Bundeskriminalamt (BKA)

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Dem Handbuch Extremismusprävention geht es darum, umfassend das vorhandene grundlegende Wissen zu einem hochkomplexen und politisierten gesellschaftlichen Handlungsfeld zusammenzutragen. Gleichzeitig soll dafür sensibilisiert und motiviert werden, vermeintliche Gewissheiten in Theorie und Praxis immer wieder kritisch zu reflektieren: Extremismus, Radikalisierung und Terrorismus sind sehr fluide, wandelbare soziale Phänomene. Sie stellen sich zu unterschiedlicher Zeit an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen häufig sehr verschieden dar – selten hat sich dies so deutlich gezeigt wie in jüngster Zeit, wenn wir die Entwicklungen vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz im Dezember 2016 bis zum Anschlag in Hanau im Februar 2020 Revue passieren lassen. Wenngleich offenbar die basalen sozio-psychologischen Weichenstellungen in Richtung der unterschiedlichen ideologisch begründeten Extremismen keine große Veränderungen über Raum und Zeit aufzuweisen scheinen, so sind die jeweiligen individuellen sowie gesellschaftlich-kulturellen Ausgangsbedingungen eines etwaigen Radikalisierungsgeschehens höchst spezifisch. Auch dies wurde selten so offenkundig, wie es sich im terroristischen Geschehen der jüngsten Zeit sowohl national wie auch international offenbart. Dies ist bei der Konzeption und Umsetzung von Präventionsmaßnahmen zu berücksichtigen. So viel sei vorweggenommen: Eine One-size-fits-all-Strategie würde dem Phänomen, dem Präventionsanliegen in diesem vielschichtigen Arbeitsfeld nicht gerecht werden. Stets ist zu fragen, ob die aktuellen präventiven Zugänge (noch) angemessen und nützlich sind.

Soweit zunächst zu den „theoretischen“ Ausgangsbedingungen der Extremismusprävention. Im Hinblick auf die konkrete Präventionspraxis beobachten wir seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein Ringen, ein Bemühen um präventive Zugänge, das in jüngerer Zeit merklich zunimmt. Es wurde nach praktischen Präventionsansätzen zu der Erscheinung eines scheinbar neuen Phänomens, dem religiös motivierten, islamistischen Extremismus/Terrorismus, gesucht. Diese für den „Westen“ neue Herausforderung drängte nicht nur auf sicherheitsbehördliche Antworten, wie mit diesen extremistisch-terroristischen Erscheinungen umzugehen ist, sondern ließ gleichzeitig einen großen Bedarf an einer flankierenden Präventionsarbeit sichtbar werden.

Anscheinend ist das Verhältnis zum Islam in den westlichen Gesellschaften nicht hinreichend geklärt bzw. nicht hinreichend zu einer einvernehmlichen, Toleranz und Pluralität bejahenden Normalität entwickelt. Die sich mehr und mehr abzeichnenden Integrationsdefizite wurden insbesondere mit den in 2015 stark angewachsenen Migrationsbewegungen in Richtung Europa offensichtlich. Sie äußern sich weiterhin in einem Erstarken rechtspopulistischer und -extremistischer Erscheinungen. Diese wiederum rufen bisweilen extreme, ebenfalls gewaltträchtige Reaktionen hervor. Und so befindet sich Deutschland in einer in seiner bisherigen Geschichte einmaligen Situation, die geprägt ist von einem virulenten, gewaltträchtigen Wechselwirkungsgeschehen zwischen weltanschaulichen und religiös motivierten Extremismen. Von daher sind die beobachtbaren zunehmenden präventiven Anstrengungen auf Bundes-, Landes- und vor allem auf kommunaler Ebene eine verständliche und begrüßenswerte Reaktion auf ein vielschichtiges, zunehmend extremismusaffines und terrorismusträchtiges Radikalisierungsgeschehen.

Dies gilt umso mehr unter dem Eindruck der Corona-Krise. Bei Start des unmittelbaren Produktionsprozesses, dem intensivierten Lektorat und dem Einstieg in die Korrekturschleifen zu diesem Handbuch war Corona in Europa noch kein Thema. Jetzt, wo diese Zeilen noch nachträglich in die schon lektorierte Einleitung eingefügt werden, hat das Corona-Virus das kollektive Bewusstsein vollumfänglich besetzt. Und wenn diese Zeilen in gedruckter Form erstmalig gelesen werden, sind weltweit mehrere hunderttausend Tote zu beklagen. Wir können jetzt bereits verlässlich festhalten, dass unsere Gesellschaft nach der Bewältigung der COVID-19-Pandemie eine andere sein wird – gleichwohl noch vollkommen offen ist, in welche Richtung sich das gesellschaftliche Miteinander im Hinblick auf das hier gegenständliche Themenfeld entwickeln wird. Einerseits beobachten wir in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen vielfältige Formen solidarischer Hilfe. Diese besitzen anscheinend und hoffentlich das Potenzial, die noch bis vor kurzem in Gestalt von grausamen Terrorakten in Halle und Hanau registrierten gesellschaftlichen Fliehkräfte in Richtung einer zunehmenden Polarisierung und Entsolidarisierung zu moderieren. Andererseits ist jetzt schon absehbar, dass die Corona-Krise mit vielen kleineren und größeren gesellschaftlichen Konfliktlagen einhergehen wird, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Radikalisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen beitragen werden. So beobachten wir gleichfalls im Zusammenhang mit dem COVID-19-Virus intensiv aufkeimende Verschwörungstheorien – Begleiterscheinungen eines möglichen Radikalisierungsgeschehens in Richtung extremistischer Weltsichten. Die sich aktuell zunehmend über das Internet ‚viral‘ verbreitenden Verschwörungstheorien werden von den unterschiedlichen, politisch und religiös motivierten extremistischen Milieus und Gruppierungen befeuert und instrumentalisiert. Inwieweit ein derartiges Radikalisierungsgeschehen droht, in extremistische Gewalt, in Extremismus umzuschlagen, ist noch nicht verlässlich einzuschätzen – dies wird unter anderem durch ein in 2020 startendes ‚Radikalisierungsmonitoring‘ beobachtet, welches von einem mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten Spitzenforschungscluster (ergänzend gefördert durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat) umgesetzt wird.* Trotz der skizzierten Offenheit der Situation und trotz – oder gerade wegen – der gegenwärtig hohen Ungewissheit die Zukunft betreffend sind die jüngeren zunehmenden präventiven Anstrengungen auf Bundes-, Landes- und vor allem auf kommunaler Ebene eine verständliche und begrüßenswerte Reaktion auf ein vielschichtiges extremismusaffines Radikalisierungsgeschehen, dessen Ursachen tiefer liegen, als die gegenwärtig unser aller Aufmerksamkeit okkupierende Corona-Krise.

Was jedoch fehlt, ist eine Zusammenschau der Präventionspraxis, ein Überblick über das, was wir wissen und was sich mit Blick auf die differenten Erscheinungen von Extremismus als praktikabel, als präventiv wirksam erweist. Ebenso mangelt es an einem lebendigen, offenen und (auch: selbst-) kritischen Austausch zu unseren Erfahrungen, die wir in der Praxis machen. Mitunter scheint es, als bestünde ein Handlungsdruck, Merkmale oder Ausgestaltungen von Extremismus neu zu entdecken, anstatt sich über bereits bekannte und erfolgreiche Ansätze auszutauschen und darauf aufzubauen. Dies geschieht insbesondere auch, weil es angesichts der Breite des bereits vorhandenen Wissens und der Vielfalt unterschiedlichster Präventionsangebote schwerfällt, den Überblick zu behalten. Hierzu will das Handbuch Extremismusprävention einen Beitrag leisten. Es zielt darauf ab, zu den unterschiedlichen Erscheinungen von Radikalisierung und Extremismus sowie zu den einzelnen präventiven Arbeitsfeldern Orientierung zu stiften. Dabei hat das Handbuch vor allem die Praktiker in den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern vor Augen, die mit den Herausforderungen von Radikalisierung und Extremismus konfrontiert sind: Seien es Eltern sich radikalisierender Heranwachsender, seien es Therapeutinnen und Therapeuten in Ausstiegshilfemaßnahmen, seien es Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von Kommunen, in denen extremistische Gruppierungen aktiv werden, seien es Studierende, die sich für dieses herausfordernde Praxisfeld qualifizieren wollen, oder Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die in dieses spannende Forschungsfeld eintauchen möchten. Aus diesem breiten Anspruch heraus wurden der besondere Aufbau des Handbuchs und bestimmte Gestaltungsmerkmale abgeleitet.