Bühne des Kapitels / Moduls
Gesamtgesellschaftliche Extremismusprävention - einleitende Randnotizen und unbequeme Fragen
Exkurse Gesamtgesellschaftliche Extremismusprävention
Inhalt des Kapitels / Moduls
Möglicherweise ist das ein unbewusster gesellschaftlicher Reflex auf ein extremistisch-terroristisches Gewaltgeschehen. Das konfrontierte Gesellschaftssystem bzw. dessen politische Verantwortungsträger und Mitglieder müssen sich so nicht unbequemen Fragen in Richtung einer möglichen Mitverantwortung stellen. Reflexartig wird öffentlichkeitswirksam gelobt, alles Erdenkliche zu tun, um die Tat aufzuklären, um die Sicherheit zu erhöhen und derartige Taten künftig nach Kräften zu verhindern. Es wird insbesondere die „repressive“ Klaviatur bespielt und betont, dass die Gesellschaft keinen Millimeter der extremistisch-terroristischen Herausforderung weicht und mit den extremistisch-terroristischen Akteuren nicht verhandelt wird. Das ist sicherlich auch richtig. Aber: Ist es nicht ebenso wichtig, aus einer präventiven Haltung heraus einen authentischen, breit angelegten Dialog zu den Extremismus und Terrorismus treibenden Konflikten anzustrengen, der ebenso auch in radikalisierte, extremistische Gruppen hineinreicht? Es ist kein Zufall, warum zu bestimmten Zeiten und in bestimmten gesellschaftlichen Milieus und Gruppierungen ein politisch rechter, linker und/oder religiös motivierter Extremismus anschlussfähiger scheint und offensichtlich mehr oder weniger Protest und Straftaten motiviert.
Die Opfer erinnern ...
Es war kein Zufall, dass Edith Kletzhändler am 19. November 1979 eine Züricher Einkaufspassage besuchte und bei einem Schusswechsel zwischen RAF-Mitgliedern und der Polizei tödlich getroffen wurde.4) Es war kein Zufall, dass Robert Höckmayr als 12-Jähriger auf dem Heimweg nach einem Oktoberfestbesuch am 26. September 1980 seine zwei jüngeren Geschwister – Ignaz und Ilona – durch einen mutmaßlich rechtsextremistisch motivierten Bombenanschlag verlor, bei dem er selbst sowie seine Eltern schwer verletzt wurden.5) Es war kein Zufall, dass Gürsün Ince beim Versuch, ihre vierjährige Tochter Saime aus einem von Rechtsextremisten am 29. Mai 1993 in Brand gesetzten Haus in Solingen zu retten, starb – wie auch ihre Tochter.6) Ebenfalls war es kein Zufall, dass Habil Kilic am 29. August 2001 im Feinkosthandel seiner Frau von Rechtsterroristen mit zwei gezielten Kopfschüssen ermordet wurde,7) wie es auch kein Zufall war, dass der Kunstkritiker Fabian Stech durch salafistische Terroristen am 13. November 2015 im Musikclub Bataclan in Paris erschossen wurde.8) Und auch der Tod von Dalia Elyakim, Touristin aus Israel, die in Vorfreude auf ein Treffen mit ihrem Mann am 19. Dezember 2016 von einem Terroristen mit einem Lastkraftwagen in Berlin auf dem Breitscheidplatz zu Tode gefahren wurde, war kein Zufall.9)
Diese Menschen stehen beispielhaft für die Vielzahl von Opfern des Terrorismus weltweit. Dass sie ermordet wurden, war deshalb kein Zufall, weil zur jeweiligen Zeit im jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld ein terroristisches, ideologisches Deutungsmuster wirkmächtig wurde, das die Täterinnen und Täter zu den Mordtaten motiviert hat. Und wenn auch nicht alle Täterinnen und Täter wirklich zutiefst ideologisiert waren, so hat ihnen das terroristische Anliegen zumindest in ihrer Wahrnehmung einen schuldentlastenden, legitimierenden Grund an die Hand gegeben, ihren Gewaltimpulsen nachzugeben – die Taten geschahen auch in der Überzeugung, ein durch die extremistisch-terroristische Propaganda gesetztes und inszeniertes vermeintlich höheres Gut bzw. Ziel zu verfolgen.
Die Täterinnen und Täter vergessen . . .
Dieser Aufruf ist zweifach motiviert. Einerseits gilt es, zu verhindern, über eine ungelenke Berichterstattung den Täterinnen und Tätern in ihren Referenzmilieus, in den jeweiligen extremistischterroristischen Sympathisantenmilieus zu einem Heldenstatus zu verhelfen und sie ganz entsprechend lerntheoretischer Konstrukte als nachzuahmende Modelle zu stilisieren. Andererseits gilt es, die Täterinnen und Täter im Sinne des alltagssprachlichen „vergiss es“ zu vergessen: Die biographischen Entwicklungsverläufe der Täterinnen und Täter bis zur Tat erklären uns nur bedingt das Tatgeschehen und keinesfalls das in der Tat jeweils offenkundig gewordene Extremismusphänomen in Gänze. Nach jedem Anschlag suchen die Berichterstattung und die entsprechenden Reflexionen der einbezogenen Expertinnen und Experten die Erklärung für das Geschehen im Lebenslauf und unmittelbaren sozialen Umfeld der Täterin bzw. des Täters. Das aber verkennt, dass die Täterinnen und Täter sowie deren Taten in erster Linie Ausdruck der jeweiligen Zeit, der jeweiligen gesellschaftlichen Umstände und Konfliktlinien sind: Es ist eben kein Zufall, dass wir in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern deutlich mehr rechtsextremistische Terrorakte beobachten, oder dass in den 1970er/1980er-Jahren ein sozialrevolutionärer Terrorismus offensichtlich deutlich anschlussfähiger an bestimmte Milieus war und entsprechend mehr Straftaten motivierte, als in den 2000er-Jahren, die wiederum sicherlich nicht zufällig einen religiös-islamistisch motivierten Terrorismus hervorbrachten, der in weiten Expertenkreisen zunächst als wenig anschlussfähig an „aufgeklärte“ westliche Gesellschaften schien. Diese Schlaglichter machen deutlich, dass eine individuums-, täterfixierte Reflexion zu kurz greift und die Konzeption von Extremismusprävention nicht gut beraten würde. Denn es sind gesellschaftliche Konflikte, die Extremismusphänomenen zugrunde liegen: Diese anzugehen ist letztlich der generalpräventive Schlüssel zur Lösung von Extremismusproblemen – nicht das „sozialarbeiterisch-psychologische“ Abarbeiten an einzelnen Personen, was nicht bedeuten soll, das täterfixierte Ansätze (etwa im Rahmen konkreter Ausstiegshilfeangebote) nicht notwendig wären. Es ist allerdings zu verhindern, das Phänomen individuumsbezogen zu pathologisieren. Nicht das plötzlich geballte Auftreten psychopathologisch auffälliger Personen erklärt Terrorwellen, sondern die mit Terrorakten adressierten gesellschaftlichen Konflikte. Eine pathologisierende, täterfixierte Anti-Terrorpolitik drohte von den eigentlichen Ursachen abzulenken und blockierte einen offenen, ursachenbezogenen gesamtgesellschaftlichen Diskurs.