Bundeskriminalamt (BKA)

Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Modules

Inhalt des Kapitels / Moduls

Die Rolle von Moscheegemeinden in der Prävention gegen Radikalisierung junger Musliminnen und Muslime in Deutschland

Moscheen können durch ihr religiöses Angebot viele Musliminnen und Muslime in Deutschland erreichen. Da der Islam allerdings kein Lehramt und keine Kirche kennt, gibt es eine Bandbreite an religiösen Auslegungen des Islams, die in den Moscheegemeinden unterschiedlich vertreten sind. Daher hängt die integrative Rolle der Moscheen von deren religiösen Angeboten ab. Man kann weder pauschal attestieren, dass Moscheen einen Beitrag gegen die Radikalisierung junger Menschen leisten, noch pauschal den Moscheen diese Rolle absprechen. Das Dilemma in Deutschland besteht jedoch darin, dass die meisten großen Moscheegemeinden im Laufe der Zeit politische Strukturen aufgebaut haben und mehr politischen als religiösen Agenden folgen. Dadurch verpassen sie nicht selten den Anschluss an die eigene Basis. Die Ergebnisse empirischer Studien, die zeigen, wie Moscheegemeinden und religiöse Praxis immer unattraktiver für junge Muslime werden, müssten gerade diese Gemeinden zum Umdenken bewegen, und zwar im eigenen Sinne und im Sinne ihrer religiösen Überzeugung. In seiner Studie über türkischstämmige Muslime in Deutschland aus dem Jahr 2016 kommt Detlef Pollack zu dem Ergebnis, dass Angehörige der zweiten und dritten Generation weniger häufig die Moschee besuchen, als die erste Generation (23 vs. 32 Prozent wöchentlich oder öfter) und auch deutlich seltener bekunden, mehrmals am Tag das persönliche Gebet zu verrichten (35 vs. 55 Prozent).1) Gleichzeitig gewinnt die salafistische Szene gerade unter jungen Musliminnen und Muslimen immer mehr an Attraktivität. Es ist nicht ausreichend, sich vom Salafismus und Extremismus zu distanzieren und diese zu verurteilen. Was die Jugendlichen dringend benötigen, sind Gegenangebote zum Fundamentalismus, die mit der Lebenswirklichkeit dieser Jugendlichen harmonieren und sie nicht vor die Wahl stellen, entweder Deutscher oder Muslim zu sein, sondern ihnen die Grundlagen für eine harmonierende mehrdimensionale Identität bietet: sowohl Deutscher als auch Muslim.

Bevor ich auf die Frage eingehe, wie so ein integratives religiöses Angebot aussehen kann, schauen wir uns kurz die wichtigsten Eckdaten im Zusammenhang mit den Musliminnen und Muslimen sowie den Moscheegemeinden in Deutschland an.

Musliminnen und Muslime in Deutschland – Daten und Fakten

Die genaue Zahl der Musliminnen und Muslime in Deutschland ist schwer zu bestimmen, da die Religionszugehörigkeit in Deutschland in der Regel nicht erfasst wird. Laut der Hochrechnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lebten Ende 2015 rund 4,4 bis 4,7 Millionen Musliminnen und Muslime in Deutschland (5,4 bis 5,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung).2) Nach Einschätzung des Pew Research Center in Washington lebten 2016 ca. 4,95 Millionen Musliminnen und Muslime in Deutschland (6,1 Prozent an der Gesamtbevölkerung).3) Neuere Daten liegen bisher noch nicht vor, aber laut Schätzungen basierend auf den Herkunftsländern der nach Deutschland Geflüchteten bzw. laut Umfragedaten, welche im Registrierungsprozess gewonnen wurden, lässt sich ableiten, dass die Zahl der Musliminnen und Muslime um etwa 800.000 nach oben korrigiert werden muss. Wobei auch hier darauf zu achten ist, dass es sich bei Einwanderern aus muslimisch geprägten Ländern nicht immer um Musliminnen und Muslime handelt, sondern um eine sehr heterogene Gruppe.

Rund 45 Prozent der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime sind deutsche Staatsangehörige, rund 55 Prozent verfügen über eine ausländische Nationalität. Eine Schätzung des BAMF aus dem Jahr 2016 zeigt, dass es sich bei den Musliminnen und Muslimen in Deutschland um eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe handelt. Demnach hatten rund 2,3 Millionen und damit rund die Hälfte (51 Prozent) ihre Wurzeln in der Türkei. Zum Vergleich: 2011 lag ihr Anteil noch bei 67,5 Prozent. Musliminnen und Muslime aus dem Nahen Osten stellen mit geschätzten 775.000 Personen die zweitgrößte Herkunftsgruppe (17 Prozent). Diese Zahl wuchs hauptsächlich durch die zugeflüchteten Personen. An dritter Stelle folgen rund 520.000 Musliminnen und Muslime aus südosteuropäischen Herkunftsländern (11 Prozent), hauptsächlich aus Bosnien, Bulgarien und Albanien. Aus Nordafrika kommen zwischen 259.000 und 302.000 der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime, mehrheitlich aus Marokko. Der Rest stammt aus Zentralasien/GUS, Iran, Süd-/Südostasien und dem sonstigen Afrika.4)

Die Mehrheit der Musliminnen und Muslime in Deutschland gehört dem sunnitischen Islam an. Ihr Anteil beträgt ca. 74 Prozent. Die zweitgrößte muslimische Glaubensgruppe ist die der Aleviten, deren Anteil bei 13 Prozent liegt. Es folgen die Schiiten mit einem Anteil von sieben Prozent. Neben diesen Glaubensgruppen leben kleine muslimische Gruppen wie Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinde, die Sufis/Mystiker bzw. die Ibaditen und andere nicht näher spezifizierte islamische Konfessionen.5)

Die umfassende Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz ergab im Jahr 2009, dass die Mehrheit der Musliminnen und Muslime gläubig ist: 36 Prozent schätzen sich selbst als stark gläubig ein, weitere 50 Prozent geben an, eher gläubig zu sein. Religiosität ist insbesondere bei türkischstämmigen Musliminnen und Muslimen und afrikanischer Herkunft ausgeprägt. Dagegen ist sie bei iranischstämmigen Musliminnen und Muslimen, fast ausschließlich Schiiten, eher gering: Nur zehn Prozent sehen sich als sehr stark gläubig und etwa ein Drittel als gar nicht gläubig. Muslimische Frauen sind in fast allen Herkunftsgruppen tendenziell gläubiger als Männer. Insgesamt sind ca. 20 Prozent der Musliminnen und Muslime in religiösen Vereinen oder Gemeinden organisiert.

Moscheegemeinden in Deutschland

Der erste islamische Dachverband in Deutschland ist der türkische Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Dieser wurde schon im Jahre 1973 gegründet. Danach wurden die ebenfalls türkische Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) und dann die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) als Ableger des türkischen Religionsministeriums Diyanet gegründet. Später wurde der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) als Zusammenschluss mehrerer arabischer, türkischer und schiitischer Vereine gegründet. Neben diesen vier großen Dachverbänden folgte ab den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Gründung einiger weiterer Vereinigungen: die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken (1994), die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS) (2009) sowie das Bündnis malikitischer Gemeinden in Deutschland (BMG) (2018), das überwiegend aus marokkanischstämmigen Gemeinden besteht.

In Deutschland gibt es etwa 2.350 islamische Gebetsräume und Moscheen.6) Viele dieser Moscheegemeinden leisten gemeinnützige Arbeit. Vor allem die Wohlfahrtspflege stellt einen wichtigen Teil davon dar. Dazu kommen Freizeit-, Bildungs- und Betreuungsangebote. Dabei sind die meisten Gemeinden auf das Engagement Ehrenamtlicher angewiesen.

Dennoch besteht starke Kritik an den großen Dachverbänden, vor allem wird ihnen immer wieder vorgeworfen, an erster Stelle politischen Agenden zu folgen und weniger an einem weltoffenen Islam für Musliminnen und Muslime in Deutschland und Europa interessiert zu sein. Die Abhängigkeit dieser oder einiger dieser Verbände vom Ausland ist hoch problematisch. Für Verstimmung sorgte zum Beispiel 2017 die Affäre um DITIB-Imame, die Informationen über mutmaßliche Gülen-Anhänger in ihren Gemeinden oder Regionen gesammelt und nach Ankara geschickt haben sollen. Die Bundesanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen gegen die beschuldigten Imame im Dezember 2017 ein.7)

In den letzten Jahren war der Fokus auch immer wieder auf die Inhalte der Freitagspredigten in den Moscheen gerichtet. Die Kritik richtete sich vor allem gegen Freitagspredigten der DITIB wegen nationalistischer Untertöne, besonders nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 oder im Januar 2018, als viele DITIB-Imame in Deutschland einem Aufruf der türkischen Religionsbehörde Diyanet folgten und für einen Erfolg der türkischen Truppen beteten, die gerade in Syrien einmarschiert waren.

Hin und wieder wurden Predigten bekannt, in denen Frauen und Homosexuelle, aber auch Juden benachteiligt wurden. Die eigentliche Herausforderung bleibt dennoch die nicht seltene Entfernung der Inhalte der Freitagspredigten von der Lebenswirklichkeit der Musliminnen und Muslime in Deutschland, vor allem der muslimischen Jugendlichen. Und genau diese Lücke wird nicht selten von den fundamentalistischen Angeboten geschlossen. Daher muss hier betont werden, dass die Moscheegemeinden nicht nur dann einen Beitrag zum Frieden leisten, wenn sie keine fundamentalistischen bzw. gewaltgeladenen Gehalte vermitteln, sondern wenn sie menschenfreundliche und lebensnahe religiöse Angebote machen als Antwort auf den Fundamentalismus. Damit wir uns alle als Gesamtgesellschaft dafür sensibilisieren, dass der Kampf gegen Radikalisierung und religiösen Fundamentalismus in unserer Gesellschaft keineswegs eine rein theologische Aufgabe darstellt (zum Beispiel, wie man den Koran unterschiedlich interpretiert oder eine andere religiöse Position kritisch reflektiert), sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, muss folgende Frage beantwortet werden:

Warum ist gerade der Fundamentalismus für einige muslimische Jugendliche attraktiv?

Wir stehen in Deutschland vor einem Phänomen bei vielen muslimischen Jugendlichen, das ich „ausgehöhlte religiöse Identität“ nenne. Dieses Phänomen zu verstehen, ermöglicht uns die Konzipierung entsprechender religiöser Angebote, mit denen wir vor allem diese Jugendlichen erreichen und ihnen zu religiöser Mündigkeit verhelfen können. Denn gerade extremistische Angebote erreichen solche Jugendlichen, die ihre Religiosität an Dritte zu delegieren bereit sind und nicht gelernt haben, ihre Religiosität selbst in die Hand zu nehmen und selbst zu bestimmen.

Nur wenn ich weiß, wer ich bin und mir meiner Identität sicher bin, habe ich keine Angst, mich dem Anderen zu öffnen, in ihm das Neue zu begrüßen. Die Begegnung des Islams mit Europa Mitte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Arbeitsmigration führte jedoch zu Identitätsverunsicherungen auf beiden Seiten, was statt Nähe Distanz hervorrief.

Wenn heute in Deutschland von Musliminnen und Muslimen gesprochen wird, dann spricht man hauptsächlich von den ehemaligen „Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern“, die im Zuge der Anwerbeabkommen in den 1960er- und 1970er-Jahren als Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen sind, von deren Familien, die in den 1980er-Jahren im Zuge der Familienzusammenführung nachgekommen sind sowie von deren Nachkommen, die mittlerweile in zweiter und dritter Generation in Deutschland geboren wurden. Es ist mehr oder weniger ein Zufall, dass es sich bei vielen der ehemaligen „Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern“ um Musliminnen und Muslime handelt. Dadurch überlagern sich verschiedene Dimensionen des Andersseins, der Fremdartigkeit, und so verschärfen sich Probleme der Abgrenzung, der Anpassung und der Integration; ethnische Dimensionen überlagern sich mit nationalen, religiösen und sozioökonomischen.8)

Sprach man in den 1960er- und 1970er-Jahren von „Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern“, so begann man in den 1980er- und 1990er-Jahren, als die Arbeitsmigration durch die Familienzusammenführung sichtbar geworden war, von „Ausländerinnen und Ausländern“ zu sprechen. Spätestens seit dem 11. September 2001 spricht man von „Musliminnen und Muslimen“, gemeint sind aber noch immer die ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und deren Nachkommen. Mit dieser Verschiebung der Wahrnehmung wurden aus den typischen sozialen Problemen einer Gastarbeiterschaft religiöse Probleme. Die Kategorie „Muslim“ rückt immer stärker als Deutungsmuster für soziale Defizite der Gastarbeiterschaft in den Vordergrund. Die Religion sei das Problem, sei das Integrationshindernis, heißt es. Musliminnen und Muslime finden sich entsprechend in einer Rechtfertigungsposition wieder. Betrachtet man die Debatten der letzten Jahre um das Thema Islam, dann sind diese entweder überschattet von sicherheitspolitischen Fragen oder es geht um Moscheebauten, Minarette und das Kopftuch. Und wer die Ankunft der Musliminnen und Muslime in Europa als Sicherheitsproblematik begreift, wird voraussichtlich früher oder später auch der eigenen Angst erliegen und im Islam und in den Musliminnen und Muslimen nur noch eine Gefahr und Bedrohung sehen. Dadurch, dass sich Musliminnen und Muslime in einer Rechtfertigungsposition wiederfinden und sich zum Teil mit dem Opferdiskurs abfinden, kommen sie kaum dazu, die notwendige Frage an sich zu stellen: Wie kann der Islam die europäischen Gesellschaften heute bereichern?

Gerade Angehörige der sogenannten zweiten und dritten Generation der Musliminnen und Muslime fühlen sich mit der hiesigen Gesellschaft stark verbunden, ihre Distanz zur Heimatkultur ihrer Großeltern ist groß. Je stärker sie sich integriert fühlen, desto größer sind auch ihre Erwartungen an das Aufnahmeland; das zeigt sich vor allem im Anspruch auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Institutionen (Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt), aber auch in der Erwartung, allgemein anerkannt und akzeptiert zu sein.9) Dies ist Ausdruck ihrer Integration in der Gesellschaft.

Die erste Generation der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus islamischen Ländern kam primär aus der Türkei und Nordafrika, war also in einem islamischen Land aufgewachsen. Die Angehörigen dieser Generation wurden in ihren Heimatländern sozialisiert und internalisierten dort Werte und Normen. Für sie war Religion nicht mehr als ein Teil ihrer Herkunftsidentität. Eine reflexive Zuwendung zur eigenen Kultur und zur eigenen Religion setzte vor allem mit dem Familiennachzug ein.

Die Bedeutung der Religion in der zweiten und dritten Generation differenzierte sich stärker aus. Das begründet sich dadurch, dass diese Generationen in ihrer Sozialisation, Sprache und Identitätsentwicklung stärker einer Spannung zwischen den Orientierungen der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt sind und ihnen dabei Religion als (mögliche) Bewältigungsstrategie dient. Die Erwartungen der Jugendlichen an die europäischen Gesellschaften sind hoch. Hier, wo sie geboren und aufgewachsen sind, wünschen sie sich eine Heimat, die ihnen nicht nur Chancengleichheit im Bildungssektor, am Arbeitsmarkt und am Wohnungsmarkt bietet, sondern auch eine innere Heimat, in der sie sich als anerkannte Menschen entfalten können. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt und haben die Jugendlichen das Gefühl, diskriminiert zu sein, dann kommt es zu verschiedenen Reaktionen. Manche kapseln sich ab, sie gehen zu beiden Systemen – zur Kultur der Eltern und zur Mehrheitsgesellschaft – auf Distanz. Viele Jugendliche greifen aber auch reaktiv bei der Suche nach einem sicheren „Wir-Gefühl“ auf die Religion zurück. Auf die Frage, als was sie sich fühlen, bezeichnen sie sich selbst hauptsächlich als Musliminnen und Muslime, der Islam bedeute für sie sehr viel. Diese Form der islamischen Identität bezeichne ich als „Schalenidentität“.10)

Für die Konstruktion einer kollektiven Identität bedienen sich diese Jugendlichen eines Islams „ohne Inhalt“; der Islam, den sie leben, ist mit einer leeren Schale zu vergleichen. Die Religion dient der Konstruktion einer kollektiven Identität, die auch Schutz vor dem „Anderen“ bietet. „Schalenmuslime“ stützen sich also auf ausgehöhlte (entkernte) Identitäten. Diese Jugendlichen fühlen sich als unwillkommene Ausländerinnen und Ausländer sowie als benachteiligte Außenseiterinnen und Außenseiter. Durch den Islam, der vor allem als Bindeglied zu anderen Migrantenjugendlichen gleicher Herkunft bzw. Religion gesehen wird, können sie ein gewisses Gefühl der Sicherheit aufbauen. Sie halten sich überwiegend an die gottesdienstlichen kollektiven Praktiken. Diese finden ihren Ausdruck in der Gemeinschaft, werden im Bezug zur Gruppe verrichtet und von ihr mehr oder weniger kontrolliert. Viele Jugendliche fasten also im Monat Ramadan, viele männliche Jugendliche gehen freitags zum gemeinschaftlichem Freitagsgebet in die Moschee und Mädchen tragen ein Kopftuch; so erfüllen sie die Erwartungen der sozialen Kontrolle seitens der eigenen Community und konstruieren gleichzeitig eine reaktive kollektive Identität, die ihnen das notwendige Gefühl der Sicherheit und Stärke vermittelt.

Diese religiöse kollektive Identität ist also als Reaktion zu verstehen – einerseits auf die Erwartungen der Eltern und der eigenen Community, andererseits auf das Gefühl der Nicht-Anerkennung seitens der Mehrheitsgesellschaft und somit als Selbstfindungsprozess in einem „anderen“ sicheren Kollektiv, in dem ihre Zugehörigkeit zu diesem nicht ständig hinterfragt wird. Gerade aus dem letztgenannten Punkt wird diese Identität über die Beschreibung des Anderen und weniger über die Beschreibung des Eigenen skizziert. Das heißt: Wenn Jugendliche beschreiben, was sie als Musliminnen oder Muslime ausmacht, geben sie weniger an, was sie sind, sondern vielmehr, was sie nicht sind. Ihre islamische Identität ist nicht selten eine der Ab- und Ausgrenzung. Entsprechend (über)betonen sie solche Elemente in der Religion, die sie über die Anderen (Nichtgläubigen) erhöhen. Dazu gehört vor allem die Vereinnahmung Gottes und seiner Gnade nur für sich und die eigene Gruppe.

Es kommt bei Jugendlichen der zweiten Generation zu einer Umwertung: Hier geboren und aufgewachsen erwarten sie, auch hier eine Heimat geboten zu bekommen, in der sie sich heimisch fühlen können. Bei Nichterfüllung dieser Erwartungen beginnen die Jugendlichen, kulturelle Gegensätze zu konstruieren und vorhandene zu übertreiben. Es kommt zur Überbetonung von Differenzen. Gemeinsamkeiten in den Einstellungen und Vorstellungen, aber auch religiöse Gemeinsamkeiten werden heruntergespielt. Ein offenes Islamverständnis, das nicht nur Gemeinsamkeiten mit den anderen Weltreligionen betont, sondern auch das im Koran verankerte Prinzip der Würdigung aller Menschen als Menschen – unabhängig davon, welcher Weltanschauung sie angehören – spricht diese Jugendlichen weniger an, denn sie suchen nach Elementen in der Religion, die ihr Anderssein betonen sollen. Begriffe wie Aufklärung oder Moderne werden pauschal als „westlich“ abgelehnt, ohne sich mit deren Inhalten zu beschäftigen. Hier besteht die Gefahr der Instrumentalisierung der Religion, im Sinne einer reaktiven Rückbesinnung, die sich durch das Festhalten an sichtbaren Symbolen äußert, um Grenzen zwischen Kollektiven auf der Basis religiöser Differenz zu ziehen.

Eine immer stärkere Identifikation mit dem Islam und zugleich eine kaum reflexive Beschäftigung mit dem Islam führen zur Aushöhlung der Religion. Denn es geht bei dieser Identifikation mit dem Islam nicht um Spiritualität, um Gotteserfahrung, um Inhalt, sondern lediglich um die äußere, identitätsstiftende Fassade. Und genau hier wird das salafistische/fundamentalistische Angebot attraktiv, denn dieses spaltet die Welt in Gut und Böse. Die Guten liebt Gott, die Bösen verdammt er bis in die Ewigkeit. Salafisten seien die einzigen, die von Gott geliebt werden, sie seien letztendlich die Sieger, die Auserwählten. Dazuzugehören gibt ein Gefühl der Stärke und vor allem der Überlegenheit. Das restriktive Gottesbild der Salafisten verleiht Macht, denn an der Seite eines kriegerischen Gottes zu stehen, dessen Botschaft eine Kampfansage ist, macht mächtig. Ein barmherziger, liebender Gott, dessen Barmherzigkeit seinem Zorn vorauseilt, ist hingegen ein schwacher Gott, daher konstruieren fundamentalistische Gruppierungen einen patriarchalischen Gott, der seine Männlichkeit immer wieder mit Zorn und Gewalt unter Beweis stellt. Sich mit solchen fundamentalistischen Gedanken zu identifizieren ist letztendlich Ausdruck innerer Ohnmacht, die manche Jugendlichen, aber nicht nur Jugendliche, durch die Identifikation mit einer mächtig auftretenden Religion zu kompensieren versuchen.

Solche ausgehöhlten Identitäten sind stark anfällig für politische Instrumentalisierung und entsprechende Rekrutierung in fundamentalistischen Milieus. Jürgen Oelkers bringt diese Gedanken auf den Punkt: „Die politische Bearbeitung dieser Probleme dürfte umso schwieriger werden, je weniger die sozio-ökonomische Integration gelingt, je geringer der Schulerfolg der Kinder ist, je mehr verschiedene Generationen Desintegration erleben und je härter die eigene Kultur abgeschottet wird. Von der anderen Seite aus gesagt: Je weniger die aufnehmende Kultur bereit ist, Integrationswillige aufzunehmen, je stärker sich die fundamentalistische Diskussion entwickelt und je weniger echte Chancen sich die Mitglieder der fremden Kultur ausrechnen können, desto mehr verschärft sich das Problem. Religiöse Überzeugungen lassen sich dabei politisch instrumentalisieren, und dies umso mehr, je weniger Kontakt mit anderen Kulturen besteht.“11)

Imame in Deutschland: Es kommt nicht nur auf die Sprache der Predigt, sondern und vor allem auf deren Inhalte an

In der öffentlichen Debatte wurde und wird weiterhin in Deutschland über die Notwendigkeit diskutiert, dass Imame auch auf Deutsch predigen sollen. Es ist keine Frage, dass die Predigt muslimischer Imame auf Deutsch bzw. zumindest eine Zusammenfassung der Predigt auf Deutsch für mehr Transparenz der Arbeit der Imame sorgen wird, aber auch, und das ist in meinen Augen noch wichtiger, für mehr Ansprechbarkeit der Predigten für Musliminnen und Muslime, vor allem für muslimische Jugendliche, welche die deutsche Sprache viel besser beherrschen und verstehen können als die Sprachen der Herkunftsländer ihrer Eltern. Allerdings ist die Sprache allein weder das eigentliche Problem noch die eigentliche Lösung, denn worauf es im Grunde ankommt, sind die Inhalte, die den Menschen in den Moscheegemeinden vermittelt werden. Viele salafistische Prediger in Deutschland tragen ihre Gedanken in ihren Moscheen und in öffentlich zugänglichen Medien auf Deutsch vor und erreichen dadurch eine breite Basis an muslimischen Jugendlichen. Und gerade dieses Beispiel der salafistischen Prediger zeigt, wo das eigentliche Problem liegt. Es ist die Frage: Welcher Islam wird an deutschen Moscheen vermittelt?

Diese Frage ist deshalb zentral, weil die meisten Musliminnen und Muslime nicht selbst im Koran nachlesen bzw. sich mit islamischer Literatur auseinandersetzen, sondern viele sich auf das verlassen, was sie von sogenannten religiösen Autoritäten hören; für sie ist das der richtige Islam. Und da Imame für viele Musliminnen und Muslime als solche Autoritäten gelten, tragen diese eine große Verantwortung zur Etablierung des jeweiligen Islambildes, das sie predigen. Als Leiter des größten islamisch-theologischen Zentrums in Deutschland12) bin ich unmittelbar in der Frage der Imameausbildung an deutschen Universitäten involviert. Daher möchte ich hier in Stichpunkten skizzieren, welche Inhalte deutsche Imame für einen weltoffenen Islam verantworten sollten und welche theologischen Hürden zu überwinden wären:

1. Religiöse Mündigkeit als Grundsatz und die Notwendigkeit einer reflektierten religiösen Bildung

Die religiöse Bildung muslimischer Jugendlicher in Deutschland muss der angesprochenen Entwicklung der Entstehung ausgehöhlter religiöser Identitäten Rechnung tragen und ein Angebot machen, das diese entkernten Identitäten mit einem sinnvollen Gehalt füllt. Moderne religiöse Bildung versteht sich im Dienste des Subjekt-Werdens des Individuums und seiner Selbstbestimmung und daher nicht als Prozess der Vermittlung von Religion. Beim veralteten Konzept der Vermittlung stand das zu Vermittelnde im Vordergrund, die Menschen wurden mehr als Objekte denn als Subjekte religiöser Bildung betrachtet. Heute geht es um Aneignungsprozesse. Bei diesem Konzept der Aneignung steht der Mensch als Subjekt selbst, mit seiner Lebenswirklichkeit, seinen Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen, Bedürfnissen usw. beim Prozess der religiösen Bildung im Vordergrund. In einer modernen islamischen Bildung geht es heute also nicht um das Eintrichtern von Glaubensgrundsätzen und die Vermittlung von endgültigen Antworten, sondern darum, Menschen zu befähigen, ihre eigene Religiosität zu entwickeln und wahrzunehmen sowie die Bedeutung religiöser Inhalte individuell zu reflektieren, damit sie ihre Religiosität selbst verantworten können. Es geht also um Fragen wie „Was bedeutet Religion für mich?“ und „Welchen Bezug haben religiöse Inhalte zu meinem Alltag und zu meinem Lebensentwurf?“

Durch religiöse Bildung sollten Menschen befähigt werden, ihr Leben in religiöser Hinsicht selbst entwerfen und diesen Lebensentwurf selbst verantworten zu können. Sie sollten in der Lage sein, zwischen lebensfreundlichen und lebensfeindlichen religiösen Angeboten zu unterscheiden.

Aufgabe einer zeitgemäßen islamischen Bildung ist es nicht, jungen Menschen einen Katalog an Erlaubtem (Halal) und an Verbotenem (Haram) zu vermitteln und Heranwachsende zur unkritischen Befolgung religiöser „Gesetze“ anzuhalten, was den Prozess der Entstehung ausgehöhlter Identitäten nur begünstigt. Vielmehr sollen junge Menschen zur kritischen Reflexion von Traditionen, die sich mit humanen Werten nicht vereinbaren lassen, angehalten und dazu befähigt werden, ihre freie individuelle Selbstbestimmung als Muslime auf der Basis eines offenen Islamverständnisses im Sinne einer spirituellen und ethischen Religion und weniger einer Gesetzesreligion zu entfalten. Sie sollen den Sinn ihrer Religiosität für sich entdecken und dazu befähigt werden, Gotteserfahrung zu machen.

Das Subjekt muss sich also selbst einbringen. Wenn es aber in religiöser Bildung um ein subjektives Betroffensein von Religion geht, dann setzt dies eine dialogische Theologie voraus, welche die Beziehung Gott-Mensch nicht als Gehorsamkeitsbeziehung, sondern als dialogische, ja als Liebes-Beziehung vorsieht, einen Gott meint, der zugänglich ist, der erfahrbar ist, einen Gott also, dem es nicht um sich selbst, dem es nicht um Instruktionen geht, sondern um den Menschen selbst.13)

2. Die Notwendigkeit der Überwindung religiösen Exklusivismus

Gerade durch das Insistieren auf den alleinigen Wahrheitsanspruch der eigenen Überzeugungen bleibt kaum Raum für andere Wahrheitsansprüche. Denn der religiös begründete Exklusivismus besteht darauf, dass außerhalb der eigenen Religion keine heilshafte Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeit bzw. Offenbarung vermittelt werden kann. Anderen Religionen kommt somit keine heilsvermittelnde Funktion zu. Der Exklusivismus ist allerdings nicht mit dem eigenen Wahrheitsanspruch zu verwechseln. Dieser kann zwar, muss aber nicht exklusivistisch vertreten werden. Denn wenn ich daran glaube, dass meine Religion der Weg zur Wahrheit ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass es nicht andere Wege zur Wahrheit gibt. Damit relativiere ich keineswegs meinen Wahrheitsanspruch.

Im religiösen Exklusivismus steckt eine Grundlage für Gewalt, weil er eine Form der Ablehnung des „Anderen“ darstellt. Und wenn diese Ablehnung im Namen Gottes geschieht, dann nimmt sie absolute Züge an, und wir wären nicht mehr weit entfernt von dem, was man Religionskriege nennt. Die Geschichte der drei monotheistischen Religionen kennt das zur Genüge.

Der religiös begründete Exklusivismus ist im Islam längst nicht nur unter Salafisten und muslimischen Fundamentalisten verbreitet. Diese Haltung steht noch bis heute stark in der Mitte der islamischen Theologie. Aber hier sind die Fragen berechtigt: Wie kann man diese Position mit der Rede von einem allen Menschen in bedingungsloser Liebe und Barmherzigkeit zugewandten Gott zusammenbringen? Ist ein Gott, der Menschen nur deshalb für die Ewigkeit in eine Hölle verdammt wegen dem, was sie sind (Nichtmuslime) und nicht für etwas, was sie verbrochen haben, ein gerechter Gott? Sicher nicht. Daher gehört in den Moscheegemeinden auch die Frage kritisch reflektiert: An welchen Gott glauben Musliminnen und Muslime? 

3. Die Notwendigkeit der historischen Kontextualisierung koranischer Aussagen, vor allem derjenigen, die Gewalt ansprechen

Sowohl in der Bibel als auch im Koran wird Gewalt angesprochen. Die Frage, die sich heute stellt, ist die nach dem Umgang mit solchen Stellen in unseren heiligen Schriften. Liest man sie ahistorisch, läuft man Gefahr, sie für eine Instrumentalisierung für politische Zwecke freizugeben. Auch wenn der Koran für Muslime als göttliche Botschaft gilt, schließt dies keineswegs die Möglichkeit einer historischen Kontextualisierung seiner Aussagen aus. Denn worauf es ankommt, ist das Verständnis vom Akt der Offenbarung als dialogische Kommunikation in der Geschichte und durch diese statt als monologische Belehrung durch Gott14) Der Koran, verstanden als Medium und zugleich Resultat einer Kommunikation zwischen dem Verkünder und der Gemeinde Mohammeds im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel, setzt für sein Verstehen voraus, die Situation dieser Kommunikation zu berücksichtigen. Eine literalistische, also wortwörtliche, Lesart des Korans ignoriert diese Tatsache, dass der Koran diskursiv im Akt der Kommunikation verkündet wurde und daher auch nur diskursiv verstanden werden kann. Es ist daher ein Unterschied, ob die Aufforderung im Koran 2:191 als solche zu verstehen ist, alle Nichtmusliminnen und -muslime jederzeit zu töten oder als der deskriptiven Aussage in einer bestimmten, historisch bedingten kriegerischen Auseinandersetzung.

Ein historisch-kritischer Zugang zum Koran entschärft die Gewaltpotenziale in ihm, weil sie dadurch nicht mehr mit einem ahistorischen Bewusstsein als vom Himmel gefallene Imperative gelesen, sondern als Produkt von historisch gewachsenen Auseinandersetzungen erfasst werden, die für Musliminnen und Muslime zugleich die Involviertheit Gottes in ihrer Geschichte darstellt.

4. Das Liebesethos als Friedenspotenzial stärken

Der Islam, wie auch das Christentum und das Judentum, besitzt ein religiöses Ethos als moralischen Universalismus. Damit meine ich keineswegs ein Weltethos, das Religionen ersetzen soll, sondern ein religiöses Ethos, das alle Menschen, egal welchem Glauben bzw. welcher Weltanschauung sie angehören mögen, erfasst.

Gerade das Liebesethos der drei monotheistischen Religionen geht über das Gerechtigkeitsethos hinaus. Es geht um Nächstenliebe. Liebe schließt nicht die Gerechtigkeit aus, sondern geht über sie hinaus. Gerade Musliminnen und Muslime sollten heute für eine Koalition der verschiedenen religiösen wie nichtreligiösen moralischen Universalien eintreten. Der Koran beschreibt die Gott-Mensch-Beziehung als Liebesbeziehung, die allerdings durch das Handeln des Menschen bezeugt werden will: „Gott erschafft Menschen, die er liebt und die ihn lieben“ (Koran 5:54). Gerade ein Bündnis von Universalisten gegen Partikularisten (religiöse Exklusivisten, Nationalisten, Rassisten usw.) ist heute gefragter als je zuvor. Religiöse Menschen sind heute herausgefordert, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die Liebeskräfte in ihnen freisetzen können. Die islamische Vorstellung vom Menschen als Medium der Verwirklichung von Gottes Liebe und Barmherzigkeit stellt den Inbegriff und zugleich den Maßstab von Religiosität dar und betont die Verantwortlichkeit des Gläubigen für den friedlichen Zusammenhalt seiner Gesellschaft.

5. Die Notwendigkeit der Trennung von religiösen und politischen Institutionen als Schutz der Religion vor Instrumentalisierung durch die Politik und als Schutz der Politik vor Instrumentalisierung durch die Religion

Die Säkularität, wie sie in Westeuropa verstanden und praktiziert wird, bedeutet, dass es keine Staatsreligion geben darf. Diese Form der Säkularität will sowohl den Staat vor religiösen Machtansprüchen als auch Religionen vor politischer Instrumentalisierung schützen und ist daher als Basis für die religiöse Neutralität des Staates zu verstehen. In einem säkularen Staat wird niemand zu einem Glauben gezwungen. Gleichzeitig wird die religiöse Gemeinde vor staatlichen Eingriffen geschützt und der Staat verzichtet auf die Favorisierung einer spezifischen religiösen oder säkularen Weltsicht.15)

Jürgen Habermas hat nach dem 11. September 2001 in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels geäußert, auch wer nicht religiös sei, sollte die Kraft, die aus den religiösen Quellen kommen kann, nicht verleugnen. Habermas möchte den religiösen Gemeinschaften in der postsäkularen Gesellschaft einen Platz in der Öffentlichkeit einräumen, weil er der Überzeugung ist, dass Menschen Wertebindungen brauchen, und er befürchtet in einer Gesellschaft ohne Religion ein Wertevakuum.16) „Werte fallen nicht vom Himmel“, betont auch Clemens Sedmak17) und verweist auf die besondere Bindekraft religiöser Orientierungen. Daher bedeutet die Trennung von Politik und Staat keineswegs, dass religiöse Werte, wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, soziale Solidarität usw. keine Rolle mehr im öffentlichen Diskurs spielen dürfen, sondern dass Religionen keine Machtansprüche für sich stellen dürfen (Stichwort Scharia als Gesetz Gottes statt der geltenden Gesetze des Rechtsstaats). 

6. Einstehen für Werte der Freiheit, Gleichheit und Solidarität

Gerade moderne plurale Gesellschaften benötigen ein hohes Maß an Partizipation und Teilhabe ihrer Bürgerinnen und Bürger, wenn sie funktionieren sollen. Gerade demokratische Staaten sind stärker auf eine eigene politische Identität angewiesen als despotisch oder autoritär regierte Gesellschaften,18) denen wir in vielen islamischen Ländern begegnen. Was hält aber unsere europäische Gesellschaft zusammen? Gibt es eine Wertebasis Europas, die auch für Musliminnen und Muslime gilt?

Drei zentrale Werte der Französischen Revolution sind für ein friedliches und konstruktives Zusammenleben unentbehrlich: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Josef Freise interpretiert sie für uns heute als Verbundenheit, Solidarität und „compassion“.19) Auch wenn diese Werte zumeist als säkulare und „religionsfreie“ Werte verstanden werden, muss jeder diese mit der eigenen religiösen oder nichtreligiösen Tradition verbinden. Werte müssen zur gelebten Lebenswirklichkeit werden, damit sie keine leeren Parolen bleiben. 

Freiheit bezieht sich auf viele Dimensionen, dazu gehören: die freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, die Freiheit, sich zu organisieren und die Wahlfreiheit. „So gibt es keinen Zwang zu einer ganz bestimmten normierten Lebensweise. Der Amsterdamer Vertrag hat beispielsweise die homosexuelle Lebensgemeinschaft der heterosexuellen Lebensgemeinschaft mit Blick darauf gleichgestellt, dass es keine Diskriminierung geben darf. Homosexuelle Lebensweisen werden von offiziellen Vertretern der monotheistischen Religionen noch weithin abgelehnt, aber innerhalb der Religionsgemeinschaften gibt es intensive Diskussionen und Neuorientierungen dazu. Hier zeigt sich, dass religiöse Menschen und Gruppen sich dem Diskurs mit Gruppen nichtreligiöser Orientierung geöffnet haben und ihre eigenen religiösen Traditionen neu interpretieren.“20) Zur Freiheit gehört aber auch, dass Werte nicht von „oben“ aufgezwungen, sondern von den Subjekten selbst angeeignet werden. Dazu braucht es entsprechende Sensibilisierung der Subjekte, die ihre eigenen Erfahrungen machen müssen, um sich Werte in Freiheit aus Überzeugung zu verinnerlichen.

Religionsfreiheit ist eine weitere Dimension der Freiheit, die vor jeglichem Zwang in religiösen Fragen schützen soll. Dazu gehören sowohl die aktive als auch die passive Religionsfreiheit. Das heißt, dass alle Menschen das Recht haben, ihren religiösen Überzeugungen gemäß zu leben und zu handeln, solange sie nicht in Konflikt mit dem Grundgesetz bzw. mit den demokratischen Grundwerten geraten. Alle Menschen haben aber auch das Recht darauf, keiner Religion anzugehören. In Europa gibt es eine symmetrische Anerkennung religiöser Minderheiten und Mehrheiten.21)

Solidarität in einer Gesellschaft setzt voraus, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger in dieser Gesellschaft auf Augenhöhe begegnen und dass der „Andere“ in seiner Andersheit anerkannt wird. 

Hans Joas unterstreicht, dass überall da, wo Menschen das Wohlergehen ihrer Person und ihrer Gruppe auf Kosten anderer durchsetzen wollen, wo Menschen diskriminiert und ausgegrenzt werden, um eigene Privilegien zu schützen, es einen Werteverfall gibt und Werte von Gleichheit und Gerechtigkeit verfallen.22)

7. Der Islam und die demokratischen Grundwerte

Der Islam kennt keine Kirche oder eine ähnliche Institution, die eine für alle Musliminnen und Muslime verbindliche Auslegung darlegt. Das heißt, es gibt unterschiedliche Lesarten und Interpretationen des Islams. Es kommt also darauf an, für welche Lesart des Islams sich Musliminnen und Muslime hier in Europa stark einbringen, welches Verständnis sich im Diskurs durchsetzt. Der Islam, wie ich ihn verstehe und lehre, sieht sich keineswegs als Gesetzesreligion, die ein juristisches Schema darstellen soll, das möglichst alle Lebensbereiche erfassen soll, sondern als eine ethische und spirituelle Religion. Dazu bedarf es allerdings, den Koran in seinem historischen Kontext des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel zu verorten und entsprechend zu lesen. Der Koran wurde diskursiv verkündet und kann daher auch nur im Diskurs verstanden werden. Das heißt, ohne den historischen Kontext der Verkündung des Korans kann der Koran nur missverstanden werden. Der Islam, verstanden als Angebot, sich seinem Inneren zuzuwenden, sich selbst zu läutern und sich einer spirituellen Erfahrung zu öffnen, vermittelt den Menschen keine Gesetze und hat daher keine Machtansprüche, sondern liefert eine Grundlage für die Ableitung ethischer Prinzipien. Der Mensch wird als Statthalter bezeichnet, der Gottes Intention nach Liebe „… er liebt sie und sie lieben ihn“ (Koran 5:54) und Barmherzigkeit (Koran 7:156) durch sein Handeln und durch seinen Charakter bezeugt und so zu einer erfahrbaren Wirklichkeit hier und jetzt auf der Erde macht. Darin liegt Religiosität und darin verwirklicht sich Gottes Dienst als Dienst an seiner Schöpfung.

Nur ein inklusivistisches Islamverständnis, das Nichtmusliminnen und -muslime als gleichberechtigte und gleichwürdige Menschen ansieht, bietet eine Grundlage für eine Begegnung in Respekt und Achtung vor dem anderen. Im Exklusivismus, demzufolge nur die eigene Religion heilshafte Erkenntnis der letzten Wirklichkeit ermöglicht, liegt sogar eine Grundlage für Gewalt, weil er dem „Anderen“ seine geistige und manchmal auch physische Existenzberechtigung abspricht – er ist daher abzulehnen. Nach islamischem Verständnis ist Gott die Wahrheit, dadurch ist die Wahrheit absolut und für niemanden verfügbar. Gläubige können daher nicht über die Wahrheit verfügen, niemand kann über Gott verfügen, sie sind vielmehr nach der Wahrheit Suchende. Man kann sich der Wahrheit annähern, sie aber nie besitzen. Dass Gott die Wahrheit ist, soll gerade die Wahrheit vor Vereinnahmung durch den Menschen schützen und den Menschen zur Bescheidenheit aufrufen, ein Suchender zu bleiben, der die Wahrheit mit dem Wissen anstrebt, sich ihr annähern, sie aber nie besitzen zu können. Wahrheiten von oben aufzuzwingen widerspricht dem Geist eines humanistischen Islams, der den Menschen zum freien Menschen macht. Um in einen fruchtbaren Dialog mit unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen zu kommen, muss von allen Seiten auf Totalitätsansprüche verzichtet werden.

8. Ein Islam jenseits einer Gesetzesreligion

Gelehrte der islamischen Jurisprudenz waren bemüht, ein juristisches Schema zu entwerfen, das möglichst alle Lebensbereiche erfassen soll. Aus dem Islam wurde eine „Gesetzesreligion“, aus dem Koran ein juristisches Buch. Dies geschah nicht selten auf Kosten spiritueller und ethischer Aspekte im Islam. Der Islam kann ein Teil Europas sein, wenn Musliminnen und Muslime nicht den Anspruch auf ein Parallelrecht stellen. Dies setzt eine historische Lesart der einzelnen juristischen Regelungen im Koran und in der prophetischen Tradition (Sunna), welche die Gesellschaftsordnung betreffen, voraus. Demnach soll es heute nicht um die wortwörtliche Übertragung einzelner juristischer Regelungen, die aus dem historischen Kontext des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel gewachsen sind (z. B. im Strafrecht) gehen, sondern um das Streben nach der Verwirklichung allgemeiner koranischer Prinzipien, wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Unantastbarkeit der menschlichen Würde und die soziale Verantwortung sowie Spiritualität und Nächstenliebe. Diese decken sich mit demokratischen Grundsätzen, wie wir sie in den Gesellschaften Europas kennen.

9. Notwendigkeit der Entsexualisierung des Islams

In vielen islamischen Gesellschaften herrschen noch immer patriarchalische Strukturen. Wenn dort gefragt wird, warum muslimische Frauen ein Kopftuch tragen, warum Frauen und Männer in den Moscheen nur getrennt hintereinander oder sogar nur in verschiedenen Räumen beten, warum sich einige muslimische Männer und Frauen nicht die Hand geben, dann wird oft mit dem Schutz vor sexuellen Reizen argumentiert. Eine Frau ohne Kopftuch sei zu reizvoll für die Männer, Frauen, die in der Moschee neben Männern beten bzw. vorne predigen, würden die Männer durch ihre Reize vom Gebet ablenken und wenn sich Männer und Frauen die Hand geben, könnte dies zu einer sexuellen Erregung führen. Daher sollte man beide Geschlechter möglichst voneinander fernhalten und sie so vor dieser drohenden sexuellen Reizung schützen. Hinter diesen verbreiteten Argumenten steht jedoch ein Frauenbild, das die Frau auf ein sexuelles Objekt reduziert und ein Männerbild, das den Mann als triebhaftes Tier darstellt. Beide Geschlechter werden ständig verdächtigt. Daher müsse man Männer und Frauen am besten von klein auf so erziehen, dass sie sich möglichst meiden, um ja nicht der Versuchung zu erlegen und somit in Sünde zu verfallen.

Hat Gott nach dem Verständnis des Islams Männer und Frauen tatsächlich als Sexobjekte bzw. triebhafte Tiere erschaffen? Müssen sie durch restriktive Trennung in der Gesellschaft voreinander geschützt werden? Meine Antwort lautet: definitiv nein!

Gerade dieses in vielen islamischen Gesellschaften verbreitete, aber verzerrte Bild von Männern und Frauen reproduziert patriarchalische Strukturen, in denen Frauen auf ihre Sexualität reduziert werden, sie lediglich Objekte der Geschichte sind, die hauptsächlich von Männern geschrieben wird. Ein europäisch geprägter Islam benötigt heute eine Revolution der Entsexualisierung, die erlauben soll, dass sich Männer und Frauen als Menschen in Würde und Respekt begegnen können, ohne dauernd verdächtigt zu sein, den anderen verführen bzw. von ihm verführt werden zu wollen.

10. Mehr Spiritualität für Europa?

Wenn europäische Musliminnen und Muslime einen Islam vertreten, der sich primär als Quelle von Spiritualität und Ethik versteht, dann können sie einen Beitrag leisten, sich für Spiritualität als Wert, der Europa heute bereichern kann, stark einzubringen. Spiritualität im Islam, verstanden als Hervorhebung des Göttlichen (im Sinne des Vollkommenen) im Menschen, ist keineswegs vom gelebten Leben zu trennen, denn sie kann sich nur in der Konfrontation im Alltagsleben entfalten. Gute Eigenschaften im Menschen zu fördern und schlechte zu lenken, ist keine rein kognitive Aufgabe, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung mit sich selbst in verschiedenen Lebenssituationen. Der Gelehrte und Mystiker Al-Ġazālī (gest. 1111) spricht vom „Schmücken des Herzens mit guten Charaktereigenschaften“ wie Geduld, Dankbarkeit, Liebe, Hoffnung, Gottvertrauen usw.

Spiritualität in diesem Sinne ist keineswegs ein speziell islamischer Wert, denn auch das Christentum sowie das Judentum streben die Erfüllung von Spiritualität und damit die Gottesgemeinschaft auch hier im Diesseits an. Die Betonung vom Stellenwert von Spiritualität im Islam kann einen Beitrag dafür leisten, dass Europa spiritueller wird. Das soll keineswegs so missverstanden werden, dass Europa spirituell homogen werden soll, denn jede Konfession hat ihren eigenen Weg zu Spiritualität. Diese Vielfalt der Angebote zur Erfüllung spiritueller Bedürfnisse soll geschützt werden, denn Vielfalt ist nach dem Koran gottgewollt: „Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht […] Wetteifert nun nach den guten Dingen!“ (Koran 5:48).

Ein europäisch geprägter Islam, wie ich ihn verstehe, fragt nach dem Menschen, nach seiner Freiheit, nach seiner Selbstbestimmung, nach seinem Wohl, nach seiner Glückseligkeit und nach seiner Verantwortlichkeit für sich und für das Kollektiv. Aus einer islamischen Perspektive ist Gott der absolute Humanist, der einen absoluten Glauben an den Menschen und seine Souveränität hat. Für den Gläubigen selbst bedeutet dies, dass der Glaube an Gott den Glauben an den Menschen als solchen, unabhängig von seiner Weltanschauung, beinhaltet.23)

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen