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Prävention durch Strafrecht
Exkurs 4 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Prävention durch Strafrecht1)
Die als gesichert geltende Annahme, dass Strafrecht präventive Wirkung entfalten, also die Begehung von Straftaten verhindern kann, lässt sich aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Der erste Blick gilt der Wirkung von strafrechtlichen Verurteilungen auf den Einzelnen, aber auch auf die Allgemeinheit, und damit der Rechtsanwendung durch die Strafgerichte. Der zweite Blick richtet sich auf die Entwicklung der strafrechtlichen Gesetzgebung, die insbesondere im Bereich des Terrorismusstrafrechts durch eine kontinuierliche Vorverlagerung der Strafbarkeit mit dem Ziel der Prävention gekennzeichnet ist.
Prävention als Strafzweck bei der Strafzumessung
Die Frage, inwieweit präventive Erwägungen bei der konkreten Strafzumessung in einem Urteil berücksichtigt werden können, führt zunächst zu den auf der rechtsphilosophischen Ebene diskutierten Straftheorien.
Die Straftheorien
Die Straftheorien2) betreffen den Zweck von Strafe. Der rechtsphilosophische Streit hierüber wurde insbesondere seit der Aufklärung mit dem Aufkommen der absoluten und relativen Theorien ausgetragen. Die heute fast allgemein anerkannten Vereinigungstheorien versuchen, die verschiedenen Ansätze – teilweise mit unterschiedlicher Gewichtung – zu verbinden.
Die absolute Straftheorie versteht den Strafzweck losgelöst von einer gesellschaftlichen Zielverfolgung als Reaktion auf die konkrete Straftat. Strafe ist die Vergeltung einer schuldhaft begangenen Tat, Genugtuung für die Schädigung der Rechtsordnung und dient der Wiederherstellung der Gerechtigkeit durch schuldausgleich und Sühne, aber keinen Nützlichkeitszwecken.3) Das bereits in der Antike und in der älteren christlichen Ethik vertretene Vergeltungsprinzip („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) wurde in der deutschen Rechtstradition wesentlich geprägt durch Immanuel Kant (1724-1804) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Für Kant ist das Strafgesetz ein kategorischer Imperativ, das heißt ein von allen Zweck-Erwägungen losgelöstes Gebot der Gerechtigkeit.4) Nach dem Ansatz von Hegel ist das Verbrechen Negation des Rechts und die hierauf verhängte Strafe ist die Negation dieser Negation.5)
Demgegenüber setzen die relativen Straftheorien die gegen den einzelnen Straftäter zu verhängende Strafe in Relation zu den Zielen der Gesellschaft. Strafe hat danach den Zweck der Prävention, also der Verhinderung neuer Straftaten. Nach dem Modell der Spezialprävention soll dies durch Einwirkung auf den Täter selbst erreicht werden. Die Idee der Generalprävention will dagegen durch Einwirkung auf die Allgemeinheit mögliche andere Täter von Straftaten abhalten.
Der vor allem von Franz von Liszt (1851-1919) entwickelte Ansatz der Spezialprävention unterscheidet weiter zwischen den Strafzwecken der Abschreckung des Täters von weiteren Taten und seiner „Unschädlichmachung“ durch Verwahrung (negative Spezialprävention) sowie dem Strafzweck der Besserung des Täters im Hinblick auf seine Resozialisierung (positive Spezialprävention). Auch die Generalprävention wird im Wesentlichen in zwei Varianten vertreten. Eine negative Generalprävention zielt darauf, durch harte Bestrafung des Täters andere abzuschrecken, ebenfalls Straftaten zu begehen.6) Sie findet sich vor allem bei Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833) und gründet auf der Überlegung, dass der potenzielle Straftäter zum Verbrechen hin dränge und ihm die Androhung von Strafe so viel Unlustgefühl vermittele, dass die der Begehung entgegenwirkenden Motive das Übergewicht erlangen und ihn so zur Unterlassung der Tat bewegen könnten.7) Die positive Generalprävention verfolgt mit der Strafe das Ziel, die Rechtstreue der Bevölkerung zu bestärken und die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung zu beweisen. Nach dieser historisch jüngsten Theorie, die auf sozialpsychologische Erkenntnisse von Sigmund Freud (1856-1939)8) zurückgreift und maßgeblich durch Günther Jakobs (geb. 1937) beeinflusst wird, erfolgt Prävention nicht primär durch Abschreckung, sondern durch die Einübung von Rechtstreue. Sie basiert wesentlich auf der Annahme, dass der Bürger Vertrauen in das Recht hat, wenn er sieht, dass es durchgesetzt wird; die Bestrafung des Täters dient der Befriedung und der Stabilisierung von Normerwartungen.9)
Die heute herrschenden Vereinigungstheorien erkennen, wenn auch mit verschieden gesetzten Schwerpunkten, sämtliche Strafzwecke der absoluten und relativen Theorien an und versuchen, diese zu einem ausgewogenen Verhältnis zu verbinden. Wenn es um die Verhinderung von Straftaten geht, stehen Spezial- und Generalprävention nebeneinander.10) Das Strafgesetzbuch ist nicht auf eine Strafzwecktheorie festgelegt, sondern geht selbst von einer Vereinigungstheorie aus.11) Während in § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB die Schuld als grundlegender Bemessungsfaktor für die Strafe genannt wird, was dem Vergeltungsgedanken entspricht, enthält § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB spezialpräventive Kriterien, indem im Rahmen der Strafzumessung auch die Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters zu berücksichtigen sind. Die positive spezialpräventive Zielsetzung wird im Resozialisierungsgedanken der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) deutlich. Umgekehrt kann eine ungünstige Sozialprognose der Strafaussetzung zur Bewährung entgegenstehen, was den Strafzweck der negativen Spezialprävention zum Ausdruck bringt. Das Ziel der Generalprävention wird etwa in der Formulierung „zur Verteidigung der Rechtsordnung“ als Voraussetzung für die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen (§ 47 Abs. 1 StGB) oder für die Nichtaussetzung zur Bewährung (§ 56 Abs. 3 StGB) aufgegriffen. Der Präventionszweck kommt ferner in zahlreichen materiellen Straftatbeständen zur Umsetzung.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Die Autoren dieses Beitrages haben sich gegen die Anpassung des Textes an die gendergerechte Schreibweise entschieden.
2)
Hierzu übersichtlich Momsen/Rackow, JA 2004, 336.
3)
Theune 2007, Rdnr. 24.
4)
Joecks 2017, Rdnr. 55.
5)
Ebd., Rdnr. 57.
6)
Theune 2007, Rdnr. 25.
7)
Joecks 2017, Rdnr. 70.
8)
Theune 2007, Rdnr. 25.
9)
Joecks 2017, Rdnr. 73.
10)
Ebd., Rdnr. 76.
11)
Wessels/Beulke/Satzger 2017.
12)
Vgl. hierzu grundlegend und umfassend: BVerfGE 45, 187, 253 ff.
13)
BVerfGE 128, 326, 377; BVerfGE 109, 133, 173.
14)
BVerfGE 109, 133, 168.
15)
BVerfGE 45, 187, 254.
16)
BVerfGE, 187, 256.
17)
BVerfGE, 187, 253.
18)
BGHSt 20, 203, 204; BGHSt 39, 128, 138.
19)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 6 = NZWiSt 2016, 323.
20)
BGHSt 29, 319, 320; BGHSt 34, 345.
21)
BGHSt 24, 40, 42-46.; BGHSt 28, 318, 326 – insbesondere zur negativen Generalprävention durch Abschreckung; BGHSt 34, 150, 151-152 – insbesondere zur positiven Generalprävention durch Stärkung der Rechtstreue und zur positiven Spezialprävention durch Resozialisierung; BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 6 und Nr. 9 – jeweils zur negativen Generalprävention.
22)
BGHSt 20/BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 8/Theune, Rdnr. 40/Fischer 2018.
23)
BGHSt 24, 40, 42.
24)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2 und Nr. 6.
25)
BGHSt 20, 264, 267; BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2.
26)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Schuldausgleich Nr. 29. Im Fall eines verurteilten Steuerhinterziehers hat der BGH die Verhängung einer zweijährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung und einer zusätzlichen Geldstrafe zur Vermeidung einer nicht mehr bewährungsfähigen Freiheitsstrafe als noch vertretbar angesehen, solange die Gesamtsanktion noch geeignet sei, „den Angeklagten und die Rechtsgemeinschaft zu beeindrucken“ (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Schuldausgleich Nr. 34).
27)
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Schuldausgleich Nr. 21.
28)
In einem Fall der geheimdienstlichen Agententätigkeit hat der BGH eine erhöhte Strafe zur Abschreckung des potenziellen Täterkreises für angezeigt gehalten, zumal spezialpräventive Erwägungen in diesem Kriminalitätsbereich keine Rolle spielten (BGHSt 28, 318, 326).
29)
Der BGH hat im Fall eines Totschlags die tatrichterliche Begründung einer Strafschärfung (innerhalb der Bandbreite der schuldangemessenen Strafe) aus spezialpräventiven Gründen wegen „Hemmungslosigkeit und Gefühlsarmut“ des Angeklagten, die einen längeren Freiheitsentzug zur erzieherischen Wirkung erfordere, gebilligt (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2).
30)
Im Fall eines wegen einer sexuellen Nötigung seiner Ehefrau verurteilten Angeklagten hat der BGH die Verhängung einer nichtbewährungsfähigen Freiheitsstrafe aufgehoben, weil das Tatgericht die für den Angeklagten sprechenden spezialpräventiven Erwägungen (u. a. keine Vorstrafen, Tat lag mehr als zehn Jahre zurück, keine Folgedelinquenz) nicht hinreichend berücksichtigt habe (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 5).
31)
BGH NStZ 1992, 275, 275. Im Fall einer räuberischen Erpressung durch ein Mitglied einer mafiösen Organisation hat der BGH die tatrichterliche Strafzumessung, wonach aus generalpräventiven Gründen in dem sich ausbreitenden Phänomenbereich der organisierten Kriminalität solche Taten eindrucksvoll geahndet werden müssten, gebilligt (vgl. BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 6). Umgekehrt hat der BGH die generalpräventiv begründete Erhöhung des Strafmaßes in einem Fall des sexuellen Missbrauchs als rechtsfehlerhaft beanstandet, da eine gemeingefährlich Zunahme derartiger Taten nicht feststellbar sei (BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 7).
32)
BGHSt 20, 264, 267.
33)
Griesbaum/Wallenta 2013a.
34)
BGHSt 62, 102, 114.
35)
Griesbaum/Wallenta a. a. O.
36)
BVerfGE 90, 145, 171 ff.
37)
Zum Rechtsgüterschutz als oberstes Ziel des Strafens vgl. schon oben Fn. 14.
38)
So auch BGHSt 62, 102, 111.
39)
Vgl. BVerfGE 90, 145, 184.
40)
Frisch 2018, 315, 318.
41)
Ebd., 315, 319.
42)
Griesbaum/Wallenta 2013.
43)
Schünemann 2014.
44)
BGBl. I 1976, 2181.
45)
BGBl. I 1986, 2566.
46)
BGBl. I 2009, 2347.
47)
Schäfer 2017, Rdnr. 1.
48)
Bundestagsdrucksache 16/12428, 16.
49)
Ebd., 17.
50)
BGBl. I 2015, 926.
51)
Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy 2018.
52)
Umfassend dazu: Schäfer 2017, Rdnr. 4.
53)
Biehl, JR 2015.
54)
BGHSt 59, 218.
55)
BGHSt 62, 102.
56)
Ebd., 113. So auch BVerfGE 133, 277, 333.
57)
BGHSt 62, 102, 111.
58)
Paul, GSZ 2018, 43, 43.
59)
BGHSt 62, 102, 113.
Literatur
Biehl, Stefan (2015): Erweiterung des strafrechtlichen Instrumentariums zur Terrorismusbekämpfung. JR 2015, S. 561.
BGBl. I 1976, 2181.
BGBl. I 1986.
BGBl. I 2009.
BGBl. I 2015.
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Generalprävention Nr. 8
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 6 = NZWiSt 2016, 323.
BGHR § 46 Abs. 1 StGB Spezialprävention Nr. 2.
BGHSt 20, 264, 267.
BGHSt 24, 40, 42-46.
BGHSt 29, 319, 320.
BGHSt 34, 345.
BGHSt 39, 128, 138.
BGHSt 62, 102, 111.
Brodowski Dominik/Jahn Matthias/Schmitt-Leonardy Charlotte (2018): Gefahrenträchtiges Gefährderrecht – Teil 2. GSZ 2018, 7, 9 (GSZ = Zeitschrift für das gesamte Sicherheitsrecht).
Bundestagsdrucksache 16/12428, 16.
Bundestagsdrucksache 16/12428, 17.
BVerfGE 45, 187, 253.
BVerfGE 45, 187, 254.
BVerfGE 45, 187, 256.
BVerfGE 90, 145, 171 ff., zur Strafbarkeit des unerlaubten Umgangs mit Cannabisprodukten (§ 29 BtMG).
BVerfGE 109, 133, 168.
BVerfGE 109, 133, 173.
BVerfGE 128, 326, 377.
Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch, 65. Auf. 2018, § 46, Rdnr. 20.
Frisch,Wolfgang (2018): Strafrecht und Terrorismus, Möglichkeiten und Grenzen eines so genannten präventiven Strafrechts gegen terroristische Straftaten am Beispiel des § 89a StGB, in: Festschrift für Thomas Fischer.
Griesbaum, Rainer-/Wallenta, Frank (2013): Strafverfolgung zur Verhinderung terroristischer Anschläge – Eine Bestandsaufnahme. NStZ 2013, S. 369, 371.
Joecks, Wolfgang (2017): In: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auf. 2017, Einleitung vor § 1.
Mitglieder des Bundesgerichtshof (2006): Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen. Köln, Carl Heymanns Verlag.
Momsen, Carsten/Rackow, Peter (2004): Straftheorien, JA 2004, 336.
Paul, Carsten (2017): Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 06.04.2017 – 3 StR 326/16, GSZ 2018, 43.
Schäfer, Jürgen (2017): In: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auf. 2017, § 89a.
Schünemann, Bernd (2006): Feindstrafrecht ist kein Strafrecht. In: Festschrift für Kay Nehm zum 65. Geburtstag, S. 214f.
Theune, Werner (2007): In: Laufütte, Heinrich Odersky, Walter: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 12. Auf. 2007, Vorbemerkungen zu §§ 46 bis 50.
Wessels, Johannes/Beulke, Werner/Satzger, Helmut (2017): Strafrecht Allgemeiner Teil, 47.Auf. 2017, Rdnr. 26.