Bühne des Kapitels / Moduls
Prävention durch Strafrecht
Exkurs 4 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Prävention als Ziel bei der Strafgesetzgebung
Anders als das Strafgericht bei der Aburteilung eines konkreten Täters hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum, Strafgesetze mit dem vorrangigen Ziel der Prävention von Straftaten zu schaffen. Den Vereinigungstheorien folgend, nach denen das Strafrecht neben der Vergeltung von Straftaten auch der Verhütung von weiteren Straftaten dient, hat der deutsche Gesetzgeber bei der Schaffung von Straftatbeständen von jeher eine Mischung aus vergeltenden und präventiven Überlegungen zugrunde gelegt.33)
Vorverlagerung der Strafbarkeit als Ausnahme
Die präventiven Ziele der Gesetzgebung stehen in einem Spannungsverhältnis mit den Grundsätzen des Tatstrafrechts, mit denen ein reines Gesinnungs- oder Gedankenstrafrecht unvereinbar wäre.34) Das Strafgesetzbuch beruht auf der hergebrachten und weiterhin als Grundsatz zu betrachtenden Konzeption, dass die Planung einer Straftat und sogar deren konkrete Vorbereitung grundsätzlich straflos bleiben, solange die Schwelle zum strafbaren Versuch noch nicht überschritten wird. Zur Verdeutlichung: Die Planung eines Mordes durch einen Einzeltäter und sogar das Beschaffen des Mordwerkzeugs sind noch nicht strafbar. Die Strafbarkeit beginnt erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Tat, also bildlich gesprochen, wenn der Täter mit dem Beil ausholt. Andererseits sind dem Strafgesetzbuch Tatbestände, die schon im Vorfeld einer Verletzung individueller Rechtsgüter eingreifen, nicht fremd. Dies wird deutlich, wenn man die konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikte betrachtet. Die konkreten Gefährdungsdelikte erfordern immerhin den Eintritt einer konkreten Gefahr (Beispiel.: Beinahe-Unfall bei § 315c Abs. 1 StGB). Noch weiter von einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung entfernt sind die abstrakten Gefährdungsdelikte. Bei diesen wird bereits eine Handlung wie etwa das Führen eines Kraftfahrzeugs unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen pönalisiert, ohne dass es zu einer konkreten Gefährdung oder gar tatsächlichen Verletzung von Rechtsgütern anderer Menschen gekommen ist. Diese Pönalisierung dient – zugleich spezial- wie generalpräventiv – der Verhinderung solcher Rechtsgutsverletzungen, die dann entstehen würden, wenn der Täter im Zustand der Fahruntüchtigkeit einen Unfall verursacht.
Daneben haben weitere Normen des Strafgesetzbuchs eine Vorverlagerung der Strafbarkeit in das Stadium der Deliktsvorbereitung zum Gegenstand, so etwa das Sichverschaffen von Gegenständen zur Fälschung amtlicher Ausweise (§ 275 Abs. 1 StGB) oder zur Herstellung von Sprengstoffen (§ 310 Abs. 1 StGB). Auch ist bereits das Herstellen einer unechten Urkunde strafbar, wenn diese später zur Täuschung im Rechtsverkehr verwendet werden soll (§ 267 Abs. 1 Alt. 1 StGB). Die Pönalisierung dient auch hier der Prävention einer erst noch beabsichtigten eigentlichen Tat. Eine Vorverlagerung strafbaren Verhaltens in das Vorbereitungsstadium nimmt ferner § 30 Abs. 2 StGB (Verbrechensverabredung oder Sichbereiterklären zu einem Verbrechen) vor. Die Legitimation derartiger, zumindest auch präventiven Zwecken dienender Straftatbestände wird von niemandem infrage gestellt. Dass der Staat in modernen Gesellschaften mit ihren multiplen Risiken berechtigt ist, Straftatbestände zu schaffen, die nicht erst den Erfolg von schweren Rechtsgutsverletzungen abwarten, sondern diesen Erfolg bereits in seiner Anbahnungsphase zu verhindern suchen, scheint hierbei ebenso unbedenklich, wie notwendig.35) Schwieriger ist die Frage zu beantworten, welchen verfassungsrechtlichen Grenzen der Gesetzgeber bei der Schaffung von präventiven Straftatbeständen unterliegt.
Maßstab des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht prüft die Verfassungsmäßigkeit von Strafgesetzen vorrangig am Maßstab der Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und – im Falle angedrohter Freiheitsentziehung – der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG).36) Eine Einschränkung dieser Freiheiten durch ein Strafgesetz ist nur zulässig, wenn der Rechtsgüterschutz37) dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert. Nach diesem Grundsatz muss ein grundrechtseinschränkendes Strafgesetz geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Übermaßverbot) gebietet, dass bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein muss. Im Bereich des staatlichen Strafens folgt aus dem Schuldprinzip und aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssen. In diesem Rahmen hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen.
Der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich keine eindeutigen Maßstäbe für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit strafrechtlicher Normen, die präventiv weit im Vorfeld eigentlicher Rechtsgutverletzungen angesiedelte Handlungen pönalisieren, entnehmen.38) Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber im Rahmen des ihm eingeräumten weiten Beurteilungsspielraums ausdrücklich zugestanden, aus generalpräventiven Gründen zum Schutz gewichtiger Gemeinschaftsgüter die Strafbarkeit von einer konkreten Gefährdung oder gar Verletzung dieser Rechtsgüter in den Bereich von Tathandlungen mit lediglich abstrakter Gefährdung vorzuverlagern.39)
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Die Autoren dieses Beitrages haben sich gegen die Anpassung des Textes an die gendergerechte Schreibweise entschieden.
2)
Hierzu übersichtlich Momsen/Rackow, JA 2004, 336.
3)
Theune 2007, Rdnr. 24.
4)
Joecks 2017, Rdnr. 55.
5)
Ebd., Rdnr. 57.
6)
Theune 2007, Rdnr. 25.
7)
Joecks 2017, Rdnr. 70.
8)
Theune 2007, Rdnr. 25.
9)
Joecks 2017, Rdnr. 73.
10)
Ebd., Rdnr. 76.
11)
Wessels/Beulke/Satzger 2017.
12)
Vgl. hierzu grundlegend und umfassend: BVerfGE 45, 187, 253 ff.
13)
BVerfGE 128, 326, 377; BVerfGE 109, 133, 173.
14)
BVerfGE 109, 133, 168.
15)
BVerfGE 45, 187, 254.
16)
BVerfGE, 187, 256.
17)
BVerfGE, 187, 253.
18)
BGHSt 20, 203, 204; BGHSt 39, 128, 138.
19)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 6 = NZWiSt 2016, 323.
20)
BGHSt 29, 319, 320; BGHSt 34, 345.
21)
BGHSt 24, 40, 42-46.; BGHSt 28, 318, 326 – insbesondere zur negativen Generalprävention durch Abschreckung; BGHSt 34, 150, 151-152 – insbesondere zur positiven Generalprävention durch Stärkung der Rechtstreue und zur positiven Spezialprävention durch Resozialisierung; BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 6 und Nr. 9 – jeweils zur negativen Generalprävention.
22)
BGHSt 20/BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 8/Theune, Rdnr. 40/Fischer 2018.
23)
BGHSt 24, 40, 42.
24)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2 und Nr. 6.
25)
BGHSt 20, 264, 267; BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2.
26)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Schuldausgleich Nr. 29. Im Fall eines verurteilten Steuerhinterziehers hat der BGH die Verhängung einer zweijährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung und einer zusätzlichen Geldstrafe zur Vermeidung einer nicht mehr bewährungsfähigen Freiheitsstrafe als noch vertretbar angesehen, solange die Gesamtsanktion noch geeignet sei, „den Angeklagten und die Rechtsgemeinschaft zu beeindrucken“ (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Schuldausgleich Nr. 34).
27)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Schuldausgleich Nr. 21.
28)
In einem Fall der geheimdienstlichen Agententätigkeit hat der BGH eine erhöhte Strafe zur Abschreckung des potenziellen Täterkreises für angezeigt gehalten, zumal spezialpräventive Erwägungen in diesem Kriminalitätsbereich keine Rolle spielten (BGHSt 28, 318, 326).
29)
Der BGH hat im Fall eines Totschlags die tatrichterliche Begründung einer Strafschärfung (innerhalb der Bandbreite der schuldangemessenen Strafe) aus spezialpräventiven Gründen wegen „Hemmungslosigkeit und Gefühlsarmut“ des Angeklagten, die einen längeren Freiheitsentzug zur erzieherischen Wirkung erfordere, gebilligt (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2).
30)
Im Fall eines wegen einer sexuellen Nötigung seiner Ehefrau verurteilten Angeklagten hat der BGH die Verhängung einer nichtbewährungsfähigen Freiheitsstrafe aufgehoben, weil das Tatgericht die für den Angeklagten sprechenden spezialpräventiven Erwägungen (u. a. keine Vorstrafen, Tat lag mehr als zehn Jahre zurück, keine Folgedelinquenz) nicht hinreichend berücksichtigt habe (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 5).
31)
BGH NStZ 1992, 275, 275. Im Fall einer räuberischen Erpressung durch ein Mitglied einer mafiösen Organisation hat der BGH die tatrichterliche Strafzumessung, wonach aus generalpräventiven Gründen in dem sich ausbreitenden Phänomenbereich der organisierten Kriminalität solche Taten eindrucksvoll geahndet werden müssten, gebilligt (vgl. BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 6). Umgekehrt hat der BGH die generalpräventiv begründete Erhöhung des Strafmaßes in einem Fall des sexuellen Missbrauchs als rechtsfehlerhaft beanstandet, da eine gemeingefährlich Zunahme derartiger Taten nicht feststellbar sei (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 7).
32)
BGHSt 20, 264, 267.
33)
Griesbaum/Wallenta 2013a.
34)
BGHSt 62, 102, 114.
35)
Griesbaum/Wallenta a. a. O.
36)
BVerfGE 90, 145, 171 ff.
37)
Zum Rechtsgüterschutz als oberstes Ziel des Strafens vgl. schon oben Fn. 14.
38)
So auch BGHSt 62, 102, 111.
39)
Vgl. BVerfGE 90, 145, 184.
40)
Frisch 2018, 315, 318.
41)
Ebd., 315, 319.
42)
Griesbaum/Wallenta 2013.
43)
Schünemann 2014.
44)
BGBl. I 1976, 2181.
45)
BGBl. I 1986, 2566.
46)
BGBl. I 2009, 2347.
47)
Schäfer 2017, Rdnr. 1.
48)
Bundestagsdrucksache 16/12428, 16.
49)
Ebd., 17.
50)
BGBl. I 2015, 926.
51)
Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy 2018.
52)
Umfassend dazu: Schäfer 2017, Rdnr. 4.
53)
Biehl, JR 2015.
54)
BGHSt 59, 218.
55)
BGHSt 62, 102.
56)
Ebd., 113. So auch BVerfGE 133, 277, 333.
57)
BGHSt 62, 102, 111.
58)
Paul, GSZ 2018, 43, 43.
59)
BGHSt 62, 102, 113.
Literatur
Biehl, Stefan (2015): Erweiterung des strafrechtlichen Instrumentariums zur Terrorismusbekämpfung. JR 2015, S. 561.
BGBl. I 1976, 2181.
BGBl. I 1986.
BGBl. I 2009.
BGBl. I 2015.
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 8
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 6 = NZWiSt 2016, 323.
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2.
BGHSt 20, 264, 267.
BGHSt 24, 40, 42-46.
BGHSt 29, 319, 320.
BGHSt 34, 345.
BGHSt 39, 128, 138.
BGHSt 62, 102, 111.
Brodowski Dominik/Jahn Matthias/Schmitt-Leonardy Charlotte (2018): Gefahrenträchtiges Gefährderrecht – Teil 2. GSZ 2018, 7, 9 (GSZ = Zeitschrift für das gesamte Sicherheitsrecht).
Bundestagsdrucksache 16/12428, 16.
Bundestagsdrucksache 16/12428, 17.
BVerfGE 45, 187, 253.
BVerfGE 45, 187, 254.
BVerfGE 45, 187, 256.
BVerfGE 90, 145, 171 ff., zur Strafbarkeit des unerlaubten Umgangs mit Cannabisprodukten (§ 29 BtMG).
BVerfGE 109, 133, 168.
BVerfGE 109, 133, 173.
BVerfGE 128, 326, 377.
Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch, 65. Auf. 2018, § 46, Rdnr. 20.
Frisch,Wolfgang (2018): Strafrecht und Terrorismus, Möglichkeiten und Grenzen eines so genannten präventiven Strafrechts gegen terroristische Straftaten am Beispiel des § 89a StGB, in: Festschrift für Thomas Fischer.
Griesbaum, Rainer-/Wallenta, Frank (2013): Strafverfolgung zur Verhinderung terroristischer Anschläge – Eine Bestandsaufnahme. NStZ 2013, S. 369, 371.
Joecks, Wolfgang (2017): In: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auf. 2017, Einleitung vor § 1.
Mitglieder des Bundesgerichtshof (2006): Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen. Köln, Carl Heymanns Verlag.
Momsen, Carsten/Rackow, Peter (2004): Straftheorien, JA 2004, 336.
Paul, Carsten (2017): Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 06.04.2017 – 3 StR 326/16, GSZ 2018, 43.
Schäfer, Jürgen (2017): In: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auf. 2017, § 89a.
Schünemann, Bernd (2006): Feindstrafrecht ist kein Strafrecht. In: Festschrift für Kay Nehm zum 65. Geburtstag, S. 214f.
Theune, Werner (2007): In: Laufütte, Heinrich Odersky, Walter: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 12. Auf. 2007, Vorbemerkungen zu §§ 46 bis 50.
Wessels, Johannes/Beulke, Werner/Satzger, Helmut (2017): Strafrecht Allgemeiner Teil, 47.Auf. 2017, Rdnr. 26.