Bühne des Kapitels / Moduls
Extremismus aus sprachwissenschaftlicher Perspektive
Exkurs 1 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Die extremistische Kommunikationskonstellation
Im Folgenden sollen die wesentlichen Akteurinnen, Akteure und ihre Beziehungen aus der Sicht einer extremistischen Gruppierung dargestellt werden, die als Eigengruppe bezeichnet wird.7) Eine Vorbedingung ist, dass die Eigengruppe nicht an der Macht ist, sonst müsste sie keinen Umsturz planen und dafür Terrorakte ausüben.8) Die Eigengruppe (hier also die Extremistengruppe) sieht sich einer oder mehrerer feindlicher Fremdgruppen gegenüber. Die Herrschaftsposition wird von einer Hegemonialgruppe eingenommen, die aus der feindlichen Fremdgruppe kommt oder dieser zumindest zuarbeitet (Verräterposition, s. u.). Diese Hegemonialgruppe beherrscht in dieser Sicht nicht nur die Eigengruppe, sondern eine viel größere Gruppe: eine gute Mehrheit, d. h. ein nicht genau expliziertes, nach den Utopien und Normen der Eigengruppe verstandenes Normalitätsstereotyp (das Volk, die Arbeiter(schaft), die Deutschen, die Musliminnen und Muslime, Deutschland), das emotional und moralisch idealisiert und stark aufgewertet wird.
Diese Mehrheit gilt es nun, zu einer Positionierung zu zwingen: für den Kampf der Eigengruppe (Mitkämpferposition) oder dagegen (Verräterposition). Auch eine unentschiedene Position ist möglich, solange diese potenziell auf die Seite der Mitkämpfer gezogen werden kann. Ziel ist es, die Gruppe der Unentschiedenen möglichst klein zu halten (Polarisierung). Die Mitkämpferposition beinhaltet ein explizites, öffentliches oder ein implizites Bekenntnis als materielle Unterstützung, etwa indem jemand Informationen weitergibt, ein Versteck zur Verfügung stellt oder Waffen besorgt. Hat sich jemand implizit oder explizit zur extremistischen Eigengruppe bekannt, so entsteht ein nach und nach steigender Loyalitätsdruck, so dass eine Mitkämpferin oder ein Mitkämpfer nur noch als „Verräterin bzw. Verräter“ aus der Gruppe und ihrem Umfeld ausscheiden kann. Es findet also ein extremes Othering statt, d. h. jegliche Andersheit wird abwertend ausgegrenzt als feindliche Fremdgruppe oder als Verräter. Dabei kann es durchaus zu einem taktischen Othering kommen, etwa wenn Menschen in Kategorien in Bezug auf ihre Schädlichkeit und Nützlichkeit für die Ziele der extremistischen Eigengruppe eingeteilt werden. Es kann also durchaus strategisch und taktisch definierte Grade der Gefährlichkeit und Nützlichkeit (z. B. „nützliche Idioten“) geben.
Zentral bleibt aber die Identifizierung einer Hegemonialgruppe, die in einer Machtposition ist, aber aus Sicht der extremistischen Eigengruppe nicht das Wohl der (idealisierten) „guten Mehrheit“ im Sinn hat, sondern nur das eigene und/oder das einer feindlichen Fremdgruppe. Die Geschichte der Hegemonialgruppe, ihre Motivationen, Werte und Pläne sowie ihre (grundsätzlichen) Fehler und ihre Verwerflichkeit sind Teil des extremistischen Plots und nehmen häufig die Form von Verschwörungstheorien an. Ein gängiges Muster extremistischer Narration besteht darin, dass die Hegemonialgruppe eine bestimmte Minderheitengruppe auf Kosten der „guten Mehrheit“ bevorzugt.
Insgesamt stellt der extremistische Plot eine Befreiungsideologie dar: Die gerechte und gute Mehrheit wird von der Hegemonialgruppe unterdrückt, häufig zugunsten einer Minderheit, die dies aus Sicht der Eigengruppe nicht verdient hat. Die gute Mehrheit erhebt sich nur deshalb nicht gegen die Hegemonialgruppe und ihr Unterdrückungsregime, weil sie von diesen durch geschickte Manipulationen verblendet ist. Daher müssen die Herrschergruppe entlarvt und die Mehrheit auf diese Weise befreit werden. In diesem Denken wird angenommen, dass das Aufdecken dieser Verblendung zu einer Konversion hin zur Ideologie der Eigengruppe führen muss. Hinzukommen können außerdem andere extremistische Gruppierungen, die in Kooperation oder Konkurrenz stehen können, z. B. als „Querfront“.
Eingebettet ist diese Narration in eine spezifische Gegenwartsdiagnose: Die Gegenwart ist aus der extremistischen Perspektive existenziell bedrohlich und zugleich in historischer Sicht von einmaliger Bedeutung: Die (biologische, soziale, nationale, personale) Existenz der „guten Mehrheit“ steht auf dem Spiel, die Hegemonialgruppe betreibt dies bereits durch ihre Politik und kann nur noch aufgehalten werden, wenn sich jetzt alle zusammen mit der extremistischen Gruppe gegen die Hegemonialgruppe erheben. Wissenschaftliche Daten sind hier nur von selektivem Interesse.
Die Wissenschaften beziehen in der Regel ihren Standpunkt aus den Standards der wissenschaftlichen Community. Deren Aussagen sind in der Regel reflexiv in Bezug auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit sowie von einer gewissen Komplexität und teilweise auch Ambiguität geprägt. Da die Eigengruppe lediglich eine Feind-, Mitkämpfer oder Verräterposition kennt, fallen bestimmte Wissenschaften bzw. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in eine dieser Kategorien. Ein differenziertes Bild wird hier nicht aufgebaut. Wissenschaft ist dann Mitkämpfer oder „Büttel“ der Hegemonialgruppe.
Wer diese Gegenwartsdiagnose bzw. Situationsdefinition der Eigengruppe als existenzbedrohend und historisch einmalig akzeptiert, ist leicht zu motivieren, Gewalttaten zu unterstützen oder selbst auszuführen, insbesondere, wenn die eigene Existenz bisher als marginal erlebt wurde. Die extremistische Utopie verspricht dabei nicht nur ein Ende marginalisierter Identität, sondern leistet durch das moralische und emotionale Aufwerten der „unterdrückten, aber guten“ Mehrheit auch das unmittelbare Erleben individueller Aufwertung allein durch die Zugehörigkeit zur moralisch aufgewerteten „guten Mehrheit“.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Für den Kontext des hier vorliegenden Handbuchs ist dies eine plausible Annahme. Zweifellos schließen sich hier verschiedene Diskussionen an, z. B. um das Konzept des „Normalismus“ (Link 2013) oder den kulturellen und diskursiven Charakter des Strafsystems (Foucault 1994), die allerdings an anderer Stelle geführt werden müssen.
2)
Diskussionen gibt es um den Extremismusbegriff insbesondere in Bezug auf den Begriff des Linksextremismus, da dieser mit dem Rechtsextremismus in unzulässiger Weise gleichgesetzt werde. Zur Darstellung und Kritik vgl. z. B. Neugebauer 2010, Pfahl-Traughber 2014. Für eine vertiefte Diskussion dieser Begrifflichkeit sei hier auf das Kapitel 1 (in diesem Band) verwiesen.
3)
Mouffe 2018.
4)
Ebling et al. 2013.
5)
Ebd., 56.
6)
Stötzel/Wengeler 1995.
7)
Es handelt sich um eine abstrahierte Narrationsstruktur in Anlehnung an Mudersbach 2001. Nach Tobias 2016 kann sie als „Masterplot“ bezeichnet werden. Der Einfachheit halber werden hier innerhalb oder außerhalb der eigenen Ideologie kooperierende oder konkurrierende extremistische Gruppen nicht näher betrachtet.
8)
Diese Einschränkung ist wichtig, da die Umsturzversuche extremistischer Gruppierungen ja prinzipiell gelingen können und sie somit in eine Herrschaftsposition gelangen, also hegemonial werden können.
9)
Mannheim 1929, 31f.
10)
Rettig/Kiefer/Sommer/Graumann 1993; Kiefer/Rettig/Sommer/Graumann 1994.
11)
Grice 1979.
12)
Hentschel/Weydt 2003, 215.
13)
Ebd.
14)
Volmert 1989, 151-153.
15)
Schmitz 2016.
16)
Vgl. Geideck/Liebert 2003a.
17)
Niehr 2014, 136.
18)
Ebd.
19)
Liebert 2003; Geideck/Liebert 2003b.
20)
Dies hat gegenüber frameorientierten Diskursanalysen den Vorteil, dass die Kulturbedeutung stärker in den Fokus rückt.
21)
CSU 2013/14.
22)
Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.
23)
Vgl. Geideck/Liebert 2003b.
24)
Strauß/Haß/Harras 1989; Stötzel/Wengeler 1995; für die NS-Zeit vgl. auch Schmitz-Berning 2007.
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