Bundeskriminalamt (BKA)

Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Modules

Inhalt des Kapitels / Moduls

Anforderungen an eine bedürfnisgerechte Opferbetreuung

Von extremistischen oder terroristischen Anschlägen betroffene Personen sowie deren Angehörige und Hinterbliebene haben oftmals spezifische Bedürfnisse, welche bei der Betreuung und Unterstützung dieser Opfergruppe berücksichtigt werden sollten. Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten geht daher in Artikel 16 gesondert auf diese Gruppe ein: „Opfer von Terrorismus sind das Ziel von Angriffen gewesen, die letztendlich der Gesellschaft schaden sollten. Aufgrund der besonderen Art der Straftat, die gegen sie begangen wurde, bedürfen sie deshalb möglicherweise besonderer Betreuung, Unterstützung und Schutz. Opfer von Terrorismus stehen mitunter deutlich im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und bedürfen oft der gesellschaftlichen Anerkennung und der respektvollen Behandlung durch die Gesellschaft“2).

Die Opferhilfeorganisation WEISSER RING e. V. betreut diese Opfergruppe seit Jahrzehnten und teilt auf Grundlage dieser umfangreichen Erfahrungen die Einschätzung des Europäischen Parlaments. Voraussetzung für die nachhaltige Etablierung einer opfergerechten Unterstützung im Anschlagsfall ist ein Verständnis für die divergenten Bedürfnisse und Problematiken, welchen die einzelnen Betroffenen gegenüber stehen. Dieses kann durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Erfahrungen von Menschen gewonnen werden, welche in der Vergangenheit Opfer von Anschlägen geworden sind. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Bedürfnisse von Opfern extremistischer und terroristischer Taten und stellt die daraus resultierenden Herausforderungen für Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure im Umgang mit ihnen dar.

Vom Akutfall bis zur Nachsorge: Hilfebedürfnisse und Dynamiken

Bei den hier behandelten Straftaten ist in etlichen Fällen eine hohe Anzahl an Opfern zu beklagen. Dabei ist die Gesamtgruppe der Betroffenen in der Regel heterogen und die einzelnen immateriellen und materiellen Bedürfnisse sind ebenso unterschiedlich gelagert wie bei Menschen, die unabhängig voneinander Opfer einer Straftat werden. Zwar können verbindende Merkmale unterschiedlicher Ausprägungen bestehen wie beispielsweise eine gemeinsame Religion, eine ähnliche politische Einstellung oder ein Migrationshintergrund, aus diesen kann jedoch nicht unbedingt auf eine individuelle Lebenswirklichkeit oder gar auf daraus resultierende Hilfebedürfnisse geschlossen werden. Oftmals haben die Betroffenen auch lediglich gemeinsam, dass sie sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgehalten haben .

Grundsätzlich ist die Bereitstellung einer unmittelbaren Unterstützung der Betroffenen durch psychosoziale Notfallversorgung dringend geboten. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Menschen aufgrund des subjektiven Erlebens und ihrer eigenen Ressourcen unterschiedlich auf schwerwiegende Ereignisse reagieren. Die Opferbedürfnisse reichen von Gesprächen, um die Erlebnisse einzuordnen, bis hin zu umfassender psychologischer Betreuung und Aufarbeitung. In diesem Zuge begrüßt der WEISSE RING die in den letzten Jahren vermehrt entstehenden Angebote der OEG-Trauma-Ambulanzen. Durch diese kann eine Versorgungslücke in der psychologischen Versorgung geschlossen werden, vor allem in Bezug auf Personen, welche nicht durch die im unmittelbaren Rahmen der Tatbewältigung bereitgestellten Angebote erreicht werden. In vielen Fällen besteht bei den Betroffenen darüber hinaus der Wunsch nach umfangreicher Unterstützung im persönlich-organisatorischen Bereich und bei der Bewältigung von Verwaltungsabläufen. Ebenso entwickelt sich häufig ein Bedürfnis nach detaillierten Informationen zu Leistungsträgern und Entschädigungsmöglichkeiten oder nach Unterstützung bei der juristischen Aufarbeitung des Geschehens. Die genannten Hilfebedürfnisse können Personen, die schwere Verletzungen erleiden und mit körperlichen Folgeerscheinungen leben müssen, gleichermaßen haben, wie Opfer, welche beispielsweise am Arbeitsplatz über den Tod einer oder eines nahen Angehörigen unterrichtet werden.

Zu beachten ist, dass sich eine derartige Situation erst nach einiger Zeit als ernstlich belastend herausstellen kann. In dieser Hinsicht gilt es, auch die psychische Gesundheit von Personen, welche die Situation während der Ausübung ihres Berufs als Hilfs- und Einsatzkräfte erlebt haben, nicht aus dem Blick zu verlieren. Gleiches gilt für Opfer, die sich zu Beginn selbst nicht als solche betrachten. Dies kann vor allem bei Nothelferinnen und -helfern sowie Augenzeuginnen und -zeugen der Fall sein, die sich vom Tatort entfernen und das Geschehene zwar als extremes Erlebnis wahrnehmen, dabei jedoch kein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie einem Risiko psychischer Folgeerscheinungen ausgesetzt sind.

Wenn für Anschläge öffentliche und stark frequentierte Orte ausgewählt werden, befindet sich unter den Betroffenen häufig eine beachtliche Anzahl ortsfremder Personen. Für die Betroffenen bedeutet dies in vielen Fällen, dass die unmittelbare Bewältigung der Ausnahmesituation durch die Abwesenheit enger Bezugspersonen bzw. des familiären Umfeldes erschwert ist. Mitunter zieht sich das Warten auf die Ankunft einer vertrauten Person tagelang hin, insofern ein Besuch überhaupt kurzfristig ermöglicht werden kann.

Auf Seiten der Angehörigen und Hinterbliebenen, die oftmals aus den Medien von einem Anschlag erfahren, kann eine stunden- oder sogar tagelange Ungewissheit über das Schicksal der Verletzten oder Getöteten entstehen. Im Falle des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin ersuchten manche Angehörige noch zum Zeitpunkt des Trauergottesdienstes verzweifelt in Krankenhäusern nach Auskünften und waren teilweise noch nicht über den Tod ihrer Angehörigen informiert worden. Hinzu kommen die logistischen und finanziellen Herausforderungen einer kurzfristigen Reise zum Anschlagsort, wobei die dortige Verweildauer zumeist nicht absehbar ist.

Darüber hinausgehenden Herausforderungen sehen sich nicht deutschsprachige Opfer und deren Angehörige gegenüber. Bei ihnen kommt in erster Linie die Erschwernis einer Sprachbarriere hinzu und die daraus resultierende Notwendigkeit, auf Sprachmittler zurückgreifen zu müssen. Des Weiteren sind sie in aller Regel nicht mit dem Verwaltungsaufbau und den organisatorischen Begebenheiten in Deutschland vertraut. Bei der länderübergreifenden Betreuung der Betroffenen ist der WEISSE RING in Zusammenarbeit mit seinen Partnern von Victim Support Europe, der Dachorganisation der europäischen Opferschutzinitiativen, schnell handlungsfähig.

Im Nachgang zu Anschlägen und Amokläufen, ebenso wie zu Katastrophengeschehnissen im Allgemeinen, kann zwischen den Geschädigten eine Verbundenheit entstehen. Dies geschieht teilweise explizit im Rahmen von Gruppen, wobei primär „Verletzte“, „Angehörige/Hinterbliebene“, „Nothelferinnen und -helfer“ sowie „Augenzeuginnen und -zeugen“ zu nennen sind. Die Verbundenheit untereinander kann sich im Folgenden durch weitere geteilte Erfahrungen auf dem gemeinsamen Erlebnishintergrund fortentwickeln. Immer wieder hat sich das Bedürfnis nach einer gemeinsamen und langfristigen Verarbeitung der Tatfolgen innerhalb solcher Schicksalsgemeinschaften gezeigt. Der WEISSE RING hat gute Erfahrungen mit der Schaffung von Nachsorgeangeboten gemacht, die unter professioneller Anleitung Raum zum gemeinsamen Austausch bieten. Diese stellen ein wichtiges Angebot dar und gehen über die seelsorgerische Akutintervention sowie eine sich anschließende individuelle, ggf. psychologisch unterstützte Aufarbeitung hinaus.

Opferbelange im Kontext von Öffentlichkeit und Politik

Die Opferwerdung mit all ihren körperlichen und psychischen Folgen wird bei Großereignissen in aller Regel von einem besonderen öffentlichen und medialen Interesse begleitet. Wie in der eingangs angeführten Richtlinie beschrieben, weisen terroristische Straftaten die Besonderheit gegenüber anderen Straftaten auf, dass die von ihnen Betroffenen stellvertretend für die Gesellschaft Opfer geworden sind. Sie sind geschädigt, mit dem Angriff ist jedoch in aller Regel eine bestimmte Lebensweise gemeint und er richtet sich somit mittelbar oder unmittelbar gegen das Gesellschaftsmodell als Ganzes. Dieses Bewusstsein ist in der Gesellschaft vorhanden und schlägt sich in der erhöhten Öffentlichkeitswirksamkeit der Tat nieder. Neben den gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Aspekten bezieht sich das öffentliche Interesse vorrangig auf die Hintergründe der Tat sowie Details der Tatausführung. Dies geht einerseits mit einer Fokussierung auf die Person der Attentäterin bzw. des Attentäters und deren bzw. dessen Täterbiografie einher, andererseits mit einer möglichst akribischen und umfassenden Darstellung der Verletzungsfolgen und des Angsterlebens auf Seite der Opfer. Durch diese Formen der medialen Aufmerksamkeit findet die Aufarbeitung der Tat durch die Opfer in einem größeren, teils konfrontierenden Kontext statt. Bei Publikationen über Straftaten ist es daher unbedingt notwendig, den Konsens zu einer opfersensiblen Berichterstattung zu etablieren.

Das Medieninteresse an der Tat hält im Nachgang oft über lange Zeiträume an, insbesondere sind hierbei die Jahrestage hervorzuheben. Die daraus resultierende Gefahr einer Retraumatisierung der Betroffenen ließe sich jedoch durch umsichtiges Handeln zumindest abschwächen, beispielsweise, indem die zuständigen Stellen sie vorab telefonisch über Pressekonferenzen und die zugehörigen Medienberichte informieren. Dadurch werden sie einerseits darauf vorbereitet, in den folgenden Tagen auf den unterschiedlichen Informationskanälen verstärkt mit den Geschehnissen konfrontiert zu werden, andererseits kennen sie die Verlautbarungen vorab und sind in die Abläufe informativ eingebunden. Mit diesem Wissen können sie sich mental auf die erneute Präsenz der Tat in den Medien vorbereiten und Neuigkeiten treffen sie nicht überraschend zu Hause, unterwegs oder am Arbeitsplatz und lassen sie mit Fragen und Unsicherheiten zurück, welche sie anschließend mühsam abklären müssen.

Generell sind Opferinteressen immer wieder gefährdet, aus dem Blick zu geraten, da sich der Fokus der Diskussion auf das öffentliche Interesse, also eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Tat sowie die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, verschiebt. Persönliche Bekundungen der Betroffenheit aus den Reihen der Politik können den Opfern vermitteln, dass das Leid des Einzelnen durch die Gesellschaft wahrgenommen und anerkannt wird. Gleiches gilt für die Einbindung der Betroffenen in die Planung und Durchführung von Trauerveranstaltungen oder bei der Gestaltung von Gedenkstätten. Diese sind einerseits Teil einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Tat, andererseits tangieren sie einen äußerst persönlichen Lebensbereich der Opfer.

Materielle Hilfen und Leistungsgewährung

In materieller Hinsicht benötigen Anschlagsopfer oftmals kurzfristig Hilfen in Form von Barmitteln, damit unmittelbar anfallende Kosten gedeckt werden können. Mittelfristig entstehen in etlichen Fällen weitere hohe Aufwendungen, wie zum Beispiel für die Wiederherstellung eines Ladengeschäftes, zur Sicherstellung der familiären Solvenz bei einem Ausfall des Hauptverdieners oder für Überführungen und Beerdigungen. Diese werden oftmals nur unzureichend oder nicht zeitnah durch staatliche Stellen abgedeckt. Der WEISSE RING kann als großer zivilgesellschaftlicher Akteur mit seinen vielen professionell ausgebildeten, ehrenamtlichen Opferhelferinnen und -helfern den Menschen sowohl hinsichtlich ihrer individuellen Bedürfnisse gerecht werden, als auch finanziell unbürokratisch zur Seite stehen. Schmerzensgeld- und Schadenersatzzahlungen übersteigen den Rahmen des Möglichen jedoch. Darüber hinaus wurde von den Betroffenen wiederholt artikuliert, dass sie derlei Kompensationen als in staatlicher Hand liegende Aufgabe betrachten.

Besonders schwierig ist es für Betroffene, mit Unsicherheiten in Bezug auf mögliche Heilbehandlungs- und Entschädigungsleistungen umzugehen, welche aufgrund unklarer Zuständigkeiten in der Verwaltung entstehen. Nach dem Anschlag in Berlin war beispielsweise über einen längeren Zeitraum unklar, welche Leistungsträger für die staatlichen Entschädigungsleistungen heranzuziehen sind. Neben dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), bei welchem zunächst wegen des Gesetzeswortlautes davon auszugehen war, dass es bei einer Tatausführung mit einem Kraftfahrzeug nicht als Anspruchsgrundlage herangezogen werden kann, kamen die Verkehrsopferhilfe e. V. als Entschädigungsfonds der Autohaftpflichtversicherer sowie, im Wege der so genannten Härteleistungen, das Bundesamt für Justiz in Betracht. Daraus resultierte, dass die Opfer allein in dieser Sache drei sich nur marginal unterscheidende Anträge zu stellen hatten, um sich hinsichtlich ihrer Ansprüche abzusichern. Letztlich kam es zu einer Anwendung des OEG, die Leistungen mussten allerdings in etlichen Fällen rechtlich erstritten werden – einige Verfahren sind bis heute nicht abgeschlossen. Eine aus Opfersicht vergleichbare Problematik stellte sich nach dem Amoklauf im München dar. Hier dauerte es 20 Monate, bis die Betroffenen Härteleistungen für die Opfer extremistischer Übergriffe vom Bundesamt für Justiz erhalten konnten. Bedingt wurde dies durch den Umstand, dass eine rechtsverbindliche Einordnung des Täters in das extremistische Spektrum vorgenommen werden musste, wofür mehrere Gutachten notwendig waren.

Im Endeffekt äußerten viele der Betroffenen das Gefühl, keine ausreichende Rechtssicherheit bezüglich ihnen zustehender Entschädigungsleistungen zu haben und sich in die Rolle von „Bittstellern“ gedrängt zu sehen. Insbesondere im Nachgang zu dem Anschlagsgeschehen auf dem Breitscheidplatz in Berlin zeigte sich in der Betreuung der Opfer die übergeordnete Notwendigkeit gebündelter, leicht zugänglicher und gut verständlicher Informationen und Zuständigkeiten. Diese Forderung haben die Verletzten auch bei einem Nachsorgetreffen artikuliert: Sie erachten eine zentrale Stelle als notwendig, welche im Namen der verschiedenen Behörden agieren kann sowie fundierte und verbindliche Auskünfte zu erteilen in der Lage ist. Ebenso wünschen sie sich Austauschmöglichkeiten mit Expertinnen und Experten, bei welchen die Betroffenen aktiv über bestehende Hilfsangebote informiert werden.

Eine Vernetzung der unterschiedlichen Institutionen sowie Akteurinnen und Akteure erscheint hierfür dringend erforderlich. Intern hat der WEISSE RING diese Anforderungen umgesetzt, indem durch seine Landesverbände Koordinatorinnen und Koordinatoren für Großereignisse bestellt worden sind, welche als vereinsinterne und -externe Ansprechpartnerinnen und -partner fungieren. Ihre Aufgabe ist es, dauerhafte Netzwerkarbeit mit zuständigen Institutionen und Organisationen zu betreiben. Im Falle eines Anschlags verfügen sie über Wissen in Bezug auf lokale Hilfsmöglichkeiten und stellen sicher, dass die Kapazität der Außenstelle am Tatort gegebenenfalls durch das Hinzuziehen weiterer Opferhelfer ausgeweitet wird.

Ausblick

Opfer extremistischer und terroristischer Straftaten benötigen Hilfsangebote, die unmittelbar nach einer Tat zur Verfügung stehen ebenso, wie mittel- und langfristige Nachsorgeangebote. Gleiches gilt in Bezug auf finanzielle Unterstützungsleistungen, welche sowohl in einer Akutsituation kurzfristig notwendig sind, als auch von den Betroffenen langfristig zur Bewältigung der Tatfolgen benötigt werden – wobei hier insbesondere eine zügige Rechtssicherheit hinsichtlich der Anspruchsgrundlagen von Bedeutung ist.

Als wichtigen Baustein eines umfassenden Hilfekonzeptes sieht der WEISSE RING die Vernetzung aller relevanten Akteurinnen und Akteure aus Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Organisationen an. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Betroffenen in einer Akutsituation zeitnah Zugang zu den benötigten Ressourcen erhalten können, da Hilfsangebote sowie Zuständigkeiten allgemein bekannt sind. Die bereits eingerichteten Runden Tische können hierbei wegweisend sein.

Auf die Notwendigkeit einer staatlichen Stelle, bei welcher aller wichtigen Informationen strukturiert zusammenfließen und durch welche aktiv auf Anschlagsopfer zugegangen wird, wurde von diesen wiederholt hingewiesen. Eine solche Stelle kann den Ausgangspunkt dafür darstellen, Wissen über die besonderen Bedürfnisse dieser Betroffenengruppe zu kumulieren und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis effektiv umzusetzen. Die Opfer benötigen weiterhin Fürsprecherinnen und Fürsprecher hinsichtlich einer Vereinfachung der Antragsverfahren für Heilbehandlungs- und Entschädigungsleistungen, schneller und unbürokratischer finanzieller Unterstützung sowie organisierter Nachsorgeangebote.

Zeugnis

von Egbert Schmidt - ein Überlebender des Anschlages vom Breitscheidplatz

In meinem Beruf als examinierter Pfleger in der stationären und ambulanten Pflege hatte ich früher auch mal mit schwer erkrankten Menschen und Verstorbenen zu tun.

Umso unwirklicher sind für mich die Bilder in meiner Vorstellung von den Verstümmelten und Toten nach dem Anschlag. Als wenn ich mir selbst nicht mehr vertrauen könnte, mein Wissen als Pfleger jemals wieder beruflich umsetzen zu können. Dies empfinde ich als eine starke Einschränkung, weil ich bis zu dem Anschlag gerne in meinem Beruf gearbeitet habe. Ich muss eine Orientierung suchen, wie damals, weil ich ja meine Brille beim Wegrennen verloren hatte und deshalb noch näher, teils wenige Zentimeter an den Opfern dran war. Ich sehe die ganze Ungläubigkeit, die Verwirrung in den Gesichtern, wie Masken, sehe die Hautfetzen, rieche den LKW-Diesel und das Blut. Mein Selbstwertgefühl hat enorm gelitten, weil ich die Sicherheit in meinem Leben verloren habe, mein Urvertrauen. Vorher musste ich mir keine Gedanken darum machen, da war das alles selbstverständlich. Der geschützte Raum ist kleiner geworden durch mein Misstrauen.

Bei Umgebungsgeräuschen wie lautem LKW-Gehupe oder lautstarken Wortgefechten im Straßenverkehr zucke ich innerlich zusammen. Wenn größere Transporter oder Lastkraftwagen ruckartig anfahren, erwarte ich manchmal eine Reaktion und starre auf den Fahrer. Als ein Glascontainer geleert wurde und dieser kurz über dem Boden schleifte, konnte ich meinen Blick nicht mehr abwenden, als wenn ich hypnotisiert wäre. Ein ähnliches Geräusch vernahm ich damals, als der LKW heranraste.

Es ist, als wenn ich die Orientierung verliere. Ich verirre mich dann auch in solchen Situationen, wenn ich z. B. Fußgänger bin, weil ich meine ursprüngliche Richtung nicht mehr in Erinnerung habe. Dann setze ich mich hin und überlege, was ich eigentlich wollte. Es kommt vor, dass ich den Anschlag aus verschiedenen Perspektiven sehe und dann durch ein Geräusch, ob geschehen oder nicht, aus dem Schlaf gerissen werde.

Als ich zur Zeugenaussage beim BKA in Treptow war, zeigte man mir ein Luftbild vom Anschlagsort. Es ist so, als wenn jede Kleinigkeit davon in meinem Gedächtnis eingebrannt wäre, z. B. ein Gullydeckel. In meinen Träumen kommt es dann manchmal zu Bewegungen von toten Gegenständen. Ich sehe Menschen, die eine unwirkliche Körperhaltung einnehmen, als wenn Sie schlafen würden, als wenn dies ganz normal wäre, und sie bluten nicht. Da ich deswegen nur sehr unregelmäßig schlafen kann, fühle ich mich dann auch öfter sehr ermattet. Wenn ich heutzutage diese künstlichen Sperren und Betonblöcke sehe, frage ich mich, warum die damals, obwohl doch Hinweise vorlagen, den Zufahrtsweg nicht schon blockieren konnten und warum ich von allen Orten, wo ich mich gegen 20:02 Uhr hätte aufhalten können, ausgerechnet am Breitscheidplatz stehen musste. Eigentlich müsste ich ja wiederum, wie meine Therapeutin sagt, froh sein, dass ich nicht ums Leben gekommen bin. Nur hat das für mich kaum Wert Ich ziehe mich stark vom sozialen Leben zurück, weil ich keinem das von mir Erlebte zumuten, niemanden in Verlegenheit bringen will, damit es anderen nicht auch noch schlechter geht. Nur unter großem Kraftaufwand kann ich mich motivieren, an irgendetwas teilzuhaben. Vermeide ich etwas, was mir eigentlich gut tun würde, so fühle ich mich zwar sicherer, aber auch leerer. Meine Gruppenaktivitäten wie Fußball oder Radfahren habe ich eingestellt, nachdem ich mal ansatzweise von dem Anschlagserlebnis erzählt und gemerkt habe, dass ich nicht im Rampenlicht stehen will oder zu viel Mitleid erfahren möchte. Es ist mir, als wenn ich mich selbst schädige und es nicht auseinanderhalten kann, warum dies so ist, so als wenn ich mich von außen betrachte, fast gleichgültig mir gegenüber, abgestumpft, emotionslos, entfremdet von mir selbst.

Früher konnte ich auch mal längere Abschnitte lesen, aber meine Konzentrationsfähigkeit lässt dies momentan nicht zu. Seit dem Anschlag vom 19.12.2016 lasse ich keine körperliche Nähe zu, und meine damalige Beziehung zu einer Frau war ca. ein halbes Jahr später beendet. Ich war einfach zu misstrauisch, dass sie alles weitererzählen würde und dann Menschen von mir erwarten würden, ihnen etwas zu erklären.

Mit meiner Therapeutin von der Trauma-Ambulanz in Berlin sprach ich über die Probleme mit meiner ehemaligen Freundin und es gelang mir auch, einen Telefonkontakt mit ihr herzustellen. Leider konnte ich aber mein Vermeidungsverhalten nicht abbauen und es kam nicht mehr zu einem Treffen mit meiner ehemaligen Partnerin.

Ich selbst empfinde dies als massive Verschlechterung meines psychischen Zustandsbildes, weil ich nur sehr eingeschränkt am öffentlichen oder gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Für mich ist das eine Art Teufelskreis, weil sich meine einzelnen Beeinträchtigungen gegenseitig beeinflussen und deshalb die Schwere meiner „Last“ größer wird. Zwischen den Terminen bei meiner Therapeutin und dem Neurologen verlasse ich meine Wohnung im Grunde nur, wenn ich Lebensmittel einkaufen muss. Ich habe einfach keine Spontaneität mehr in meinem Handeln. Hobbys, wie mal zu einem Konzert gehen, ins Kino, zu einem Fußballspiel oder in Museen, pflege ich nicht mehr. Ich bin im sozialen Leben nur noch Zaungast. Ich wäre eigentlich so gerne einer Gruppe zugehörig, fast gleichgültig, in welcher Richtung, aber ich komme nicht über die Schwelle. Ich möchte, dass dies alles aufhört und ich nicht zwanghaft darüber grübeln muss, warum ich unbedingt meine Brille verlieren musste, in just jenem Moment, als es darauf ankam, den Attentäter zu stellen und überwältigen zu können.

Wertvolle Zeit ging verloren, weil sich diese Brille einfach nicht finden ließ. Ich hätte es mir zugetraut, sofort zum LKW zu stürmen, die Tür aufzureißen oder die Verfolgung aufzunehmen. Was wäre das für eine Entlastung gewesen – und jetzt stehe ich mir selbst im Weg, anstatt dem Attentäter den Weg versperrt zu haben. Jetzt muss ich wegen dieses Menschen Medikamente nehmen und bin schwach. Am praktischsten erscheint es mir, Gefahren einzugehen, damit dieses Spannungsmoment weniger wird.

Der Druck in mir und die Wut über meine Lebenssituation vergrößern sich manchmal blitzschnell und mein Ventil sind dann Wutausbrüche wegen eigentlich belangloser Dinge, als wenn ich etwas ausgleichen müsste, mich am Leben zu spüren, mich zu fühlen. Ich habe gegen mein geliebtes Fahrrad getreten und mal einen Hasen von einem Bekannten gegen die Wand geschleudert. Das sind bei mir Reaktionen, die bisher überhaupt nicht zu meiner Persönlichkeit passten, diese gewalttätigen Wutausbrüche, diese Reizbarkeit. Ich fühle mich, als wenn ich über meine Verhältnisse lebe, wenn ich schreckhaft bin und ein vermindertes Gefahrenbewusstsein habe. Es ist manchmal für mich so, als wenn ich mich selbstständig machen würde, wenn ich Gegenstände erblicke und diese als verdächtig einstufe, als wenn ich den Bezug zur Realität verloren hätte, als wenn ich zwanghaft meine Umgebung nach Gefahren absuche.

Anfang Mai war meine Mutter zu Besuch in Berlin und mich hat es angezogen, sie zu beleidigen. Seitdem ist auch hier kein Kontakt mehr vorhanden, während wir früher ca. alle sieben bis zehn Tage mal telefoniert haben, weil Sie in der Nähe von Koblenz wohnt.

Auch meine verschriebenen Medikamente zu nehmen, ist aufgrund meiner Antriebsschwäche ein Problem. In ein paar Wochen ist Weihnachten, und mir graut schon davor, alleine zu sein. Ich möchte keinen Glühwein mehr riechen, sonst sehe ich wieder die Pfützen auf dem Weihnachtsmarkt, als wenn es auch Blut sein könnte.

Vielleicht mag ich mich selbst auch nicht mehr, weil ich überlebt habe. Ich fühle mich, wie beim Aufsetzen dieses Briefes, manchmal maßlos überfordert, weil dabei Filmchen vom Anschlag in mir ablaufen und meine Hilflosigkeit spürbar wird. Ich fühle mich dann mit mir ganz alleine und die Sinnlosigkeit steigt in mir hoch.

KapitelAbschlussNavigation_Titel