Bühne des Kapitels / Moduls
Extremismus aus sprachwissenschaftlicher Perspektive
Exkurs 1 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Aber nicht nur die Kollektivkategorien, sondern auch die durch die Referenzpolitik herausgehobenen Einzelpersonen müssen grundsätzlich und dauerhaft ins Kriminelle, Diabolische oder menschlich Minderwertige abgewertet werden, sodass auch die repräsentativen Einzelbeispiele für verwerfliches Handeln und verderbten Charakter ein Exemplum darstellen und so der Prädikation für die Kollektivkategorie der Fremdgruppe dienen. Dies wird sprachlich mit verschiedenen Mitteln wie Verletzungen, Abwertungen, Beschimpfungen, Beleidigungen oder Stigmatisierungshandlungen geleistet (z. B. durch Stigmawörter, aber auch durch komplexere verbale und visuelle Sinnformeln).
Gleiches gilt für die (aus der Sicht der extremistischen Eigengruppe) Fremd-/Feindgruppe, die ebenfalls grundsätzlich und dauerhaft ins Kriminelle, Diabolische oder menschlich Minderwertige abgewertet werden muss. Besonders schnell gelingt dies, wenn diese Gruppe eine Minderheit und/oder ohnehin bereits stigmatisiert ist.
Sprachlich finden sich hier zum einen die für die Hegemonialgruppe eben beschriebenen Praktiken. Zugleich muss ihre „Bevorzugung“ ebenfalls durch herausgehobene Beispiele in personam herausgestellt werden. Da es sich hierbei oft um Minderheiten handelt, die aufgrund einer langen Ausgrenzungsgeschichte auf der Referenzebene schnell identifizierbar gemacht und auf der Ebene der Prädikation mit entsprechenden Stereotypen belegt wurden, sind diese besonders häufig verbalen und physischen Gewaltattacken ausgesetzt.
Das behauptete Übel, das die Herrschergruppe für die Mehrheit bedeutet, muss an Beispielen (auch in personam) identifizierbar und sichtbar werden. Dabei ist es weniger wichtig, ob den Beispielen reale Ereignisse entsprechen, sondern ob sie in das narrative Muster der jeweiligen Ideologie passen und geeignet sind, (Selbst-)Bestätigung und Empörung im Sinne der bedrohlichen und historisch einmaligen Situationsdefinition (existenzielle Bedrohung) hervorzurufen.
Hier spielen auch sozialpsychologische Momente eine Rolle, die aber an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden können. Insbesondere Karl Mannheims Konzept des irrationalen Spielraums, der sich durch die Rationalisierung der Alltagswelt ergibt, könnte hier eine wichtige Rolle zukommen, ebenso wie der Neo-Tribalismus, der das mythische Denken begünstigt, das sich durch mediale Vernetzung eigenständig und inselhaft ausbreiten kann.
Selbstwirksamkeit: Kampfrhetorik
Wie oben dargestellt, sieht sich die Eigengruppe in einer historisch bedeutsamen Situation, wobei ihr eine Schlüsselrolle im „letzten Kampf“ gegen die Feind- und Hegemonialgruppe und um die Verhinderung der Vernichtung der guten Mehrheit zukommt. Daher spielt grundsätzlich das Kampf- und Kriegsvokabular ein besondere Rolle, häufig in Kombination mit Superlativen und Elativen, welche die historische Bedeutsamkeit und damit auch den Wert der Anhänger der Ideologie aufwerten und ihren Aktionen Sinn verleihen.
Da eine dauerhaft scheiternde und stümperhaft agierende extremistische Eigengruppe kaum geeignet ist, eine Avantgarde zu bilden und ihre Gewalttaten auf Dauer zu rechtfertigen, muss sie den Beweis antreten, es mit den vermeintlichen Feinden nicht nur aufnehmen zu können, sondern ihnen überlegen zu sein. Dies kann durch unterschiedliche kommunikative Handlungen vollzogen werden, z. B. lächerlich machen und verhöhnen, die eigene Überlegenheit oder Unangreifbarkeit behaupten – oder im Kontext einer religiösen Ideologie – einen erfolgreichen Anschlag als Beweis für den Willen des Transzendenten anführen. Insbesondere Islamistinnen und Islamisten nähren den Mythos der Unangreifbarkeit mit dem Hinweis, unter Allahs Schutz zu stehen.
Werden sie dann doch getötet, dann ist es Allahs Wille, allerdings nicht, um den Terror zu stoppen, sondern um die Terroristinnen und Terrorristen als Märtyrerin bzw. Märtyrer im Paradies zu verwöhnen. Interne logische Widersprüche nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zu partialisieren, funktioniert nur durch den narrativen Charakter der Ideologie, im mythischen Heldennarrativ, das in der Lage ist, solche Widersprüche ohne Probleme aufzunehmen und sich damit gegen jedwede Kritik zu immunisieren. Solche Widersprüche und Brüche sind allerdings auch mögliche Ansatzpunkte zum „Aufwachen“ aus der Gefangenheit in einer extremistischen Ideologie.15)
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Für den Kontext des hier vorliegenden Handbuchs ist dies eine plausible Annahme. Zweifellos schließen sich hier verschiedene Diskussionen an, z. B. um das Konzept des „Normalismus“ (Link 2013) oder den kulturellen und diskursiven Charakter des Strafsystems (Foucault 1994), die allerdings an anderer Stelle geführt werden müssen.
2)
Diskussionen gibt es um den Extremismusbegriff insbesondere in Bezug auf den Begriff des Linksextremismus, da dieser mit dem Rechtsextremismus in unzulässiger Weise gleichgesetzt werde. Zur Darstellung und Kritik vgl. z. B. Neugebauer 2010, Pfahl-Traughber 2014. Für eine vertiefte Diskussion dieser Begrifflichkeit sei hier auf das Kapitel 1 (in diesem Band) verwiesen.
3)
Mouffe 2018.
4)
Ebling et al. 2013.
5)
Ebd., 56.
6)
Stötzel/Wengeler 1995.
7)
Es handelt sich um eine abstrahierte Narrationsstruktur in Anlehnung an Mudersbach 2001. Nach Tobias 2016 kann sie als „Masterplot“ bezeichnet werden. Der Einfachheit halber werden hier innerhalb oder außerhalb der eigenen Ideologie kooperierende oder konkurrierende extremistische Gruppen nicht näher betrachtet.
8)
Diese Einschränkung ist wichtig, da die Umsturzversuche extremistischer Gruppierungen ja prinzipiell gelingen können und sie somit in eine Herrschaftsposition gelangen, also hegemonial werden können.
9)
Mannheim 1929, 31f.
10)
Rettig/Kiefer/Sommer/Graumann 1993; Kiefer/Rettig/Sommer/Graumann 1994.
11)
Grice 1979.
12)
Hentschel/Weydt 2003, 215.
13)
Ebd.
14)
Volmert 1989, 151-153.
15)
Schmitz 2016.
16)
Vgl. Geideck/Liebert 2003a.
17)
Niehr 2014, 136.
18)
Ebd.
19)
Liebert 2003; Geideck/Liebert 2003b.
20)
Dies hat gegenüber frameorientierten Diskursanalysen den Vorteil, dass die Kulturbedeutung stärker in den Fokus rückt.
21)
CSU 2013/14.
22)
Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.
23)
Vgl. Geideck/Liebert 2003b.
24)
Strauß/Haß/Harras 1989; Stötzel/Wengeler 1995; für die NS-Zeit vgl. auch Schmitz-Berning 2007.
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