Bühne des Kapitels / Moduls
Wie Terroristen uns Journalisten benutzen
Exkurs 3 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Das ganze Tun der Terroristen zielt auf mediale Verbreitung ab. Es geht ihnen darum, uns Journalistinnen und Journalisten dazu zu bringen, möglichst viel, lang und sensationsbeladen zu berichten. Deswegen wählen sie symbolische Ziele. Deswegen zwingen sie Guy Coponet zum Filmen. Deswegen lassen sie die Frauen leben. Was gibt es Schockierenderes als weinende Nonnen im Fernsehen? Den Attentätern von Rouen ist ein Toter mehr wert als sechs Tote.
Schon in den Fünfzigerjahren dachte ein algerischer Revolutionär laut darüber nach, was besser sei: zehn Feinde in einem abgelegenen Nest zu töten, und keiner kriegt es mit – oder einen einzigen in Algier, sodass am nächsten Tag Menschen in fernen Ländern und wichtige Politikerinnen und Politiker davon erfahren. Er formulierte damit das Leitmotiv des heutigen Terrorismus. Die Terroristen benutzen uns Journalistinnen und Journalisten. Und wir lassen uns benutzen, wieder und wieder.
Terroristische Gewalt gab es immer schon, aber zu einem mächtigen Phänomen wurde sie erst in der Moderne. Wie die Braunschweiger Historikerin Carola Dietze schreibt, verbreitete er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunächst dort, „wo die Transport- und Kommunikationstechnologien besonders weit fortgeschritten waren und die politisch interessierte Öffentlichkeit besonders stark ausgeprägt war“. Das heißt: vor allem in Europa.
1858 schleuderte der Revolutionär Felice Orsini in Paris eine Bombe auf den Wagen des französischen Kaisers Napoleon III., in der Hoffnung, damit einen Volksaufstand auszulösen.
1881 ermordeten Anarchisten den russischen Zaren Alexander II., als er mit seiner Kutsche durch St. Petersburg fuhr. 1914 erschoss ein serbischer Nationalist in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und löste damit indirekt den Ersten Weltkrieg aus. Alle drei Taten waren politische Morde, wie es sie zuvor schon gegeben hatte, seit Jahrtausenden, aber etwas war neu. Die Attentate fanden nicht im Verborgenen statt, sondern in der Öffentlichkeit, inmitten europäischer Metropolen. Es gab Hunderte Zeuginnen und Zeugen, und durch die Zeitungen und Telegrafen verbreiteten sich die schrecklichen Nachrichten innerhalb weniger Tage auf dem ganzen Kontinent.
Auf einmal hatten kleine terroristische Gruppen, selbst Individuen, ein Mittel gefunden, um mit wenig Aufwand das Weltgeschehen zu beeinflussen. Die Öffentlichkeit: Sie war eine Waffe geworden. Benutzt, je nach historischem Kontext, von faschistischen, antikolonialen, nationalistischen oder kommunistischen Kämpfern. Terroristinnen und Terroristen wurden zu Propagandisten der Tat, aber auch des Wortes. Ulrike Meinhof, eine der Anführerinnen der RAF, war Journalistin. Im Juni 1970, noch vor den ersten Terroranschlägen der Gruppe, druckte der Spiegel unredigierte Auszüge aus einem RAF-Pamphlet, das Meinhof formuliert hatte. Jahre später, im September 1977, sahen die Deutschen, als sie den Fernseher einschalteten, einen erschöpften Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, der in Todesangst aus der Stuttgarter Zeitung vorlas. Die RAF hatte ihn entführt. Nun machte sie die deutsche Öffentlichkeit zum Zeugen ihrer perfiden Inszenierung und setzte so die Bundesregierung unter Druck.
Die Medien- und die Terrorgeschichte sind untrennbar miteinander verbunden. Jedem medientechnischen Durchbruch folgt eine neue Ausprägung des Terrorismus.
Als das Fernsehen zum ersten Mal Olympische Sommerspiele live übertrug, 1972 in München, griffen Palästinenser das israelische Team an. Die Kameras schickten die Bilder um die Erde, niemand redete mehr über Sport, aber alle über den Nahen Osten. Als Mitte der 1990er der Fernsehsender Al-Dschasira gegründet wurde, sandte Osama bin Laden seine Kuriere mit Botschaften in dessen Redaktion. Und so wie der Spiegel Meinhofs Worte gedruckt hatte, verbreitete der Sender Bin Ladens Gedanken.
Irgendwann ließ Al-Dschasiras Interesse an den Texten nach und bin Laden änderte seine Strategie. Er ließ seine Kämpfer spektakuläre Anschläge organisieren, Bombenangriffe auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania, eine Attacke auf ein amerikanisches Kriegsschiff – und schließlich, im September 2001, den erfolgreichsten Terroranschlag der Geschichte, der so perfekt inszeniert war, dass keine Redaktion der Welt eine Wahl hatte. Bis heute laufen die Bilder fast jeden Tag irgendwo im Fernsehen, und immer noch nützt es den Islamistinnen und Islamisten jedes einzelne Mal, wenn jemand das Flugzeug in den Turm einschlagen sieht.
Die islamistische Ausprägung des Terrorismus ist die bisher totalitärste. Die RAF griff Repräsentantinnen und Repräsentanten der politischen und wirtschaftlichen Elite an, Bin Laden zielte auf alle, die nicht seinem radikalen Islamverständnis folgten. Niemand sollte sich sicher fühlen, jeder sollte Angst haben.
Dann passierte etwas Entscheidendes. Mehr als hundert Jahre lang mussten die Terroristen durch den journalistischen Filter, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Sie waren darauf angewiesen, dass Zeitungen und Rundfunk über sie berichteten. Mit der Verbreitung des Internets änderte sich das. Die erste Terrorgruppe, die das systematisch ausnutzte, war die irakische Al-Qaida-Filiale. Als ihr Anführer, Abu Mussab al-Sarkawi, im Mai 2004 den amerikanischen Geschäftsmann Nicholas Berg enthauptete, wurde das Video davon innerhalb von 24 Stunden eine halbe Million Mal heruntergeladen. Die Terroristinnen und Terroristen hatten einen direkten Weg gefunden, brutalste Bilder in die Köpfe von Menschen überall auf der Welt zu pflanzen. Wenig später kamen Kameras auf den Markt, die nicht größer sind als Streichholzschachteln. Zunächst filmten Extremsportler damit ihre spektakulären Skiabfahrten oder Skateboard-Sprünge, aber dann schnallte sich der Kleinkriminelle Mohammed Merah im März 2012 in der südfranzösischen Stadt Toulouse eine solche Kamera um die Brust. Er filmte, wie er in einer jüdischen Schule einen Rabbi und drei Kinder erschoss. Als eine Spezialeinheit zwei Tage später seine Wohnung umstellte, schnitt er gerade an seinem Laptop einen 24-minütigen Film zusammen.