Bundeskriminalamt (BKA)

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In der Mitte der Gesellschaft - Beratung nach rechtsextremistischen Vorkommnissen

Rechtsextreme Aktivistinnen und Aktivisten melden einen Fackelmarsch an. Es werden hasserfüllte Flugblätter verteilt und gezielt Jugendliche angesprochen. Die Kommune möchte dagegen vorgehen.

In einem kleinen Ort kommt es vermehrt zu verbalen Angriffen und Gewalt gegenüber Flüchtlingen, Obdachlosen, Behinderten oder Homosexuellen. Gemeindepolitikerinnen und Politiker fragen sich, wie man richtig reagieren soll.

Eine Bürgermeisterin, die sich für Geflüchtete einsetzt, wird bedroht und sucht Hilfe. Auf einem Friedhof werden Gräber mit rechtsextremistischen, antisemitischen Parolen beschmiert und geschändet. Die Kirchengemeinde möchte etwas dagegen tun. Eine Schülerin äußert in einer Hausarbeit antisemitische Verschwörungstheorien. Die Schulleitung fragt um Rat. Vor einer Schule werden CDs mit Musik von Neonazi-Bands verteilt; eine Schülerzeitung mit rechtsextremistischen Inhalten taucht auf. Lehrerinnen und Lehrer wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. In einem Fußballverein werden rechte Stammtischparolen verbreitet, und es gibt immer wieder rassistisch motivierte Vorfälle. Vereinsvertreterinnen und -vertreter wollen das unterbinden. Ein Jugendlicher fällt durch flüchtlingsfeindliche Aussagen auf und gerät zunehmend in Kontakt mit rechtsextremistischen Gruppen. Die Eltern suchen Beratung und wollen ein Abdriften ihres Sohnes verhindern.

Beispiele wie diese gehören in zahlreichen west- und ostdeutschen Kommunen zum Alltag und machen viele Menschen rat- und hilflos.1) Vielen solcher Beispiele ist gemein, dass die Erscheinungs- und Verhaltensformen von Rechtsextremismus mitnichten alleine an Organisationen wie Parteien oder Strukturen wie die der Freien Kräfte gebunden sind. Vielmehr sind sie ein Indiz dafür, dass Facetten einer rechtsextremistischen Ideologie über den harten organisatorischen Kern hinaus nicht nur am extremen rechten Rand, sondern in der „Mitte der Gesellschaft“ verortet sind und sich durch unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen. Dies zeigen auch die unterschiedlichen Einstellungsstudien, die seit Anfang der 1980er-Jahre durchgeführt wurden: Von der Sinus-Studie „5 Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Führer haben ...“,2) über die unterschiedlichen empirische Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit3) bis hin zu den Studien der Leipziger Forschungsgruppe.4) Die Zustimmung zu einzelnen rechtsextremistischen Ideologieelementen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder Antisemitismus ist in Deutschland z. T. weit in der Mitte der Gesellschaft verbreitet, ohne dass dieses Einstellungspotenzial (zumindest auf Bundesebene) durch rechtsextreme Parteien bisher eine Bindung gefunden hätte. Erst durch den Aufstieg und die Etablierung der rechtspopulistischen AfD scheinen die breit vorhandenen Vorurteilskulturen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen nun auch ein parlamentarisches Sprachrohr gefunden zu haben.

Die Herausforderung, nationalsozialistischem und später rechtsextremistischem Gedankengut insbesondere bei jungen Menschen präventiv vorzubeugen, war und ist Aufgabe der politischen Bildung seit Gründung der Bundesrepublik; Menschen, die auf unterschiedliche Art und Weise von konkreten Vorfällen betroffen sind, eine Hilfestellung in Form einer individuellen Beratung anzubieten, ist hingegen eine noch relativ junge Profession.

Zur Geschichte der Mobilen Beratung

Zunächst wurde auf Landesebene in Brandenburg in den 1990er-Jahren durch zivilgesellschaftliche Träger als eine Reaktion auf vermehrte rechtsextremistische Vorkommnisse die Mobile Beratung aufgebaut. Sie diente später als „Blaupause“ für die Maßnahmen der Bundesregierung im Rahmen von unterschiedlichen Bundesprogrammen: So wurde die Mobile Beratung zentraler Baustein im Bundesprogramm „Civitas – initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern“ (2001-2006). Hierzu gehörten die Konzeption einer spezifischen Beratung von Opfern rassistischer und rechtsextremer Gewalt sowie die Mobile Beratung von Personen, Institutionen und Trägern, die von Vorkommnissen mit einem rechtsextremistischen Hintergrund betroffen sind. Mit dem Programm „kompetent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ (2007-2010) wurde die Förderung Mobiler Beratung auch auf die westdeutschen Bundesländer übertragen.

Leitgedanke dieses Bundesprogramms war die Schaffung eines breiten Pools von staatlichen und nicht-staatlichen Ressourcen, die Bündelung dieser verschiedenen Kompetenzen für ein gemeinsames Vorgehen in „Krisensituationen“ und die Gewährleistung einer möglichst passgenauen und professionellen Beratungsarbeit vor Ort. Die Finanzierung der bis 2010 aufgebauten Beratungsnetzwerke und damit auch der Mobilen Beratung wurde durch das Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ (2011-2014) weitergeführt, allerdings blieb die Finanzierung und Ausstattung als Voraussetzung für professionelle Arbeit gerade in großen Flächenländern Westdeutschlands z. T. weiter prekär. Das Bundesprogramm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ (2015-2019) knüpft in seiner Förderung und Rahmensetzung der Mobilen Beratung an die Vorgängerprogramme an und insbesondere in den vergangenen drei Jahren konnten die Angebotsstrukturen bundesweit deutlich ausgebaut werden.

Die noch relativ junge Profession der Mobilen Beratung im Kontext Rechtsextremismus hat sich in den vergangenen Jahren sehr professionalisiert und wurde systematisch weiterentwickelt, wie die folgenden Beispiele zeigen:

  • In den Jahren 2011-2019 lag ein großer Schwerpunkt in der Entwicklung von „qualitätsorientierten Verfahren“ zur weiteren Professionalisierung der Beratungsstrukturen; einige Bundesländer haben ihre Beratungsnetzwerke nach dem Verfahren „Kundenorientierte Qualitätstestierung für Beratungsorganisationen“ (KQB) bestätigen lassen.
  • Aus den seit 2008 vernetzten Mobilen Beratungsteams aus ganz Deutschland ist 2014 der Bundesverband Mobile Beratung e. V. entstanden, um an gemeinsamen und länderübergreifenden Fachstandards zu arbeiten, die fachliche Vernetzung voranzutreiben und um in der (Fach)Öffentlichkeit die Interessen der Mobilen Beratung zu vertreten.5)
  • Das Demokratiezentrum Hessen bietet seit 2012 in Zusammenarbeit mit dem Systemischen Institut Tübingen eine Modulare Weiterbildungsreihe „Systemische Beratung im Kontext Rechtsextremismus“ an, welche von Beraterinnen und Beratern aus dem gesamten Bundesgebiet besucht wird.6)

Arbeitsansatz der Mobilen Beratung

Mobile Beratung im Kontext Rechtsextremismus bietet den Beratungsnehmerinnen und -nehmern keine standardisierten Blaupausen und Patentrezepte; sie bietet vielmehr, so könnte ein Leitziel formuliert werden, eine angemessene Beratung nach örtlichen Konfliktsituationen mit fremdenfeindlichem, antisemitischem, menschenfeindlichem oder einem rechtsextremistischen Hintergrund an. Sie erfolgt auf Anfrage schnell, arbeitet diskret und kostenlos und entwickelt in der Lösung von akuten Konfliktsituationen vor Ort mit den unterschiedlichen Beratungsnehmerinnen und -nehmern individuell angemessene Handlungsstrategien für den künftigen Umgang mit solcherlei Konfliktsituationen. Bei aller kritischen Einschränkung orientieren sich die meisten Angebote methodisch an der Systemischen Beratung, insbesondere orientieren sie sich darin an den Problemsichten und Bedarfen der Beratungsnehmerinnen und -nehmer mit dem Ziel der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Weiterhin hat die Beratung zum Ziel, die subjektiv unter Druck stehenden Beratungsnehmerinnen und -nehmer zu entlasten und sorgt dafür, dass die Verantwortung von mehreren Schultern getragen wird. Entsprechend dieser Leitziele können auch grundlegende Unterscheidungen im Angebot der Mobilen Beratung auf drei Ebenen getroffen werden:

  • Verschiedene Informationsangebote wie: Aufklärung über rechtsextreme Szenen, Symbole, (jugend)kulturelle Elemente wie Musik und Kleidungsstile, Recherchen zu regionalen oder lokalen Szeneaktivitäten, Erstellung von spezifischen Sozialraumanalysen, Durchführung von zielgruppenspezifischen Fortbildungen und Workshops zu verschiedenen Themen oder Angebote wie Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen o. ä.;
  • Erweiterung der individuellen Handlungsmöglichkeiten: hier in Abhängigkeit von den konkreten Bedarfen der Beratungsnehmerinnen und -nehmer: z. B. durch Ergänzungen von Satzungen und Hausordnungen, Unterstützung bei der Erstellung von Selbstverständnissen und Positionen, systemische Hilfestellungen bei Entscheidungs- und Lösungsfindungen, Vermittlung von spezifischer und weiterführender Hilfe/Beratung (z. B. Opferberatung);
  • Vernetzung: Oftmals finden Beratungsnehmerinnen und -nehmer in „ihren Systemen“ keine Hilfe und Unterstützung. So ist ein zentraler Bestandteil der Beratung an Schulen, dass z. B. Lehrerkräfte, die den Schritt gewagt haben, eine externe Hilfe in Anspruch zu nehmen, in ihrem System Schule mit dem Problem nicht alleine stehen. Es wird nach Möglichkeiten gesucht, das Kollegium oder die Schulleitung in die Problemlösung mit einzubinden, um die subjektiv unter Druck stehenden Beratungsnehmerinnen und -nehmer zu entlasten. Vernetzung bedeutet in Beratungsfällen auf kommunaler Ebene, Menschen vor Ort zu motivieren, gemeinsam (z. B. als Bürgerbündnis oder Initiative) Verantwortung für die Bewältigung einer örtlichen Problemlage zu übernehmen und ggf. durch ihr Engagement auch kommunalpolitische Verantwortungsträger für eine klare Positionierung und Haltung zu gewinnen.

Handlungsfelder der Mobilen Beratung – ein Beispiel aus dem Sport

Mobile Beratung nach rechtsextremistischen, rassistischen oder antisemitischen Vorfällen wird von sehr unterschiedlichen Gruppen nachgefragt; in Hessen suchen z. B. Schulen, Kommunen, Vereine und Verbände oder auch Eltern von rechtsextrem orientierten Jugendlichen eine externe Unterstützung. Dabei spielten etwa im Jahr 2017 Anlässe, die in einem engen Zusammenhang mit dem organisierten Rechtsextremismus (Kameradschaften, Parteien etc.) stehen, nur in 10,6 % der Beratungen eine Rolle.7) Es überwiegen also Vorfälle mit einem rechtsextremistischen Hintergrund, ohne dass eine manifeste rechtsextreme Szene existieren muss. Die in diesem Kontext gerne verwendete Metapher vom „Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft“ wird mit Blick auf konkrete Beratungsanlässe deutlich, wie das folgende Beispiel zeigt:

In einem Fußballverein werden rechte Stammtischparolen verbreitet, und es gibt immer wieder rassistisch motivierte Vorfälle. Vereinsvertreterinnen und -vertreter wollen das unterbinden.

Vorfälle im Kontext des Amateursports sind immer wieder anlassgebend und charakteristisch dafür, dass sich rechtsextreme Einstellungen im Alltag zeigen, ohne dass streng organisierte rechtsextreme Kader dabei eine Rolle spielen müssen. Gerade am „Stammtisch“, im Vereinsheim oder sonntagnachmittags am Spielfeldrand werden mitunter Sprüche oder Parolen immer wieder von Besucherinnen und Besuchern oder gar von Sportlerinnen und Sportlern derart skandiert, dass dann von lokalen Vorurteilskulturen gesprochen werden kann, wenn solcherlei Vorfälle nicht einmalig, sondern regelmäßig vorkommen.

Wichtig für die Bearbeitung solcher Anfragen im Kontext Sport ist daher erstens zunächst zu konstatieren, dass der anlassgebende Sportverein nicht isoliert, sondern als Teil eines Gemeinwesens betrachtet werden muss. Solcherlei Vorurteile werden von denselben Personen möglicherweise auch in anderen lokalen Kontexten geäußert und Jugendliche, die in einem solchen Umfeld groß werden, werden unter den Prämissen einer solchen lokalen politischen Kultur politisch sozialisiert.8) Daher ist ein grundlegender Prozess der Mobilen Beratung die Gemeinwesenbeschreibung und sozialräumliche Problem- und Ressourcenanalysen.9)

Wenn zweitens wie im vorliegenden Beispiel „Vereinsvertreterinnen und -vertreter das unterbinden wollen“, so gilt es in Beratungen im Kontext Sport (wie auch in anderen Handlungsfeldern) zu berücksichtigen, dass Menschen insbesondere im ländlichen Räumen oftmals in komplexen Beziehungsgeflechten zueinander stehen. Das Postulat vom Engagement gegen Rechts stößt dann sehr schnell an seine Grenzen, wenn die Ängste der Menschen, als lokale „Nestbeschmutzer“ dazustehen, übersehen werden. Beziehungen können aber auf der anderen Seite einen wichtigen Faktor in der Lösung der Problemlage darstellen, wenn z. B. ein Vereinsvorstand, der gut im Ort „vernetzt“ ist, aktiv seine Bereitschaft zeigt, etwas gegen die Stammtischparolen und Vorurteile zu tun. In einem solchen Fall kann der Vereinsvorstand ein wichtiger Türöffner sein, andere Menschen im Verein oder in der Kommune für dieses Anliegen zu gewinnen.

Drittens besteht in dem weiteren Beratungsverlauf ein zentrales Ziel darin, dass sich Menschen im Verein und im Gemeinwesen gegen diese Vorurteilskultur positionieren. Hierbei bietet die Mobile Beratung zentrale Hilfestellungen an, etwa dabei, dass diese Gruppe darin unterstützt wird, eigene Haltungen und Positionen zu entwickeln, um dann konkrete und angemessene Maßnahmen zu entwickeln, die diese Positionen zum Ausdruck bringen: Diese reichen von formalen Maßnahmen wie Satzungsänderungen, Nutzungsänderungen von Vereinsheimen, über Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit, z. B. durch Pressemitteilungen o. ä., in denen der Verein die eigene Haltung pointiert formuliert bis hin zu Maßnahmen, die zeigen können, dass der Verein andere Werte vertritt als die öffentlichkeitswirksamen fremdenfeindlich-abwehrenden Einstellungen einzelner Mitglieder oder Fangruppen (bei größeren, zuschauerorientierten Vereinen). Solche Maßnahmen umfassen z.B. Sportfeste, die unter einem Motto stattfinden oder eine spezifische Vereinsarbeit mit von Fremdenfeindlichkeit betroffenen Personen – hier waren etwa viele Vereine bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen engagiert. Eine Kombination all dieser Maßnahmen findet sich z. B. auch in der offenen und partizipativen Entwicklung eines spezifischen Leitbildes des Vereins wieder, das eine formale Satzung zwar nicht ersetzt, wohl aber den Wertekanon auf verschiedene Ebenen des Vereinslebens herunterbricht und den Vereinsaktiven normative Leitplanken bietet.10)

Mobile Beratung im Kontext Rechtsextremismus ist kein intervenierender „Feuerwehr-Einsatz“. Die Bearbeitung akuter Konflikte führt in vielen Fällen vielmehr dazu, dass sich für die Betroffenen aus einer akuten Krise auch große Chancen entwickeln können, denn in vielen Beratungsprozessen mit Gemeinwesenbezug verändert sich die Perspektive weg vom „Etwas gegen Rechtsextremismus zu tun“ hin zu einem Engagement mit positiven Leitzielen, dass sich auf Basis der eigenen (neu) formulierten Positionen und Werte gründet.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen