Bühne des Kapitels / Moduls
Die Rolle von Moscheegemeinden in der Prävention gegen Radikalisierung junger Musliminnen und Muslime in Deutschland
Exkurs 8 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Moscheegemeinden in Deutschland
Der erste islamische Dachverband in Deutschland ist der türkische Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Dieser wurde schon im Jahre 1973 gegründet. Danach wurden die ebenfalls türkische Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) und dann die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) als Ableger des türkischen Religionsministeriums Diyanet gegründet. Später wurde der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) als Zusammenschluss mehrerer arabischer, türkischer und schiitischer Vereine gegründet. Neben diesen vier großen Dachverbänden folgte ab den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Gründung einiger weiterer Vereinigungen: die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken (1994), die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS) (2009) sowie das Bündnis malikitischer Gemeinden in Deutschland (BMG) (2018), das überwiegend aus marokkanischstämmigen Gemeinden besteht.
In Deutschland gibt es etwa 2.350 islamische Gebetsräume und Moscheen.6) Viele dieser Moscheegemeinden leisten gemeinnützige Arbeit. Vor allem die Wohlfahrtspflege stellt einen wichtigen Teil davon dar. Dazu kommen Freizeit-, Bildungs- und Betreuungsangebote. Dabei sind die meisten Gemeinden auf das Engagement Ehrenamtlicher angewiesen.
Dennoch besteht starke Kritik an den großen Dachverbänden, vor allem wird ihnen immer wieder vorgeworfen, an erster Stelle politischen Agenden zu folgen und weniger an einem weltoffenen Islam für Musliminnen und Muslime in Deutschland und Europa interessiert zu sein. Die Abhängigkeit dieser oder einiger dieser Verbände vom Ausland ist hoch problematisch. Für Verstimmung sorgte zum Beispiel 2017 die Affäre um DITIB-Imame, die Informationen über mutmaßliche Gülen-Anhänger in ihren Gemeinden oder Regionen gesammelt und nach Ankara geschickt haben sollen. Die Bundesanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen gegen die beschuldigten Imame im Dezember 2017 ein.7)
In den letzten Jahren war der Fokus auch immer wieder auf die Inhalte der Freitagspredigten in den Moscheen gerichtet. Die Kritik richtete sich vor allem gegen Freitagspredigten der DITIB wegen nationalistischer Untertöne, besonders nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 oder im Januar 2018, als viele DITIB-Imame in Deutschland einem Aufruf der türkischen Religionsbehörde Diyanet folgten und für einen Erfolg der türkischen Truppen beteten, die gerade in Syrien einmarschiert waren.
Hin und wieder wurden Predigten bekannt, in denen Frauen und Homosexuelle, aber auch Juden benachteiligt wurden. Die eigentliche Herausforderung bleibt dennoch die nicht seltene Entfernung der Inhalte der Freitagspredigten von der Lebenswirklichkeit der Musliminnen und Muslime in Deutschland, vor allem der muslimischen Jugendlichen. Und genau diese Lücke wird nicht selten von den fundamentalistischen Angeboten geschlossen. Daher muss hier betont werden, dass die Moscheegemeinden nicht nur dann einen Beitrag zum Frieden leisten, wenn sie keine fundamentalistischen bzw. gewaltgeladenen Gehalte vermitteln, sondern wenn sie menschenfreundliche und lebensnahe religiöse Angebote machen als Antwort auf den Fundamentalismus. Damit wir uns alle als Gesamtgesellschaft dafür sensibilisieren, dass der Kampf gegen Radikalisierung und religiösen Fundamentalismus in unserer Gesellschaft keineswegs eine rein theologische Aufgabe darstellt (zum Beispiel, wie man den Koran unterschiedlich interpretiert oder eine andere religiöse Position kritisch reflektiert), sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, muss folgende Frage beantwortet werden:
Warum ist gerade der Fundamentalismus für einige muslimische Jugendliche attraktiv?
Wir stehen in Deutschland vor einem Phänomen bei vielen muslimischen Jugendlichen, das ich „ausgehöhlte religiöse Identität“ nenne. Dieses Phänomen zu verstehen, ermöglicht uns die Konzipierung entsprechender religiöser Angebote, mit denen wir vor allem diese Jugendlichen erreichen und ihnen zu religiöser Mündigkeit verhelfen können. Denn gerade extremistische Angebote erreichen solche Jugendlichen, die ihre Religiosität an Dritte zu delegieren bereit sind und nicht gelernt haben, ihre Religiosität selbst in die Hand zu nehmen und selbst zu bestimmen.
Nur wenn ich weiß, wer ich bin und mir meiner Identität sicher bin, habe ich keine Angst, mich dem Anderen zu öffnen, in ihm das Neue zu begrüßen. Die Begegnung des Islams mit Europa Mitte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Arbeitsmigration führte jedoch zu Identitätsverunsicherungen auf beiden Seiten, was statt Nähe Distanz hervorrief.
Wenn heute in Deutschland von Musliminnen und Muslimen gesprochen wird, dann spricht man hauptsächlich von den ehemaligen „Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern“, die im Zuge der Anwerbeabkommen in den 1960er- und 1970er-Jahren als Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen sind, von deren Familien, die in den 1980er-Jahren im Zuge der Familienzusammenführung nachgekommen sind sowie von deren Nachkommen, die mittlerweile in zweiter und dritter Generation in Deutschland geboren wurden. Es ist mehr oder weniger ein Zufall, dass es sich bei vielen der ehemaligen „Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern“ um Musliminnen und Muslime handelt. Dadurch überlagern sich verschiedene Dimensionen des Andersseins, der Fremdartigkeit, und so verschärfen sich Probleme der Abgrenzung, der Anpassung und der Integration; ethnische Dimensionen überlagern sich mit nationalen, religiösen und sozioökonomischen.8)
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Westfälische Wilhelms-Universität Münster 2016, 11.
2)
Stichs 2016.
3)
Pew Research Center 2017.
4)
Stichs 2016, 29-31.
5)
Haug et al. 2009, 97.
6)
Halm et al. 2012.
7)
Der Generalbundesanwalt 2017.
8)
Casanova 2004, 86-101.
9)
Mehrländer 1983.
10)
Vgl. Khorchide 2017, 242; Khorchide 2010, 365-385.
11)
Oelkers 2011, 120f.
12)
Zurzeit studieren am Zentrum für islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ca. 800 Studierende.
13)
Vgl. Khorchide 2012, 13ff.; Khorchide 2015.
14)
Vgl. Khorchide 2018.
15)
Vgl. Koenig 2012, 296.
16)
Vgl. Habermas 2001, 18.
17)
Vgl. Sedmak 2007, 118.
18)
Vgl. Taylor 2010, 16.
19)
Vgl. Freise 2014, 115ff.
20)
Vgl. ebd., 124.
21)
Vgl. Koenig 2012, 312.
22)
Vgl. Joas 2012, 302.
Literatur
Casanova, José (2004): Der Ort der Religion im säkularen Europa. In: Transit - Europäische Revue, Nr. 27/2004, S. 86-105.
Freise, Josef (2014) in: Freise, Josef/Khorchide, Mouhanad (Hrsg.): Wertedialog der Religionen, Freiburg/Br., Herder.
Habermas, Jürgen (2001): Der Riss der Sprachlosigkeit. In: Frankfurter Rundschau Nr. 240, 16. Oktober 2001, S. 18.
Halm, Dirk/Sauer, Martina/Schmidt, Jana/Stichs, Anja (2012): Islamisches Gemeindeleben in Deutschland. Forschungsbericht 13. Nürnberg, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja (2009): Muslimisches Leben in Deutschland. Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Nürnberg, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.).
Joas, Hans (2012): Führt Säkularisierung zum Moralverfall? Einige empirisch gestützte Überlegungen. In: Stimmen der Zeit, Heft 5/2012, S. 302.
Khorchide, Mouhanad (2007): Die Bedeutung des Islam für MuslimInnen der zweiten Generation. In: Weiss, Hilde (Hrsg.): Leben in zwei Welten. Zur sozialen Integration ausländischer Jugendlicher der zweiten Generation. Wiesbaden, Springer VS, S. 217-242.
Khorchide, Mouhanad (2010): Die Dialektik von Religiosität und Gesellschaft – Zur Identitätskonstruktion junger Muslime in Europa. In: Ucar, Bülent (Hrsg.): Die Rolle der Religion im Integrationsprozess. Die deutsche Islamdebatte. Frankfurt/M., Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften, S. 365-385.
Khorchide, Mouhanad (2012): Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg/Br., Verlag Herder, S. 137ff.
Khorchide, Mouhanad (2015): Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus. Freiburg/Br., Verlag Herder.
Khorchide, Mouhanad (2018): Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit. Freiburg/Br., Verlag Herder.
Koenig, Matthias (2012): Recht auf Religionsfreiheit – ein neuzeitliches Differenzierungsmuster und seine Entstehung. In: Gabriel, Karl/Gärtner, Christel/Pollak, Detlev (Hrsg.) (2012): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik. Berlin, University Press.
Mehrländer, Ursula (1983): Türkische Jugendliche – keine beruflichen Chancen in Deutschland? Bonn, Verlag Neue Gesellschaft.
Oelkers, Jürgen (2011): Bildung, Kultur und Religion. In: Englert, Rudolf/Kohler-Spiegel, Helga/Mette, Norbert/Naurath, Elisabeth/Schröder, Bernd/Schweitzer, Friedrich (2011): Was sollen Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht lernen? Jahrbuch der Religionspädagogik, Band 27/2011. Neukirchen-Vluyn, Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, S. 120f.
Pew Research Center (2017): Europe’s Growing Muslim Population. Washington. Online: https://pewrsr.ch/2YGHdws.
Sedmak, Clemens (2007): Die politische Kraft der Liebe. Christsein und die europäische Situation. Innsbruck, Tyrolia, S. 118.
Stichs, Anja (2016): Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. Dezember 2015. Working Paper 71 des Forschungszentrums des Bundesamtes, Nürnberg, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Taylor, Charles (2010): Für einen neuen Säkularismus. In: Transit 39, Sommer 2010. Frankfurt/M., Europäische Revue, S. 16.
Westfälische Wilhelms-Universität Münster (2016): Online: https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/religion_und_politik/aktuelles/2016/06_2016/ studie_integration_und_religion_aus_sicht_t__rkeist__mmiger.pdf, S. 11.
Quellen
Der Generalbundesanwalt: Online: https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/Pressemitteilung-vom-06-12-2017.html.