Bundeskriminalamt (BKA)

Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Modules

Inhalt des Kapitels / Moduls

Anforderungen an eine bedürfnisgerechte Opferbetreuung

Von extremistischen oder terroristischen Anschlägen betroffene Personen sowie deren Angehörige und Hinterbliebene haben oftmals spezifische Bedürfnisse, welche bei der Betreuung und Unterstützung dieser Opfergruppe berücksichtigt werden sollten. Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten geht daher in Artikel 16 gesondert auf diese Gruppe ein: „Opfer von Terrorismus sind das Ziel von Angriffen gewesen, die letztendlich der Gesellschaft schaden sollten. Aufgrund der besonderen Art der Straftat, die gegen sie begangen wurde, bedürfen sie deshalb möglicherweise besonderer Betreuung, Unterstützung und Schutz. Opfer von Terrorismus stehen mitunter deutlich im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und bedürfen oft der gesellschaftlichen Anerkennung und der respektvollen Behandlung durch die Gesellschaft“2).

Die Opferhilfeorganisation WEISSER RING e. V. betreut diese Opfergruppe seit Jahrzehnten und teilt auf Grundlage dieser umfangreichen Erfahrungen die Einschätzung des Europäischen Parlaments. Voraussetzung für die nachhaltige Etablierung einer opfergerechten Unterstützung im Anschlagsfall ist ein Verständnis für die divergenten Bedürfnisse und Problematiken, welchen die einzelnen Betroffenen gegenüber stehen. Dieses kann durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Erfahrungen von Menschen gewonnen werden, welche in der Vergangenheit Opfer von Anschlägen geworden sind. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Bedürfnisse von Opfern extremistischer und terroristischer Taten und stellt die daraus resultierenden Herausforderungen für Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure im Umgang mit ihnen dar.

Vom Akutfall bis zur Nachsorge: Hilfebedürfnisse und Dynamiken

Bei den hier behandelten Straftaten ist in etlichen Fällen eine hohe Anzahl an Opfern zu beklagen. Dabei ist die Gesamtgruppe der Betroffenen in der Regel heterogen und die einzelnen immateriellen und materiellen Bedürfnisse sind ebenso unterschiedlich gelagert wie bei Menschen, die unabhängig voneinander Opfer einer Straftat werden. Zwar können verbindende Merkmale unterschiedlicher Ausprägungen bestehen wie beispielsweise eine gemeinsame Religion, eine ähnliche politische Einstellung oder ein Migrationshintergrund, aus diesen kann jedoch nicht unbedingt auf eine individuelle Lebenswirklichkeit oder gar auf daraus resultierende Hilfebedürfnisse geschlossen werden. Oftmals haben die Betroffenen auch lediglich gemeinsam, dass sie sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgehalten haben .

Grundsätzlich ist die Bereitstellung einer unmittelbaren Unterstützung der Betroffenen durch psychosoziale Notfallversorgung dringend geboten. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Menschen aufgrund des subjektiven Erlebens und ihrer eigenen Ressourcen unterschiedlich auf schwerwiegende Ereignisse reagieren. Die Opferbedürfnisse reichen von Gesprächen, um die Erlebnisse einzuordnen, bis hin zu umfassender psychologischer Betreuung und Aufarbeitung. In diesem Zuge begrüßt der WEISSE RING die in den letzten Jahren vermehrt entstehenden Angebote der OEG-Trauma-Ambulanzen. Durch diese kann eine Versorgungslücke in der psychologischen Versorgung geschlossen werden, vor allem in Bezug auf Personen, welche nicht durch die im unmittelbaren Rahmen der Tatbewältigung bereitgestellten Angebote erreicht werden. In vielen Fällen besteht bei den Betroffenen darüber hinaus der Wunsch nach umfangreicher Unterstützung im persönlich-organisatorischen Bereich und bei der Bewältigung von Verwaltungsabläufen. Ebenso entwickelt sich häufig ein Bedürfnis nach detaillierten Informationen zu Leistungsträgern und Entschädigungsmöglichkeiten oder nach Unterstützung bei der juristischen Aufarbeitung des Geschehens. Die genannten Hilfebedürfnisse können Personen, die schwere Verletzungen erleiden und mit körperlichen Folgeerscheinungen leben müssen, gleichermaßen haben, wie Opfer, welche beispielsweise am Arbeitsplatz über den Tod einer oder eines nahen Angehörigen unterrichtet werden.

Zu beachten ist, dass sich eine derartige Situation erst nach einiger Zeit als ernstlich belastend herausstellen kann. In dieser Hinsicht gilt es, auch die psychische Gesundheit von Personen, welche die Situation während der Ausübung ihres Berufs als Hilfs- und Einsatzkräfte erlebt haben, nicht aus dem Blick zu verlieren. Gleiches gilt für Opfer, die sich zu Beginn selbst nicht als solche betrachten. Dies kann vor allem bei Nothelferinnen und -helfern sowie Augenzeuginnen und -zeugen der Fall sein, die sich vom Tatort entfernen und das Geschehene zwar als extremes Erlebnis wahrnehmen, dabei jedoch kein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie einem Risiko psychischer Folgeerscheinungen ausgesetzt sind.

Wenn für Anschläge öffentliche und stark frequentierte Orte ausgewählt werden, befindet sich unter den Betroffenen häufig eine beachtliche Anzahl ortsfremder Personen. Für die Betroffenen bedeutet dies in vielen Fällen, dass die unmittelbare Bewältigung der Ausnahmesituation durch die Abwesenheit enger Bezugspersonen bzw. des familiären Umfeldes erschwert ist. Mitunter zieht sich das Warten auf die Ankunft einer vertrauten Person tagelang hin, insofern ein Besuch überhaupt kurzfristig ermöglicht werden kann.

Auf Seiten der Angehörigen und Hinterbliebenen, die oftmals aus den Medien von einem Anschlag erfahren, kann eine stunden- oder sogar tagelange Ungewissheit über das Schicksal der Verletzten oder Getöteten entstehen. Im Falle des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin ersuchten manche Angehörige noch zum Zeitpunkt des Trauergottesdienstes verzweifelt in Krankenhäusern nach Auskünften und waren teilweise noch nicht über den Tod ihrer Angehörigen informiert worden. Hinzu kommen die logistischen und finanziellen Herausforderungen einer kurzfristigen Reise zum Anschlagsort, wobei die dortige Verweildauer zumeist nicht absehbar ist.

Darüber hinausgehenden Herausforderungen sehen sich nicht deutschsprachige Opfer und deren Angehörige gegenüber. Bei ihnen kommt in erster Linie die Erschwernis einer Sprachbarriere hinzu und die daraus resultierende Notwendigkeit, auf Sprachmittler zurückgreifen zu müssen. Des Weiteren sind sie in aller Regel nicht mit dem Verwaltungsaufbau und den organisatorischen Begebenheiten in Deutschland vertraut. Bei der länderübergreifenden Betreuung der Betroffenen ist der WEISSE RING in Zusammenarbeit mit seinen Partnern von Victim Support Europe, der Dachorganisation der europäischen Opferschutzinitiativen, schnell handlungsfähig.

Im Nachgang zu Anschlägen und Amokläufen, ebenso wie zu Katastrophengeschehnissen im Allgemeinen, kann zwischen den Geschädigten eine Verbundenheit entstehen. Dies geschieht teilweise explizit im Rahmen von Gruppen, wobei primär „Verletzte“, „Angehörige/Hinterbliebene“, „Nothelferinnen und -helfer“ sowie „Augenzeuginnen und -zeugen“ zu nennen sind. Die Verbundenheit untereinander kann sich im Folgenden durch weitere geteilte Erfahrungen auf dem gemeinsamen Erlebnishintergrund fortentwickeln. Immer wieder hat sich das Bedürfnis nach einer gemeinsamen und langfristigen Verarbeitung der Tatfolgen innerhalb solcher Schicksalsgemeinschaften gezeigt. Der WEISSE RING hat gute Erfahrungen mit der Schaffung von Nachsorgeangeboten gemacht, die unter professioneller Anleitung Raum zum gemeinsamen Austausch bieten. Diese stellen ein wichtiges Angebot dar und gehen über die seelsorgerische Akutintervention sowie eine sich anschließende individuelle, ggf. psychologisch unterstützte Aufarbeitung hinaus.

KapitelAbschlussNavigation_Titel