Bühne des Kapitels / Moduls
Wie Terroristen uns Journalisten benutzen
Exkurs 3 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Im vergangenen Jahr fuhr ich dort hin. Ich betrat die kleine, aus dicken Steinen gemauerte Kirche, in wenigen Minuten sollte der Gottesdienst beginnen. Vorne links saß ein gebeugter Mann mit grauen Haaren und grauer Jacke. Ich kannte ihn aus dem Fernsehen, hatte Fotos von ihm im Internet gesehen und in französischen Zeitungen von ihm gelesen – Guy Coponet, damals 88 Jahre alt. Nach dem Gottesdienst sprach ich ihn an, und er erzählte mir, was an dieser Stelle geschehen war.
Damals, am 26. Juli 2016, ist fast niemand zum Gottesdienst gekommen: nur Coponet, seine Frau, dazu drei Nonnen. Aber Coponet freut sich, denn es ist sein bester Freund, der Priester Jacques Hamel, der vorne am Altar steht. Mit seinen 85 Jahren ist Hamel längst im Ruhestand, doch manchmal hilft er noch aus. Kurz vor dem Ende des Gottesdienstes fliegt die Tür der Sakristei auf, und zwei schwarz gekleidete Männer stürmen herein. Sie halten Messer in den Händen und schreien „Allahu Akbar“. Einer der beiden stürzt sich auf den Priester, der noch ruft: „Weg mit dir, Satan!“, dann treffen ihn die Messerhiebe. Hamel bricht sterbend auf dem Altar zusammen.
Die Attentäter haben einen Menschen umgebracht, aber bisher haben es nur fünf Zeugen mitbekommen: das Ehepaar Coponet und die drei Nonnen. Damit aus dem Verbrechen Terror wird, muss sich die Tat aber abheben von den 13 anderen Morden, die im Durchschnitt jeden Tag in Europa verübt werden, von denen man aber kaum je erfährt.
Aus fünf Menschen müssen Millionen werden. Ein erster Schritt ist den beiden Männern in Schwarz bereits gelungen, als sie sich den Besuchern des Gottesdienstes zuwenden. Sie haben den Mord symbolisch aufgeladen: Sie haben einen Priester in einer Kirche umgebracht, sein Leiche liegt zu ihren Füßen, sein Blut befleckt den Altar. Aber das reicht nicht.
Einer der Attentäter geht zu Guy Coponet und drückt ihm ein Smartphone in die Hand, die Kamerafunktion ist schon aktiviert. Er sagt: „Opa, du filmst!“. Also hält Guy Coponet, ängstlich und überfordert, die Linse Richtung Altar und nimmt auf, wie der Attentäter über der Leiche seines besten Freundes posiert.
Ein Dschihadist mit blutigem Messer über einem toten Priester auf dem Altar einer christlichen Kirche in Europa – die Islamisten wissen um die Wirkmacht dieser Bilder. Auch Coponet weiß darum. „Ich dachte, sie werden das ins Internet stellen. Gefilmt habe ich trotzdem. Was hätte ich machen sollen?“ Nach einigen Sekunden kommt der Attentäter zurück und überprüft die Qualität der Bilder. Er sagt: „Opa, du zitterst ja kaum!“ Dann sticht er zu. Dreimal. In den Arm, in den Rücken, in den Hals. Coponet sinkt blutend zu Boden. Er stellt sich tot und betet.
Die Attentäter wenden sich jetzt den Frauen zu, die schockiert zwischen den Kirchenbänken stehen. „Wir dachten, jetzt sind wir dran“, erinnert sich Schwester Huguette, eine der Nonnen, eine zarte Frau von 80 Jahren. Stattdessen beginnen die Attentäter ein Gespräch. Einer trägt ihnen auf, so erinnert sich Huguette: Wenn ihr später im Fernsehen seid, sagt ihr: ‚Für jeden Anschlag in Syrien wird es einen in Frankreich geben.‘ Da wussten wir, wir werden überleben.“ Terrorismus ist Kommunikation. Attentäter wollen eine Botschaft senden. Nicht so sehr an ihre unmittelbaren Opfer, die drei Nonnen oder Guy Coponet und seine Frau, nicht so sehr an die Menschen vom Breitscheidplatz und die Konzertbesucher im Bataclan. Ihre Botschaft gilt vielmehr: allen anderen. Oder im Jargon der Terrorismusforscher: dem „interessierten Dritten“.
Bei den allermeisten von uns, sagen wir 99 Prozent, zeigt sich dieses Interesse in Form von Angst, von Schrecken, manchmal auch von Rachelust. Wenn wir die weinende Schwester Huguette im Fernsehen sehen, wenn wir hören, wie sie vom Martyrium des Priesters berichtet, schütteln wir voller Entsetzen den Kopf, vielleicht halten wir schockiert die Hand vor den Mund, vielleicht erwischen wir uns bei dem Gedanken: Das muss man diesen Bestien heimzahlen!
Dies ist der Moment, in dem aus einem Verbrechen Terror wird. Womöglich werden wir uns am nächsten Morgen in der U-Bahn fragen: Hat der Bärtige dort drüben etwas vor? Womöglich gehen wir für einige Zeit nicht mehr in den Gottesdienst. Barcelona soll schön sein, aber wäre ein anderes Reiseziel nicht sicherer? Muss man wirklich jedes Jahr auf den Weihnachtsmarkt?
Der Gedanke reicht. Wir waren bei den Anschlägen nicht dabei, haben nicht gesehen, wie Jacques Hamel zusammensackte, haben nicht gehört, wie das Holz der Weihnachtsmarktbuden auf dem Breitscheidplatz barst. Dennoch ist die Angst in uns hineingekrochen. Wir sind terrorisiert. Und ich bin schuld. Natürlich nicht ich allein, sondern: wir Journalistinnen und Journalisten, also ich und alle meine Kolleginnen und Kollegen, die über Terrorismus berichten.
Die meisten Menschen erfahren von einem Anschlag durch eine Eilmeldung auf dem Handy, durch eine Nachricht in der Tagesschau, eine Stimme aus dem Autoradio oder einen Blick in die Zeitung. Auch wenn Politikerinnen und Politiker sich äußern, wenn zum Beispiel Angela Merkel einen Anschlag „aufs Schärfste verurteilt“ oder der Außenminister sein Bedauern ausdrückt, immer sind es Journalistinnen und Journalisten, die diese Stimmen mit ihren Kameras und Mikrofonen in die Wohnzimmer tragen.
Es ist schmerzhaft zuzugeben, aber wir Journalistinnen und Journalisten sind die Boten des Terrors, durch uns werden aus fünf verängstigten Menschen in einer französischen Provinzkirche Millionen verängstigte, wütende, nach Rache rufende Menschen in der ganzen Welt. Die Tagesschau berichtete über Hamel, genau wie CNN. Natürlich kann man jetzt den berühmten Satz zitieren: „Don’t shoot the messenger“, was so viel heißt wie: Der Bote kann nichts für die Botschaft, die sie oder er überbringt. Nur, in diesem Fall stimmt das nicht.