Bühne des Kapitels / Moduls
Extremismus aus sprachwissenschaftlicher Perspektive
Exkurs 1 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Sprachverständnis
In der extremistischen Kommunikationskonstellation spielt Sprache für die extremistische Eigengruppe eine bedeutende Rolle, denn sie ist zentrales (wenn auch nicht das einzige) Mittel der Hegemonialgruppe zur Verschleierung, dient aber genauso der extremistischen Eigengruppe zur Entlarvung dieser Verschleierung und damit zur Befreiung und Konversion der guten Mehrheit. Dabei wird der Hegemonialgruppe, im Falle des politischen Extremismus also der staatlich-demokratischen Ordnung, ihren Organen und all denjenigen, die sich für sie einsetzen oder für sie aussprechen, eine spezifische Sprache zugeordnet, Vielstimmigkeit wird zur Univokalität transformiert. Hinzu kommt eine Monofunktionalisierung: Alle Funktionen, die Sprache bei den unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren haben kann, wird der Funktion der hegemonialen Kontrolle aufgrund negativer Charaktereigenschaften wie Macht- oder Geltungssucht untergeordnet. In dieser Sicht sind die unterschiedlichen Stimmen, sprachlichen Stile und Argumentationsweisen nur die Oberfläche, hinter der sich die immer selbe Aussage und die immer selben Funktionen des sich bereichernden, moralisch verdorbenen Machterhalts verbergen. Für die gute Mehrheit wird hingegen Sprache als Identitätsbildung betrachtet. Somit handelt es sich um ein normativ extrem verengtes Modell von Sprache.
Extremistische Kommunikation als Zerklüftung des common grounds
Die extremistische Kommunikationskonstellation kann mit Karl Mannheim als die einer radikalen, d. h. speziellen, totalen Ideologie beschrieben werden.9) Dies könnte auch perspektiventheoretisch gedeutet werden. Perspektiventheoretisch liegen zu extremistischen Positionen, wie sie hier definiert wurden, keine Arbeiten vor. Aus den bisherigen Forschungsergebnissen10) lässt sich jedoch vermuten, dass das Spektrum zwischen Eigen- und Fremdposition fast leer und der Differenzierungsgrad der Fremdposition gering sein müsste. D.h. es würden sehr wenige oder keine echten, d. h. eigenständigen Positionen zwischen der Eigen- und Fremd/Feind-Sicht mehr wahrgenommen, und die Fremdposition erschiene vage und undifferenziert. Dies würde sich mit der Erfahrung decken, dass in Diskussionen mit Extremistinnen und Extremisten nicht mehr versucht wird, die Äußerungen der Gegnerinnen und Gegner auch nur teilweise inhaltlich zu verstehen oder nachzuvollziehen, sondern dass mit der Feststellung derer Interessenlage bereits ein Urteil über alle möglichen Äußerungen gefallen ist, die sie getan haben, tun oder tun werden. Wenn jemand also als zur Hegemonialgruppe zugehörig identifiziert wird, als deren Repräsentant oder Unterstützer, dann ist ohne eine Überprüfung der einzelnen Äußerung vorab „klar“, dass der besagte Akteur dies und das sagt, weil er es sagen muss, schließlich ist er ein Vertreter oder Kollaborateur der hegemonialen Gruppe, z. B. der staatlichen Ordnung oder eines staatlichen Organs. Dem Gegner wird die Glaubwürdigkeit somit allein aufgrund seiner Interessenlage vollständig abgesprochen und sämtliche seiner Kommunikationsakte als Mittel zur Etablierung der Herrschaft oder Befriedigung aufgrund seiner (niederen) Charaktereigenschaften und zur Verschleierung der negativen Folgen dieser Herrschaft betrachtet. Eine Kommunikation ist hier nahezu unmöglich, da das „kooperative Prinzip“11) in fundamentaler Weise verletzt wird.
Sprache und kommunikative Praktiken für eine Politik der Angst
Wie oben dargestellt ist ein zentrales Merkmal, dass die extremistische Eigengruppe eine existenzielle Bedrohung für sich und die gute Mehrheit „erkannt“ hat und nun eine Politik der Angst betreiben muss, um diese Mehrheit von der Bedrohung auch zu überzeugen. Zugleich muss sie die Bedeutsamkeit der gegenwärtigen Situation als „historisch“ maximal erhöhen. Um dies wahrnehmbar und damit auch als Wahrheit annehmen zu können, sind aus linguistischer Sicht in Bezug auf die Kommunikationskonstellation bestimmte Politiken der Referenz und der Prädikation notwendig, d.h. strategische und auch taktische Sprachhandlungen, durch die die Gesellschaft weiter in Mitkämpfer-, Feind- oder Verrätergruppe aufgeteilt wird. Dies soll am Beispiel des Umgangs mit der Hegemonialgruppe deutlich gemacht werden.
Referenzpolitik: Die Hegemonialgruppe muss zunächst identifizierbar gemacht werden. Dies geschieht am einfachsten durch Repräsentantinnen und Repräsentanten oder Unterstützerinnen und Unterstützern in Personam, auch mit Bild, Klarnamen oder Adresse. Ein weiteres Identifikationsmerkmal ist die Sprache oder die Positionierung, durch die eine Person als Teil der Hegemonialgruppe „erkannt“ werden kann.
Prädikationspolitik: Während es eine zentrale „Leistung“ der extremistischen Referenzpolitik ist, Fremdgruppen durch Einzelpersonen identifizierbar zu machen, geht es in der Prädikationspolitik darum, die Fremdgruppe mit ausschließlich negativen Eigenschaften zu versehen und deontisch mit Bedeutungen wie „muss bekämpft werden“, „darf verhöhnt werden“, „darf in sozialen Netzwerken beleidigt werden“ oder „darf physisch angegriffen werden“ aufzuladen. Dabei sind die Kategoriennamen für die Fremdgruppen häufig selbst Stigmawörter (z. B. „linksversifft“, „Bullenschweine“). Während im extremistischen Kontext die Stigmakategorien bevorzugt oder sogar ausschließlich verwendet werden, werden sie in weniger extremistischen Kontexten als Synonyme zu vorhandenen, sachbezogenen Kategorien hinzugestellt und haben dann häufig die Funktion, zu testen, wie sich Tabu- und Stigmagrenzen verschieben lassen („Pionierwörter“ wie beispielsweise „völkisch“). Grundsätzlich zielt die extremistische Prädikationspolitik auf eine Rückführung aller nicht-zustimmender Aussagen auf eine Feind- oder Verräterposition und damit eine negative Stereotypisierung von Kollektivkategorien.
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Fussnoten
1)
Für den Kontext des hier vorliegenden Handbuchs ist dies eine plausible Annahme. Zweifellos schließen sich hier verschiedene Diskussionen an, z. B. um das Konzept des „Normalismus“ (Link 2013) oder den kulturellen und diskursiven Charakter des Strafsystems (Foucault 1994), die allerdings an anderer Stelle geführt werden müssen.
2)
Diskussionen gibt es um den Extremismusbegriff insbesondere in Bezug auf den Begriff des Linksextremismus, da dieser mit dem Rechtsextremismus in unzulässiger Weise gleichgesetzt werde. Zur Darstellung und Kritik vgl. z. B. Neugebauer 2010, Pfahl-Traughber 2014. Für eine vertiefte Diskussion dieser Begrifflichkeit sei hier auf das Kapitel 1 (in diesem Band) verwiesen.
3)
Mouffe 2018.
4)
Ebling et al. 2013.
5)
Ebd., 56.
6)
Stötzel/Wengeler 1995.
7)
Es handelt sich um eine abstrahierte Narrationsstruktur in Anlehnung an Mudersbach 2001. Nach Tobias 2016 kann sie als „Masterplot“ bezeichnet werden. Der Einfachheit halber werden hier innerhalb oder außerhalb der eigenen Ideologie kooperierende oder konkurrierende extremistische Gruppen nicht näher betrachtet.
8)
Diese Einschränkung ist wichtig, da die Umsturzversuche extremistischer Gruppierungen ja prinzipiell gelingen können und sie somit in eine Herrschaftsposition gelangen, also hegemonial werden können.
9)
Mannheim 1929, 31f.
10)
Rettig/Kiefer/Sommer/Graumann 1993; Kiefer/Rettig/Sommer/Graumann 1994.
11)
Grice 1979.
12)
Hentschel/Weydt 2003, 215.
13)
Ebd.
14)
Volmert 1989, 151-153.
15)
Schmitz 2016.
16)
Vgl. Geideck/Liebert 2003a.
17)
Niehr 2014, 136.
18)
Ebd.
19)
Liebert 2003; Geideck/Liebert 2003b.
20)
Dies hat gegenüber frameorientierten Diskursanalysen den Vorteil, dass die Kulturbedeutung stärker in den Fokus rückt.
21)
CSU 2013/14.
22)
Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.
23)
Vgl. Geideck/Liebert 2003b.
24)
Strauß/Haß/Harras 1989; Stötzel/Wengeler 1995; für die NS-Zeit vgl. auch Schmitz-Berning 2007.
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