Bundeskriminalamt (BKA)

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Die Täterfixierung nährte in trügerischer Weise die in der Berichterstattung und im Expertendiskurs häufig widerhallende Überzeugung, dass ein repressiver Zugang, ein Abgreifen der Täterinnen und Täter das Problem löste. Und so wird einer More-of-the-same-Policy, einer Politik des fortwährend Selben der Weg gebahnt, die ein Aufrüsten des Sicherheitsapparates fordert und damit Aufmerksamkeit und Kapazitäten zur Realisierung einer differenzierten, offensiven Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Konflikten bindet. Indem die Verantwortung, die Ursachen des Terrorismus primär auf die Täterinnen und Täter projiziert werden, ist der Gesellschaft und deren Verantwortungsträgern die Bürde, die Last genommen, eigene Versäumnisse bzw. eigene Anteile an den zugrunde liegenden Ursachen kritisch zu reflektieren. Extremismus und Terrorismus haben Auswirkungen auf alle Gesellschaftsbereiche und deren Subsysteme: von den Opfern und deren Familien über die diversen gesellschaftlichen Institutionen (Schulen, Kirchen, Gewerkschaften, Verbände, Polizei etc.) bis hin zur Makrosystemebene von Gesetzen und Werten in unserer Gesellschaft. Und all diese Systeme wirken wieder auf die unterschiedlichen Extremismusphänomene zurück.

Gesellschaftliche Konflikte ernst(er) nehmen und Verantwortung übernehmen

Ein Mord ist in der Regel als ein individualisiertes Binnenverhältnis von „Opfer-Täter“ zu begreifen – ein politischer und/oder religiös motivierter Mord allerdings nicht: Hier tritt quasi die Gesellschaft in einer Doppelrolle in Erscheinung – als Opfer und Täterin oder Täter zugleich. Um dies zu verhindern, bedarf es einer verantwortlichen Regulation der gesellschaftlichen Konflikte, die alle Gesellschaftsmitglieder bis zu einem gewissen Grad zu Opfern und Täterinnen oder Tätern macht. Dies ist zunächst irritierend und unverständlich. Die Irritation löst sich aber infolge eines fragegeleiteten Gedankenspiels anlässlich der jüngsten rechtsterroristisch motivierten Anschläge im Oktober 2019 in Halle und im Februar 2020 in Hanau auf: Was ist unser Anteil am fortwährend schwelenden Antisemitismus und Fremdenhass in Deutschland bzw. was haben wir diesen Erscheinungen bisher entgegen gestellt?

Welchen Anteil haben wir an Lebensumständen, die solche Täterinnen bzw. Täterbiographien und Taten hervorgebracht haben bzw. was haben wir dagegen unternommen, dass sich weiterhin und gegenwärtig offenbar verstärkt extremistischer Hass gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen (Juden, Frauen, Muslime, Ausländer, Homosexuelle usw. usf.) in der realen und virtuellen Welt des Internets breit macht? Und was bedeuten die Anschläge im Resultat? Ganz abstrakt sind wir alle, die wir uns als Mitglied einer freiheitlich-offenen Gesellschaft begreifen, Opfer: Denn derartige Anschläge sind ein Angriff auf ein derart vorgestelltes und verfasstes Gesellschaftssystem. Und sehr konkret lösen diese Anschläge in den Köpfen von Investoren Überlegungen aus, ob dort eine Investition getätigt werden sollte und potenzielle Touristen fragen sich, ob Besuche in diesen Regionen und Städten ratsam sind. Gleiches gilt für Personen, die ggf. ihren Wohnort verlegen wollen, wenn sie sich fragen, ob diese Städte und Regionen Deutschlands aufnahmebereit sind. Wenn die angesprochenen Personengruppen die gestellten Fragen mit „ja“ beantworteten, wären ggf. Entwicklungen gestützt und einleitbar, die die ein oder andere Ursache, die solchen Anschlägen direkt oder indirekt zugrunde liegt, positiv beeinflussen könnten.

Dieses Gedankenspiel lässt offenkundig werden, dass eine gesamtgesellschaftliche Extremismusprävention von allen Gesellschaftsmitgliedern in ihren beruflichen und privaten Lebensbereichen Verantwortungsübernahme erfordert. Aus einer ethischen Perspektive ist stets mitzudenken, dass die eigene Positionierung, das eigene (Nicht-)Tun und (Nicht-)Handeln bei gesellschaftlichen Konflikten Einfluss auf das gesellschaftliche Radikalisierungsgeschehen und auf die Entwicklungen der diversen Extremismen innerhalb einer Gesellschaft nimmt. Auch wenn wir wegschauen, wenn wir extremistische Entwicklungen ignorieren, beeinflusst dies das Risiko, dass gesellschaftliche Konfliktlinien in destruktive Radikalisierung in Richtung Extremismus oder gar Terrorismus münden. Ganz offensichtlich und gegenwärtig virulent diskutiert wird dies in Bezug auf den Rechtsextremismus. Hat unsere Gesellschaft unter dem Eindruck eines religiös-islamistisch motivierten Terrorismus dem rechten Extremismus hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt – hat die Bindung der Aufmerksamkeit durch den islamistischen Terrorismus den jüngsten Rechtsterrorismus, beginnend mit dem sog. „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), erst möglich gemacht?

Mut zum Dialog ... Dialogverweigerung ist keine Option ...

Mit Terroristen wird weder verhandelt noch Dialog geführt, dies gilt auch für Extremisten. Und mit extremen Parteien des linken oder rechten Spektrums wird nicht geredet, zumindest nicht kooperiert oder gar koaliert. Gleiches gilt z. T. für gesellschaftliche Gruppen, die mit einer extremen, radikalen Position assoziiert werden. So betont Necla Kelek, preisgekrönte Publizistin, Soziologin und Menschenrechtlerin, jüngst in einer deutschen Tageszeitung, dass „mit Islamverbänden kein Staat und keine Integration“ zu machen und „Dialog ein Irrweg“ sei.10)

Aber wären hier nicht Abstufungen bzw. differenzierende Bewertungen vorzunehmen? Erpressung, Bedrohung oder gar konkrete terroristische Gewalt sind sicherlich kein akzeptabler dialogischer Ausgangspunkt. Aber es sollte doch zumindest der Dialog, die kommunikative Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Gruppierungen und Akteuren gesucht werden, die von den radikalisierungsträchtigen Konflikten betroffen sind und/oder diese – demokratisch legitimiert – in den Parlamenten und/ oder im Protestgeschehen auf der Straße thematisieren. Dialog heißt ja nicht Akzeptanz. Dialog heißt aber Toleranz gegenüber abweichenden Positionen, sofern diese nicht strafbewehrt sind. Ohne Zweifel, das ist anstrengend . . .