wie man die Anschläge verhindern kann, dann ist meist von schärferen Gesetzen die Rede, von zusätzlichen Polizistinnen und Polizisten, von neuen Geräten zur Gesichtserkennung. Obwohl jeder weiß, dass sich damit nicht alle Attentäterinnen und Attentäter stoppen lassen. Sie werden schon eine Methode finden, um zuzuschlagen. In Wahrheit gibt es ein viel effektiveres Mittel zur Terrorbekämpfung. Eines, das den Terrorismus als Ganzes attackiert und nicht die einzelnen Terroristen. Das Herz der Hydra und nicht ihre vielen Köpfe.
Man kann es Abstumpfung nennen. Ich würde es positiver formulieren: gezieltes Desinteresse. Das mag im ersten Moment zynisch klingen, vor allem für die Opfer von Terroranschlägen und ihre Angehörigen. Aber man muss sich vergegenwärtigen, wie Terrorismus funktioniert – und sich an den Dezember 2016 erinnern. Anis Amri fuhr damals mit einem Lastwagen in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz. Er zerquetschte Buden und überrollte Menschen, und er schaffte es, den Sicherheitsbehörden zu entwischen. Dennoch wussten sie genau, nach wem sie suchen mussten. Amri winkte auf der Flucht in eine Überwachungskamera. Im Lkw ließ er netterweise seinen Ausweis liegen. Auch der Nizza-Attentäter, der 86 Menschen überfuhr, platzierte seinen Führerschein im Lkw. Im Fluchtwagen der Charlie Hebdo -Attentäter fand die Polizei ebenfalls einen Ausweis.
Da fliehen Terroristen, und anstatt ihre Identifizierung zu erschweren, zeigen sie ihren Ausweis?
Natürlich ist das keine Unachtsamkeit, kein Fehler. Die Terroristinnen und Terroristen machen das für Leute wie mich, für uns Journalistinnen und Journalisten. So wie sie Videobotschaften ins Netz laden oder Bilder der Tat bei Facebook posten. Sie wollen, dass wir Artikel über sie schreiben, dass wir ihren Namen in möglichst großen Buchstaben auf die Titelseite drucken und ein Foto von ihnen dazustellen. Sie wollen, dass das ganze Land von ihnen erfährt, am besten die ganze Welt.
Denn erst die öffentliche Aufmerksamkeit macht aus einem kriminellen Akt einen terroristischen. Ein herkömmlicher Mord und einer, der Terror verbreiten soll, sind einander im Kern sehr ähnlich: Ein Mensch ermordet einen anderen. Der Unterschied ist das Motiv. Morde, etwa aus Gier oder Eifersucht, gelten ganz bestimmten Personen, sonst ergeben sie keinen Sinn. Die Täterin oder der Täter hofft darauf, dass möglichst wenige Menschen von ihrer bzw. seiner Tat erfahren, am besten niemand. Je geheimer, desto besser.
Bei einem Mord, der zum Terroranschlag werden soll, ist es genau umgekehrt. Die Opfer sind symbolisch, oft willkürlich ausgewählt, es kann jeden treffen – Partygänger, Fußballfans, Teenager auf einem Popkonzert. Und möglichst viele Menschen sollen von der Tat und der ausführenden Person erfahren. Je öffentlicher, desto besser.
Im Jahr 2016 gab es einen Anschlag, der im Getöse der Großlagen von Brüssel, Paris und Berlin fast unterging, in dem sich aber das ganze Wesen des Terrorismus wie unter einem Brennglas studieren lässt. Schauplatz dieses Anschlags war das Dorf Saint-Étienne-du-Rouvray in der Nähe der nordfranzösischen Stadt Rouen.