Bühne des Kapitels / Moduls
Extremismus aus sprachwissenschaftlicher Perspektive
Exkurs 1 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Sinnformeln
Der Ausdruck „Sinnformel“ wurde eingeführt, um sprachliche und multimodale Einheiten zu kennzeichnen, die für die Sinnhaftigkeit eines Individuums, einer Gruppe oder einer Gesellschaft von großer Bedeutung sind. In ihnen kondensieren sich Wissen über Gruppenidentität, Ursprünge und Zukünfte, Abgrenzung gegenüber anderen, Machtansprüche und Glaubensvorstellungen und Legitimierung.16) Sinnformeln sind somit zentrale Ansatzpunkte, um zu verstehen, was für ein Individuum oder eine Gruppe den Sinn ihres Daseins und ihres Handelns in der Welt ausmacht. Dies gilt auch für eine extremistische Kommunikationskonstellation. Grundsätzlich ist die Alltagssprache einer extremistischen Gruppe von einer ausdifferenzierten Heterogenität geprägt, die neben der internen Kommunikation auch eine Vielzahl externer Kommunikationsakte nötig macht. Dabei müssen ihre Sprecherinnen und Sprecher ein Spiel mit Identitäten betreiben, das die extremistische Identität in bestimmten Situationen offenbart, in anderen wiederum verbirgt, und manchmal auch beides zugleich, etwa wenn in einer Bekennerbotschaft nach einem Anschlag die extremistische Eigengruppe sich in der Öffentlichkeit zeigt und zugleich verbirgt, da sie sonst der Strafverfolgung unterliegen würde. Auch müssen Extremistinnen und Extremisten über eine „normale“ Alltagsidentität verfügen, um ihre Alltagsgeschäfte wie einkaufen, wohnen etc. erledigen zu können. Ja, sie müssen sogar „besonders normal“ erscheinen, um ihre extremistische Identität im Alltag leben zu können. Das macht es häufig so schwer, einen Extremisierungsprozess zu erkennen, weil zunächst alles so „normal“ erscheint. Diese extremistische Camouflage-Kommunikation lässt sich linguistisch auf ganz unterschiedliche Weise betrachten. Als eine Camouflage-Taktik soll nachher die Bedeutungsverschiebung betrachtet werden, bei der ein Alltagswort (bspw. Aktion) oder ein politischer Begriff von gemäßigten Positionen in seiner Bedeutung in Bezug auf gewaltsamen Umsturz extremisiert wird, sodass er mit der üblichen Bedeutung kaum noch etwas gemein hat. Zugleich kann er aber im Alltag relativ gefahrlos geäußert werden, da er ja immer auch die Alltagsbedeutung haben könnte. Damit leistet er auch eine Verbindung zu potenziell extremisierbaren Mitkämpferinnen und Mitkämpfern (Brückenbegriffe).
Eine zentrale Frage bei der Arbeit mit Sinnformeln lautet, wie diese ausgewählt werden. Hierbei gibt es nach Thomas Niehr induktiv und deduktiv gewonnene Kriterien, um „[…] die für einen Diskurs zentralen Vokabeln, das diskursrelevante Vokabular zu ermitteln.“17) Für die induktiven Kriterien führt Niehr weiter „eine besondere Umstrittenheit, die meist deutliches Indiz für heterogene Sichtweisen der Diskursteilnehmer ist.“18) an. Weitere induktive Kriterien für Schlüsselwörter bzw. Sinnformeln sind explizite und implizite Sprachthematisierungen bei Bedeutungskonkurrenzen („Ist das noch Demokratie?“) oder bei Bezeichnungskonkurrenz („AKW“ vs. „Kernkraftwerk“) sowie Ad-hoc-Komposita und Neologismen.
Um deduktive Kriterien zu gewinnen, kann nach bestimmten Sinnformelkategorien19) gefragt werden:20)
- Frage nach der Gruppen-Identität/Alterität: Wer sind wir? Wer sind wir im Unterschied zu welchen anderen (In-Group/Out-Group)? Welche anderen sind uns bekannt, für uns relevant, welche nicht? Wie nennen sie sich? Wie nennen wir sie? Wie werden wir genannt?
- Frage nach der Gruppen-Geschichte: Woher kommen wir? Mit welcher Geschichte können wir unsere Gegenwart verstehen?
- Frage nach der Gruppen-Gegenwart: Wo stehen wir? In welcher Situation befinden wir uns?
- Frage nach der Gruppen-Zukunft: Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Was müssen wir tun?
- Frage nach der Gruppenmacht (und der Macht in der Gruppe): Wie sieht das Machtgefüge aus und an welcher Position stehen wir? Wie sah dies früher aus? Wie soll es sein? Sprachmacht: Wer darf was in welcher Form sagen und wer muss zu was wann schweigen?
- Frage nach der Legitimität: (‚legitimierende Idee‘ nach Max Weber): Warum sind wir, wer wir sind? Warum haben wir die Geschichte, die wir haben? Warum dürfen wir das tun, was wir tun wollen?
Während die klassische Lexikologie in der Regel Ein- und Mehrwortkonstruktionen betrachtet, eröffnen Sinnformeln ein weiteres Spektrum von Ausdrucksformen. Hierzu zählen:
- Wörter (Schlüsselwörter) - Beispiele: Leistung, Globalisierung, Leitkultur
- Phrasenstrukturen - Beispiele: „Armlänge Abstand“ (nach einem Ausspruch von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker nach den Silvesterübergriffen 2015/16 gebildet)
- satzartige Konstruktionen (Slogans, Maximen, chorische Parolen etc.) - Beispiele: „Wer betrügt, der fliegt.“21) „Wir schaffen das.“22)
- Visioformen/Bilder - Beispiele: Schilder mit Aufschrift „refugees welcome“ im Jahr 2015
- Leitbilder/Metaphern - Beispiele: „Das agile Unternehmen“
- Film-Szenen - Beispiele: Videosequenz der 9/11-Flugzeugeinschläge
Deduktive und induktive Kriteriengewinnung lassen sich kombinieren, sodass schließlich Wörter und andere Sinnformeln ausgewählt werden, die semantisch relevant sind.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Für den Kontext des hier vorliegenden Handbuchs ist dies eine plausible Annahme. Zweifellos schließen sich hier verschiedene Diskussionen an, z. B. um das Konzept des „Normalismus“ (Link 2013) oder den kulturellen und diskursiven Charakter des Strafsystems (Foucault 1994), die allerdings an anderer Stelle geführt werden müssen.
2)
Diskussionen gibt es um den Extremismusbegriff insbesondere in Bezug auf den Begriff des Linksextremismus, da dieser mit dem Rechtsextremismus in unzulässiger Weise gleichgesetzt werde. Zur Darstellung und Kritik vgl. z. B. Neugebauer 2010, Pfahl-Traughber 2014. Für eine vertiefte Diskussion dieser Begrifflichkeit sei hier auf das Kapitel 1 (in diesem Band) verwiesen.
3)
Mouffe 2018.
4)
Ebling et al. 2013.
5)
Ebd., 56.
6)
Stötzel/Wengeler 1995.
7)
Es handelt sich um eine abstrahierte Narrationsstruktur in Anlehnung an Mudersbach 2001. Nach Tobias 2016 kann sie als „Masterplot“ bezeichnet werden. Der Einfachheit halber werden hier innerhalb oder außerhalb der eigenen Ideologie kooperierende oder konkurrierende extremistische Gruppen nicht näher betrachtet.
8)
Diese Einschränkung ist wichtig, da die Umsturzversuche extremistischer Gruppierungen ja prinzipiell gelingen können und sie somit in eine Herrschaftsposition gelangen, also hegemonial werden können.
9)
Mannheim 1929, 31f.
10)
Rettig/Kiefer/Sommer/Graumann 1993; Kiefer/Rettig/Sommer/Graumann 1994.
11)
Grice 1979.
12)
Hentschel/Weydt 2003, 215.
13)
Ebd.
14)
Volmert 1989, 151-153.
15)
Schmitz 2016.
16)
Vgl. Geideck/Liebert 2003a.
17)
Niehr 2014, 136.
18)
Ebd.
19)
Liebert 2003; Geideck/Liebert 2003b.
20)
Dies hat gegenüber frameorientierten Diskursanalysen den Vorteil, dass die Kulturbedeutung stärker in den Fokus rückt.
21)
CSU 2013/14.
22)
Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.
23)
Vgl. Geideck/Liebert 2003b.
24)
Strauß/Haß/Harras 1989; Stötzel/Wengeler 1995; für die NS-Zeit vgl. auch Schmitz-Berning 2007.
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