Bundeskriminalamt (BKA)

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1. Religiöse Mündigkeit als Grundsatz und die Notwendigkeit einer reflektierten religiösen Bildung

Die religiöse Bildung muslimischer Jugendlicher in Deutschland muss der angesprochenen Entwicklung der Entstehung ausgehöhlter religiöser Identitäten Rechnung tragen und ein Angebot machen, das diese entkernten Identitäten mit einem sinnvollen Gehalt füllt. Moderne religiöse Bildung versteht sich im Dienste des Subjekt-Werdens des Individuums und seiner Selbstbestimmung und daher nicht als Prozess der Vermittlung von Religion. Beim veralteten Konzept der Vermittlung stand das zu Vermittelnde im Vordergrund, die Menschen wurden mehr als Objekte denn als Subjekte religiöser Bildung betrachtet. Heute geht es um Aneignungsprozesse. Bei diesem Konzept der Aneignung steht der Mensch als Subjekt selbst, mit seiner Lebenswirklichkeit, seinen Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen, Bedürfnissen usw. beim Prozess der religiösen Bildung im Vordergrund. In einer modernen islamischen Bildung geht es heute also nicht um das Eintrichtern von Glaubensgrundsätzen und die Vermittlung von endgültigen Antworten, sondern darum, Menschen zu befähigen, ihre eigene Religiosität zu entwickeln und wahrzunehmen sowie die Bedeutung religiöser Inhalte individuell zu reflektieren, damit sie ihre Religiosität selbst verantworten können. Es geht also um Fragen wie „Was bedeutet Religion für mich?“ und „Welchen Bezug haben religiöse Inhalte zu meinem Alltag und zu meinem Lebensentwurf?“

Durch religiöse Bildung sollten Menschen befähigt werden, ihr Leben in religiöser Hinsicht selbst entwerfen und diesen Lebensentwurf selbst verantworten zu können. Sie sollten in der Lage sein, zwischen lebensfreundlichen und lebensfeindlichen religiösen Angeboten zu unterscheiden.

Aufgabe einer zeitgemäßen islamischen Bildung ist es nicht, jungen Menschen einen Katalog an Erlaubtem (Halal) und an Verbotenem (Haram) zu vermitteln und Heranwachsende zur unkritischen Befolgung religiöser „Gesetze“ anzuhalten, was den Prozess der Entstehung ausgehöhlter Identitäten nur begünstigt. Vielmehr sollen junge Menschen zur kritischen Reflexion von Traditionen, die sich mit humanen Werten nicht vereinbaren lassen, angehalten und dazu befähigt werden, ihre freie individuelle Selbstbestimmung als Muslime auf der Basis eines offenen Islamverständnisses im Sinne einer spirituellen und ethischen Religion und weniger einer Gesetzesreligion zu entfalten. Sie sollen den Sinn ihrer Religiosität für sich entdecken und dazu befähigt werden, Gotteserfahrung zu machen.

Das Subjekt muss sich also selbst einbringen. Wenn es aber in religiöser Bildung um ein subjektives Betroffensein von Religion geht, dann setzt dies eine dialogische Theologie voraus, welche die Beziehung Gott-Mensch nicht als Gehorsamkeitsbeziehung, sondern als dialogische, ja als Liebes-Beziehung vorsieht, einen Gott meint, der zugänglich ist, der erfahrbar ist, einen Gott also, dem es nicht um sich selbst, dem es nicht um Instruktionen geht, sondern um den Menschen selbst.13)

2. Die Notwendigkeit der Überwindung religiösen Exklusivismus

Gerade durch das Insistieren auf den alleinigen Wahrheitsanspruch der eigenen Überzeugungen bleibt kaum Raum für andere Wahrheitsansprüche. Denn der religiös begründete Exklusivismus besteht darauf, dass außerhalb der eigenen Religion keine heilshafte Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeit bzw. Offenbarung vermittelt werden kann. Anderen Religionen kommt somit keine heilsvermittelnde Funktion zu. Der Exklusivismus ist allerdings nicht mit dem eigenen Wahrheitsanspruch zu verwechseln. Dieser kann zwar, muss aber nicht exklusivistisch vertreten werden. Denn wenn ich daran glaube, dass meine Religion der Weg zur Wahrheit ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass es nicht andere Wege zur Wahrheit gibt. Damit relativiere ich keineswegs meinen Wahrheitsanspruch.

Im religiösen Exklusivismus steckt eine Grundlage für Gewalt, weil er eine Form der Ablehnung des „Anderen“ darstellt. Und wenn diese Ablehnung im Namen Gottes geschieht, dann nimmt sie absolute Züge an, und wir wären nicht mehr weit entfernt von dem, was man Religionskriege nennt. Die Geschichte der drei monotheistischen Religionen kennt das zur Genüge.

Der religiös begründete Exklusivismus ist im Islam längst nicht nur unter Salafisten und muslimischen Fundamentalisten verbreitet. Diese Haltung steht noch bis heute stark in der Mitte der islamischen Theologie. Aber hier sind die Fragen berechtigt: Wie kann man diese Position mit der Rede von einem allen Menschen in bedingungsloser Liebe und Barmherzigkeit zugewandten Gott zusammenbringen? Ist ein Gott, der Menschen nur deshalb für die Ewigkeit in eine Hölle verdammt wegen dem, was sie sind (Nichtmuslime) und nicht für etwas, was sie verbrochen haben, ein gerechter Gott? Sicher nicht. Daher gehört in den Moscheegemeinden auch die Frage kritisch reflektiert: An welchen Gott glauben Musliminnen und Muslime? 

3. Die Notwendigkeit der historischen Kontextualisierung koranischer Aussagen, vor allem derjenigen, die Gewalt ansprechen

Sowohl in der Bibel als auch im Koran wird Gewalt angesprochen. Die Frage, die sich heute stellt, ist die nach dem Umgang mit solchen Stellen in unseren heiligen Schriften. Liest man sie ahistorisch, läuft man Gefahr, sie für eine Instrumentalisierung für politische Zwecke freizugeben. Auch wenn der Koran für Muslime als göttliche Botschaft gilt, schließt dies keineswegs die Möglichkeit einer historischen Kontextualisierung seiner Aussagen aus. Denn worauf es ankommt, ist das Verständnis vom Akt der Offenbarung als dialogische Kommunikation in der Geschichte und durch diese statt als monologische Belehrung durch Gott14) Der Koran, verstanden als Medium und zugleich Resultat einer Kommunikation zwischen dem Verkünder und der Gemeinde Mohammeds im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel, setzt für sein Verstehen voraus, die Situation dieser Kommunikation zu berücksichtigen. Eine literalistische, also wortwörtliche, Lesart des Korans ignoriert diese Tatsache, dass der Koran diskursiv im Akt der Kommunikation verkündet wurde und daher auch nur diskursiv verstanden werden kann. Es ist daher ein Unterschied, ob die Aufforderung im Koran 2:191 als solche zu verstehen ist, alle Nichtmusliminnen und -muslime jederzeit zu töten oder als der deskriptiven Aussage in einer bestimmten, historisch bedingten kriegerischen Auseinandersetzung.

Ein historisch-kritischer Zugang zum Koran entschärft die Gewaltpotenziale in ihm, weil sie dadurch nicht mehr mit einem ahistorischen Bewusstsein als vom Himmel gefallene Imperative gelesen, sondern als Produkt von historisch gewachsenen Auseinandersetzungen erfasst werden, die für Musliminnen und Muslime zugleich die Involviertheit Gottes in ihrer Geschichte darstellt.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen