Bühne des Kapitels / Moduls
Extremismus aus sprachwissenschaftlicher Perspektive
Exkurs 1 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Einleitung
Sprache spielt im politischen Extremismus eine zentrale Rolle, denn es handelt sich um eine komplexe Kommunikation zwischen Verhüllung und Selbstoffenbarung, interner und externer Legitimierung in Bezug auf eine politische und/oder religiöse Ideologie, fanatischexpressiver Sprache aus Wut, Verachtung, Empörung und Protest und im nächsten Moment wieder alltagssprachliche Routine in der Tarnung der Normalität. Umso erstaunlicher ist es, dass extremistischer Sprachgebrauch in der Sprachwissenschaft bisher kaum untersucht wurde. Daher versucht der vorliegende Artikel im ersten Teil, einige konzeptionelle Grundlinien aus linguistischer Sicht zu ziehen und dabei an die bisherigen Ansätze insbesondere aus der Politolinguistik und der Schlüsselwortforschung anzuknüpfen.
Extremismus und Radikalisierung
Wenn von Extremismus gesprochen wird, wird eine bestimmte Form von Normalität unterstellt. Diese Normalität ist aber nicht einfach gegeben, sondern muss im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs aufwendig verhandelt werden, da so die Grenzen, was als extremistisch gilt und was nicht, festgelegt werden, und Normalität durch diese Grenzziehungen auch selbst konstituiert wird. Für den hier vorliegenden Zusammenhang wird von einer Normalität ausgegangen, wie sie derzeit normativ im Grundgesetz, im Strafgesetzbuch und in anderen Gesetzen festgelegt ist, d. h. es gibt einige unverrückbare Grundrechte und einen politischen Ordnungsrahmen, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kodifiziert sind, und es gibt ein Strafrecht und eine Strafpraxis, die definieren, was politisch motivierte Straftaten sein sollen. Insofern soll hier die Definition des politischen Extremismus übernommen werden, wie sie sich auch im Strafgesetzbuch finden lässt.1)
Im Folgenden soll Extremismus unter dieser Perspektive betrachtet werden, d. h. es müssen mindestens drei Elemente zusammenkommen:
- Ziel: Abschaffung des im Grundgesetz verankerten staatlichen Ordnungsmodells und der Grundrechte oder wesentlicher Teile davon zugunsten einer mehr oder weniger elaborierten neuen, „besseren“ Ordnung.
- Mittel: Planung und Durchführung eines Umsturzes oder die Herbeiführung einer Umsturzsituation (Panik, Chaos, Verunsicherung etwa durch Terror, Sabotage etc.); Planung und Ausübung strafbewehrter Gewalttaten und/oder Unterstützung dieser.
- Legitimierung: politisches Glaubenssystem (Ideologie), aus dem sowohl das Ziel als auch die Mittel abgeleitet werden und so auch grausamste Gewalttaten als gut und richtig gerechtfertigt werden können. Sowohl das Ziel als auch die Mittel können nur sehr vage gefasst und in verschiedenen Gruppen divers sein. Extremistische Gewalttaten sind jedoch immer von Werten geleitetes Handeln.
Es handelt sich also um eine auf das Grundgesetz bezogene, kontextuell sehr eingeschränkte Definition von Extremismus, die aber für das hier vorliegende Anliegen angemessen erscheint und die auch zumindest mit bestimmten Positionen in der Forschung übereinstimmt.2)
Radikal ist dabei nicht synonym mit extremistisch: Radikales Denken und Argumentieren, radikale Analysen und Utopien sind essenzieller Teil demokratischer Kultur.3) Wenn dieses jedoch in einen Extremismus übergeht, entwickelt das radikale Denken eine mörderische Kombination aus sich vertiefender und abschottender Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit. Dann wird nicht nur ein Übel und dessen mögliche Ursache ausgemacht, sondern auch eine Gruppe, die für dieses Übel verantwortlich sein soll und demzufolge gestört oder zerstört werden muss. Extremistisches Denken toleriert nur eine, nämlich die eigene Weltanschauung, erkennt nur eine Ursache an und macht eine Gruppe oder Gruppenkonstellation für alles Übel auf der Welt verantwortlich. Extremistisches Denken zeichnet sich daher oft durch eine Verschwörungstheorie aus. Als die gegenwärtig hauptsächlichen konzeptionellen Ausrichtungen einer solchen neuen politischen Ordnung in Deutschland können die völkisch-nationalistische, die anarchistische, die sozialistische und die islamistische genannt werden. In Kapitel 2 (in diesem Band) finden sich dazu detaillierte Phänomenbeschreibungen.
Zur Sprache des politischen Extremismus
Man kann zu Recht fragen, ob es so etwas wie eine Sprache des politischen Extremismus überhaupt gibt.4) Ebling et al. sind dieser Frage nachgegangen und haben eine Reihe von Merkmalen wie die metasprachliche Markierung als Ausdruck sprachkritischer „Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates“5) vorgeschlagen. Diese Merkmale zeigen, dass es eher eine extremistische Nutzung bestimmter Mittel gibt und nicht spezifische Mittel an sich. So sind Apostrophierungen zunächst ein übliches sprachliches Mittel der Alltagskommunikation. Es handelt sich um eine Form der metasprachlichen Kommunikation und dient häufig der Fokussierung und Distanzierung. Die Entscheidung, was extremistischer Sprachgebrauch ist, hängt aus pragmasemantischer Sicht deshalb von der Konstellation der Sprecherinnen und Sprecher, der Ziele, Adressatinnen/Adressaten und Inhalte ab. Werden Mittel wie Apostrophierungen nun in einem extremistischen Kontext betrachtet, so sind diese für die Analyse extremistischen Sprachgebrauchs sehr hilfreich. Distanzierungen sind beispielsweise interessant, da sie anzeigen, an welchen Stellen der common ground infrage gestellt bzw. verlassen wird. Durch die Analyse dieser Sprachthematisierungen wird die Wahrnehmung des Anderen aus extremistischer Sicht deutlich. Dadurch konnten für das vorliegende Glossar (in Kapitel 2) insbesondere Sinnformeln der Fremdgruppen aus Sicht der extremistischen Eigengruppe herausgefunden werden. Damit waren Sprachthematisierungen wie bereits bei Stötzel/Wengeler6) ein wichtiges Hilfsmittel zur Erstellung von Schlüsselwörtern und anderen Sinnformeln.
Die zentrale Rolle, die der Pragmasemantik extremistischen Sprachgebrauchs zukommt, macht jedoch deutlich, dass zunächst etwas grundlegender angesetzt werden muss, und zwar an der extremistischen Kommunikationskonstellation.
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Fussnoten
1)
Für den Kontext des hier vorliegenden Handbuchs ist dies eine plausible Annahme. Zweifellos schließen sich hier verschiedene Diskussionen an, z. B. um das Konzept des „Normalismus“ (Link 2013) oder den kulturellen und diskursiven Charakter des Strafsystems (Foucault 1994), die allerdings an anderer Stelle geführt werden müssen.
2)
Diskussionen gibt es um den Extremismusbegriff insbesondere in Bezug auf den Begriff des Linksextremismus, da dieser mit dem Rechtsextremismus in unzulässiger Weise gleichgesetzt werde. Zur Darstellung und Kritik vgl. z. B. Neugebauer 2010, Pfahl-Traughber 2014. Für eine vertiefte Diskussion dieser Begrifflichkeit sei hier auf das Kapitel 1 (in diesem Band) verwiesen.
3)
Mouffe 2018.
4)
Ebling et al. 2013.
5)
Ebd., 56.
6)
Stötzel/Wengeler 1995.
7)
Es handelt sich um eine abstrahierte Narrationsstruktur in Anlehnung an Mudersbach 2001. Nach Tobias 2016 kann sie als „Masterplot“ bezeichnet werden. Der Einfachheit halber werden hier innerhalb oder außerhalb der eigenen Ideologie kooperierende oder konkurrierende extremistische Gruppen nicht näher betrachtet.
8)
Diese Einschränkung ist wichtig, da die Umsturzversuche extremistischer Gruppierungen ja prinzipiell gelingen können und sie somit in eine Herrschaftsposition gelangen, also hegemonial werden können.
9)
Mannheim 1929, 31f.
10)
Rettig/Kiefer/Sommer/Graumann 1993; Kiefer/Rettig/Sommer/Graumann 1994.
11)
Grice 1979.
12)
Hentschel/Weydt 2003, 215.
13)
Ebd.
14)
Volmert 1989, 151-153.
15)
Schmitz 2016.
16)
Vgl. Geideck/Liebert 2003a.
17)
Niehr 2014, 136.
18)
Ebd.
19)
Liebert 2003; Geideck/Liebert 2003b.
20)
Dies hat gegenüber frameorientierten Diskursanalysen den Vorteil, dass die Kulturbedeutung stärker in den Fokus rückt.
21)
CSU 2013/14.
22)
Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.
23)
Vgl. Geideck/Liebert 2003b.
24)
Strauß/Haß/Harras 1989; Stötzel/Wengeler 1995; für die NS-Zeit vgl. auch Schmitz-Berning 2007.
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