Bühne des Kapitels / Moduls
Extremismus aus sprachwissenschaftlicher Perspektive
Exkurs 1 Komplementäre gesellschaftliche Handlungsfelder
Inhalt des Kapitels / Moduls
Für das vorhin erstellte Schema einer extremistischen Kommunikationskonstellation können diese Sinnfragen spezifiziert werden:
- Frage nach der Gruppen-Identität/Alterität: Wer sind wir? Wer sind wir im Unterschied zu welchen anderen (In-Group/Out-Group)? Othering: Was ist Feindgruppe und was die Hegemonialgruppe? Wer gehört zur guten Mehrheit und wer nicht? Wie nennen sie sich? Wie nennen wir sie? Wie werden wir genannt?
- Frage nach der Gruppen-Geschichte: Woher kommen wir? Was ist unser Ursprung? In Vergangenheitsutopien spielt die Gruppengeschichte eine größere Rolle als in Zukunftsutopien. In Vergangenheitsutopien wird ein vergangener, teilweise auch mythischer Urzustand beschworen, der verloren gegangen ist bzw. droht, verloren zu gehen. Ziel ist daher die Erhaltung oder Restauration der idealisierten Vergangenheit, wie dies für rechtsex-tremistische und islamistische Gruppierungen typisch ist. Mit welcher Geschichte können wir unsere Gegenwart verstehen?
- Frage nach der Gruppen-Gegenwart: Wo stehen wir? In welcher Situation befinden wir uns? Die extremistische Situationsdefinition ist immer eine historisch bedeutsame Entscheidungssituation, bei der die Gruppe selbst und alle, die sie vertritt, in existenzieller Gefahr sind. Dies bildet zugleich die Legitimationsgrundlage für gewaltsame Handlungen und Terror. In religiösen Ideologien kommt ein unmittelbarer Transzendenzbezug hinzu. Danach liege es im Willen des obersten transzendenten Wesens, „sein“ Glaubenssystem auch mit Gewalt universal durchzusetzen. Die sich anschließen, werden belohnt, die anderen bestraft. Wo stehen wir im historischen Kampf gegen die Hegemonialgruppe?
- Frage nach der Gruppen-Zukunft: Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Was müssen wir tun? In extremistischen Gruppen gibt es immer zwei Zukünfte: Eine Dystopie, wenn das extremistische Handeln unterlassen wird, und eine Utopie, wenn sich genügend Menschen den Extremistinnen und Extremisten sowie ihren Taten anschließen. Es handelt sich somit um eine Kombination maximaler Angst und maximaler Hoffnung, Sehnsucht und einer ultimativen Entscheidung jedes und jeder Einzelnen hier und jetzt, ob der Untergang oder das Paradies die Zukunft bildet.
Frage nach der Gruppenmacht (und der Macht in der Gruppe): Wie sieht das Machtgefüge aus und an welcher Position stehen wir? Wie sah dies früher aus? Wie soll es sein? Sprachmacht: Wer darf was in welcher Form sagen und wer muss zu was wann schweigen? Extremistinnen und Extremisten sehen sich in der Regel in der Opferrolle und geben vor, sich für eine Mehrheit einzusetzen, die sich ebenfalls in der Opferrolle befindet. Ziel und Versprechen an (mögliche) Anhängerinnen und Anhänger ist allerdings eine Umkehr der Machtverhältnisse. Die Selbstwirksamkeit kann dabei durch eine Reihe von kommunikativen Praktiken erzeugt werden. Damit ein geschlossenes extremistisches Weltbild und damit Gruppenmacht dauerhaft konstituiert werden kann, müssen alle Erfahrungen, die nicht-stereotyp bzw. nicht narrativ-konform sind („ein sympathischer Polizist“, der nicht in das Schema „Bullenschwein“ passt) oder alles, was sonst wie einen Widerspruch zur extremistischen Wirklichkeit darstellt (z. B. sinkende Kriminalitätsrate, zunehmender Wohlstand)
- als Propaganda der Hegemonialgruppe behauptet oder
- durch Aktivierung der Gruppen-Loyalität umgedeutet oder
- in den immer größer werdenden blinden Fleck des Nicht-Sagbaren verbannt werden.
- Frage nach der Legitimität: Damit auch schwere Gewalttaten und generell unmenschliches Handeln gerechtfertigt werden können, ist eine mehr oder weniger elaborierte Ideologie notwendig, die mit Karl Mannheim als speziell und total charakterisiert werden kann (s. o.). Daraus lässt sich die ‚legitimierende Idee‘ nach Max Weber gewinnen, d. h. eine zumindest rudimentäre Gedankenstruktur, welche die Fragen beantwortet: Warum sind wir, wer wir sind? Warum haben wir die Geschichte, die wir haben? Warum dürfen wir das tun, was wir tun wollen? Warum ist es sinnvoll, zu tun, was wir tun? Warum ist es sinnvoll, zu töten? Warum ist es sinnvoll, Gewalt anzuwenden? Warum ist es sinnvoll, das eigene Leben zu opfern?
Sinnformeln werden häufig lexikografisch erfasst, was im 20. Jahrhundert zu neuen Wörterbuchtypen führte.24)
Fazit
Die Linguistik stellt eine Fülle von Zugängen zum extremistischen Sprachgebrauch dar, unabhängig davon, ob es sich um politische oder religiöse Motivationen handelt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Begriff des Extremismus selbst diskursgebunden ist und eine Positionierung hinsichtlich anderer Begriffe wie Normalität, Mitte, radikal oder gemäßigt einschließt. Es gibt dazu kein objektives Maß, sondern lediglich die Versicherung eines gemeinsamen Wertekanons, der für viele – den Autor eingeschlossen – als unverhandelbare Werte Demokratie und Menschenrechte beinhaltet. Linguistische Analysen können helfen zu verstehen, wie Sprache Menschen einer extremistischen Weltsicht „zuführt“ und wie wir wieder in einen öffnenden Dialog treten können.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Für den Kontext des hier vorliegenden Handbuchs ist dies eine plausible Annahme. Zweifellos schließen sich hier verschiedene Diskussionen an, z. B. um das Konzept des „Normalismus“ (Link 2013) oder den kulturellen und diskursiven Charakter des Strafsystems (Foucault 1994), die allerdings an anderer Stelle geführt werden müssen.
2)
Diskussionen gibt es um den Extremismusbegriff insbesondere in Bezug auf den Begriff des Linksextremismus, da dieser mit dem Rechtsextremismus in unzulässiger Weise gleichgesetzt werde. Zur Darstellung und Kritik vgl. z. B. Neugebauer 2010, Pfahl-Traughber 2014. Für eine vertiefte Diskussion dieser Begrifflichkeit sei hier auf das Kapitel 1 (in diesem Band) verwiesen.
3)
Mouffe 2018.
4)
Ebling et al. 2013.
5)
Ebd., 56.
6)
Stötzel/Wengeler 1995.
7)
Es handelt sich um eine abstrahierte Narrationsstruktur in Anlehnung an Mudersbach 2001. Nach Tobias 2016 kann sie als „Masterplot“ bezeichnet werden. Der Einfachheit halber werden hier innerhalb oder außerhalb der eigenen Ideologie kooperierende oder konkurrierende extremistische Gruppen nicht näher betrachtet.
8)
Diese Einschränkung ist wichtig, da die Umsturzversuche extremistischer Gruppierungen ja prinzipiell gelingen können und sie somit in eine Herrschaftsposition gelangen, also hegemonial werden können.
9)
Mannheim 1929, 31f.
10)
Rettig/Kiefer/Sommer/Graumann 1993; Kiefer/Rettig/Sommer/Graumann 1994.
11)
Grice 1979.
12)
Hentschel/Weydt 2003, 215.
13)
Ebd.
14)
Volmert 1989, 151-153.
15)
Schmitz 2016.
16)
Vgl. Geideck/Liebert 2003a.
17)
Niehr 2014, 136.
18)
Ebd.
19)
Liebert 2003; Geideck/Liebert 2003b.
20)
Dies hat gegenüber frameorientierten Diskursanalysen den Vorteil, dass die Kulturbedeutung stärker in den Fokus rückt.
21)
CSU 2013/14.
22)
Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.
23)
Vgl. Geideck/Liebert 2003b.
24)
Strauß/Haß/Harras 1989; Stötzel/Wengeler 1995; für die NS-Zeit vgl. auch Schmitz-Berning 2007.
Literatur
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